# taz.de -- EU-Parlamentarierin über Gleichstellung: „Macht euch ehrlich!“ | |
> Jetzt ist Deutschland am Zug: Die EU-Ratspräsidentschaft ist eine Chance, | |
> Sexismus und häusliche Gewalt zu bekämpfen, sagt SPDlerin Maria Noichl. | |
Bild: Kampf gegen häusliche Gewalt: Franziska Giffey beim Flyern an einer Supe… | |
taz: Frau Noichl, Frauenministerin Franziska Giffey (SPD) will die | |
gleichstellungspolitischen Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft | |
auf einen gerechteren Arbeitsmarkt und die Bekämpfung häuslicher Gewalt | |
legen. Sind diese Schwerpunkte durch die [1][Coronakrise] entstanden? | |
Maria Noichl: Das Thema Corona hat sich in den Vordergrund geschoben. Das | |
heißt nicht, dass alles, was vorher geplant war, jetzt nachrangig ist – | |
sondern dass es mit der Bewältigung der Pandemie einen zusätzlichen | |
Schwerpunkt gibt. | |
Was war der Plan vor Corona? | |
Vor Corona wollte die deutsche Ratspräsidentschaft die Ratifizierung der | |
Istanbulkonvention in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union in den | |
Mittelpunkt stellen. Einige Länder, darunter Ungarn, haben noch immer nicht | |
ratifiziert. Das wird weiter Thema sein. Für mich ist dabei klar, dass ein | |
Land, das nicht unterschreibt, sanktioniert werden muss. | |
Laut Konvention fehlen in allen Mitgliedsländern der Union zehntausende | |
Plätze in Frauenhäusern. Bei der Ratspräsidentschaft soll es nun aber gar | |
nicht um mehr Plätze, sondern um den Export des deutschen Modells des | |
Hilfetelefons gehen. Warum? | |
Eine flächendeckende und europäisch einheitliche Hotline in Fällen | |
[2][häuslicher Gewalt] ist genauso sinnvoll wie eine einheitliche Nummer | |
bei Polizei und Feuerwehr. Häusliche Gewalt ist ein Notfall. Gerade während | |
des Lockdowns kam Telefon und Email eine besondere Bedeutung zu. Trotzdem | |
laufen viele dieser Kontakte ins Leere, wenn europaweit so viele Plätze | |
fehlen. In Deutschland sind es allein knapp 15.000. Ich würde mir wünschen, | |
dass wir da nachbessern. Das gilt auch für die Artikel der Konvention, die | |
Deutschland noch gar nicht unterschrieben hat. | |
Welche meinen Sie? | |
Artikel 59 besagt, dass es nur einen zeitlich begrenzten Abschiebungsschutz | |
für Gewaltopfer während eines Strafverfahrens gibt, obwohl die Konvention | |
in diesen Fällen einen eigenständigen Aufenthaltstitel vorsieht. Außerdem | |
besagt Artikel 3, dass alle Frauen das Recht auf Schutz haben. | |
Deutschland nimmt aber die Frauen aus, die in Asylverfahren sind – | |
Frauenhausplätze sind also zum Beispiel nicht für Frauen mit Duldung | |
vorgesehen. Ihnen wird der Zugang erschwert, obwohl er besonders | |
niedrigschwellig sein müsste. Schutz und Hilfemöglichkeit dürfen nicht vom | |
Pass abhängig sein. | |
Deutschland unterläuft seine eigenen Standards? | |
Das macht es auch bei einem weiteren Thema: Frauen in Aufsichtsräten. Auch | |
das muss bei der EU-Ratspräsidentschaft meiner Ansicht nach thematisiert | |
und endlich voran gebracht werden. In Deutschland haben DAX-Unternehmen | |
eine Verpflichtung, 30 Prozent Frauen in Aufsichtsräten zu besetzen. | |
Zudem gibt es zumindest die Vorgabe, dass für die Vorstände Zielgrößen | |
benannt werden müssen. Genau dieses Thema blockiert die Union in der | |
deutschen Regierung aber im Europäischen Rat, obwohl ein Teil der Koalition | |
klar dahinter steht. Die SPD pusht diese Richtlinie seit Jahren. Auch da | |
steht Deutschland während seiner Präsidentschaft in der Pflicht. | |
Warum die Blockade? | |
Die muss Teil eines Deals mit anderen Ländern zu anderen Themen sein. | |
Anders kann ich mir das nicht erklären. Frauen in der EU das zu verwehren, | |
was in Deutschland durchgesetzt wurde, macht keinen Sinn. | |
Suchen Sie darüber das Gespräch mit Frau Giffey? | |
Sie kämpft mit uns für diese Richtlinie. | |
Wie wollen Sie es schaffen, dass die Quote auch auf europäischer Ebene | |
erreicht wird? | |
Wir europäischen Frauen in der Sozialdemokratie wollen das Thema während | |
der deutschen Ratspräsidentschaft ganz besonders pushen: mit Postkarten, | |
Petitionen und Unterschriftensammlungen. Unsere Aufforderung ist: Macht | |
euch ehrlich in eurer Ratspräsidentschaft! Alles andere lassen wir | |
europäischen Frauen nicht mit uns machen. Übrigens gibt es ein drittes | |
gleichstellungspolitisches Thema, bei dem sich Deutschland während der | |
Ratspräsidentschaft an die eigene Nase fassen sollte: Die | |
Arbeitsmarktpolitik. | |
Inwiefern? | |
Ich habe schon beim Konjunkturpaket der Bundesregierung zu Corona sehr | |
bedauert, dass kein einziger gleichstellungspolitischer Schwerpunkt gesetzt | |
wurde. Die Strukturen, die dazu führen, dass es die Lohnlücke zwischen | |
Männern und Frauen gibt, werden strukturell nicht angegangen. | |
Das sieht Frau Giffey anders. | |
Das Programm birgt eine Menge Potential für gleichstellungspolitische | |
Weichenstellung und die Erreichung gleichstellungspolitischer Ziele. Es | |
gibt viel Unterstützung für Familien und diejenigen, die sich um Kinder | |
kümmern. Aber wo ist der Mehrwert für Frauen, die keine Kinder haben? Und | |
wo ist der strukturelle Mehrwert? | |
Das Kindergeld zu erhöhen, wird an dem Umstand, dass Frauen die | |
Verantwortung für Kinder haben, leider nichts ändern. Sinnvoll wäre zum | |
Beispiel gewesen, Lohntransparenz mit öffentliche Zuschüssen zu koppeln: | |
Wenn es Transparenz gibt, gibt es auch Geld. Auf europäischer Ebene | |
versuchen wir da viel zu machen. | |
Was meinen Sie? | |
Wir fordern zum Beispiel, dass jeder zweite Euro des Hilfspakets konkret an | |
Frauen gehen muss. Wir europäischen progressiven Frauen wollen, dass 50 | |
Prozent der von Kommissionspräsidentin von der Leyern vorgeschlagenen 750 | |
Milliarden Frauen zugute kommen. Darüber hinaus fordern wir einen extra | |
Fonds für Frauen in der Coronakrise, der Gelder in den Bereichen aufstockt, | |
in denen wir durch die Pandemie die Ungleichheiten noch stärker als sonst | |
schon gespürt haben. | |
Es muss aufhören, dass am Balkon für Frauen in schlecht bezahlten Berufen | |
geklatscht wird, die Gelder aber vor allem die Vermögen der Männer mehren. | |
Die wirtschaftlichen Folgen von Frauen in der Krise müssen abgefedert | |
werden, die Löhne in den Sektoren Pflege, Gesundheit und Vertrieb müssen | |
steigen, Lohnlücke und Rentenlücke müssen geschlossen werden. Frauen steht | |
die Hälfte der Gelder zu – auch und gerade jetzt. | |
1 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Patricia Hecht | |
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