| # taz.de -- Geschlechterrollen in Coronazeiten: Die Stunde der Schreimänner | |
| > Es braucht keine Männer, die die Pandemie kleinreden. Wichtig sind | |
| > Frauen, die sich dagegen wehren, mal wieder auf Sorgearbeit festgelegt zu | |
| > werden. | |
| Bild: Für Frauen droht der Backlash in die Fünfziger: 1. Mai in Berlin | |
| Da wird von allen wochenlang gefordert, man müsse die Kurve abflachen, | |
| wochenlanges Daheimbleiben für alle, und wenn die Mission gelingt, steht | |
| schon ein Männerchor in den Startlöchern und weiß alles besser. Ja, auch da | |
| gibt es Ausnahmen, Männer, die vernünftig für die Grundrechte kämpfen, aber | |
| die Regel sind die Vernuftbetonten nicht. Die Regel ist derzeit: Je lauter | |
| ich die Virologen niederstampfe, [1][je länger mein Zeigefinger in Richtung | |
| Schweden deutet], desto heldenmutiger bin ich. Ich übe Widerstand, also bin | |
| ich, denken unsere selbsternannten Helden der Pandemie, Schreimänner nenne | |
| ich sie. | |
| In China sind seit Ausbruch des Virus mehrere Männer verschwunden, weil sie | |
| öffentlich angeprangert haben, die Verwaltungen gingen zu fahrlässig mit | |
| der Bevölkerung um. Sie drehten Videos von mangelnden Hygienemaßnahmen, | |
| kritisierten Feste, die nicht hätten stattfinden dürfen. [2][Die Regierung] | |
| habe ihre Maßnahmen nicht den Erkenntnissen der Wissenschaft angepasst. Den | |
| Fakten. Sie handle irrational und gefährde so die Bevölkerung. Diese | |
| Männer, es ware viele, sind derzeit verschwunden. Im Westen kennt man nicht | |
| einmal ihre Namen. | |
| Bei uns hingegen wird die Regierung für ebensolch faktenbasiertes Handeln | |
| und erfolgreiches Krisenmanagement nicht gelobt. Nein, bei uns wird das zum | |
| Vorwurf. Hier wird, Demokratie sei Dank, auch niemand eingesperrt, aber die | |
| Schreimänner führen sich auf wie Maulhelden, die es besser wissen als jene, | |
| die Deutschland gerade erfolgreich durch die Krise manövrieren. Und sie | |
| nerven. Die Grundthese ist: Ganz egal, wie viele Leute in den USA, in | |
| Spanien oder Italien sterben, die deutsche Regierung hat einfach Mist | |
| gebaut und die Wirtschaft für etwas Grippeartiges gegen die Wand gefahren. | |
| Als stünden Länder, die später zum Lockdown fanden, ökonomisch besser da. | |
| Was daran nervt? Die Schreimänner werden gehört und kommen öffentlich | |
| durch. Sie demaskieren ihre Eitelkeiten. Um jeden Preis versuchen sie die | |
| Debatte über eine historische Pandemie zu assimilieren zu einer | |
| gewöhnlichen Meinungsdebatte. Sie könnten ja unwichtig werden, während die | |
| Virologen nun die Podcast-Charts anführen. Ach je, dann wären diese | |
| wichtigen Männer ja nur noch wie Frauen. Wie diese nervigen Frauen, von | |
| denen man gerade nur noch hört, dass ein Backlash für den Feminismus zu | |
| erwarten sei, die Geld verlangen für ihre Zeit mit Kindern – als hätten sie | |
| sich nicht selbst Kinder gewünscht, diese Frauen! So unwichtig wollen die | |
| Schreiherren keine sechs Wochen lang werden! Virologen? Weg damit! | |
| ## Backlash in die 50er Jahre | |
| Für Frauen droht unterdessen der Backlash in die Fünfziger. Das weiß seit | |
| einem grandiosen Artikel in The Atlantic die ganze Welt. Und jetzt? Was | |
| brauchen Frauen jetzt, um das zu verhindern? Selbst die klügsten Frauen | |
| ächzen auf Twitter unter der Last und wiederholen das Mantra der Fünfziger, | |
| die uns drohen; es ist wie bei diesen Geduldswürfeln früher, man kann es | |
| drehen und wenden, wie man will: Bis zum Sommer wird es wohl keinen | |
| normalen Schulunterricht geben. | |
| Doch wo sind zumindest drei Forderungen, was Eltern oder Familien nun | |
| brauchen, [3][damit Frauen das nicht alleine auffangen]? Wie verhindern, | |
| dass Frauen an den Haushalt gebunden werden, vom öffentlichen Reden und | |
| nichtöffentlichen Denken aber abgehalten werden? Im englischsprachigen Raum | |
| reichen Akademiker derzeit Papiere ein ohne Ende, die Pandemie bekommt den | |
| Wissenschaftlern gut, während die Akademikerinnen als Verfasserinnen von | |
| Papers verschwinden. | |
| Selbst in gebildeten und sozio-ökonomisch privilegierten Milieus schnappen | |
| in der Krise also die alten Rollen zu. Man muss hier auch über die | |
| fehlenden Fortschritte im Feminismus durch die Komplizenschaft der Frauen | |
| sprechen. Es gibt ein Milieu, das aufgeklärt genug wäre, finanziell | |
| gesichert genug, um sich jetzt gegen den Backlash zu wehren. Es ist in | |
| meiner Generation Feministinnen jedoch nicht gewünscht, mit der Rhetorik | |
| von „Frauen müssen jetzt …“ zu arbeiten. Wer aber soll jetzt, wenn nicht | |
| wir? Wenn man nur das Bedrohungsszenario an die Wand malt, erschrecken zwar | |
| alle, doch keiner weiß, was dagegen zu tun wäre. | |
| Die Forderung nach Teilhabe und Befreiung von Sorgearbeit darf jetzt nicht | |
| von der Empörung überlagert werden, sonst rollt sich das | |
| Worst-Case-Szenario für Frauen aus. Die Herren (!) der Lage sind, abgesehen | |
| von Merkel und zwei Ministerpräsidentinnen, Männer. Es liegt in ihren | |
| Händen und es interessiert sie nur in Interviews, ob Frauen unter der | |
| Arbeit stöhnen. Das zeigte selbst Alexander Kekulé, der zwar keine | |
| politische Verantwortung trägt, aber doch kräftig mitmischt: Er bedauerte | |
| seine Frau derzeit für die Sorgearbeit – in einem TV-Interview. Thank you, | |
| darling. | |
| ## Naidoo und Hildmann, das Telegram-Dreamteam | |
| Es braucht jetzt schnell fünf klare Forderungen für Frauen, wie sie trotz | |
| Pandemie weiter am Arbeitsleben teilhaben können. Das Grundeinkommen ist | |
| keine davon, das Grundeinkommen in solchen Zeiten wäre eine Art Herdprämie. | |
| Es geht um Entlastung von Sorgearbeit. Teilhabe am Diskurs und an | |
| Schlüsselstellen in Wirtschaft, Politik, Kultur und Verwaltung. | |
| TV-Redakteure sollten in Kommunen Frauen in Verantwortung finden, die vom | |
| Krisenmanagement berichten. Sichtbarkeit ist das Gebot der Stunde. | |
| Um Entlastungsstrategien zu finden, braucht es die Beratung der Virologen, | |
| weil der Schutz des Lebens zur Fürsorgepflicht des Staates gehört. Das ist | |
| nicht verhandelbar, wie wieder andere Männer so prominent ins Land | |
| schreien. Die Lautstärke drosseln, vor allem für das Telegram-Dreamteam | |
| Naidoo und Hildmann. Immerhin: Selbst unter den Verschwörungstheoretikern | |
| setzte sich zum Glück keine Frau durch. Die lauten Schreimänner, die nun | |
| alles Erreichte verhöhnen, indem sie die Pandemie kleinspielen, die braucht | |
| es jetzt nicht. Aber die Frauen, die mehr sind als die Sorgearbeiterinnen, | |
| auf die sie derzeit festgelegt werden sollen, die braucht es jetzt | |
| dringend. | |
| 6 May 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Corona-Eindaemmung-in-Schweden/!5679762 | |
| [2] /Vorwurf-an-EU-Diplomaten/!5680235 | |
| [3] /Coronavirus-in-Deutschland/!5682493 | |
| ## AUTOREN | |
| Jagoda Marinić | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Care-Arbeit | |
| Männer | |
| Frauen | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Gender und Sexualitäten | |
| Mütter | |
| Grundeinkommen | |
| Schweden | |
| Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
| Pflege | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Geschlechterrollen in Corona-Zeiten: In der Homeoffice-Falle | |
| Sind Frauen die Verliererinnen der Coronakrise? Droht der Rückfall in alte | |
| Geschlechterrollen? Neue Studien zeigen ein differenziertes Bild. | |
| EU-Parlamentarierin über Gleichstellung: „Macht euch ehrlich!“ | |
| Jetzt ist Deutschland am Zug: Die EU-Ratspräsidentschaft ist eine Chance, | |
| Sexismus und häusliche Gewalt zu bekämpfen, sagt SPDlerin Maria Noichl. | |
| Zahlen des Statistischen Bundesamts: Immer mehr Mütter arbeiten | |
| Neue Zahlen belegen: Immer mehr Mütter sind berufstätig. In Teilen | |
| Ostdeutschlands rund die Hälfte in Vollzeit, im Westen sind es deutlich | |
| weniger. | |
| Grundeinkommen in Finnland: Gesünder, aber ohne Job | |
| Zwei Jahre mit Grundeinkommen machen die BezieherInnen glücklicher. Die | |
| geringe Zahl an TeilnehmerInnen lässt aber Fragen offen. | |
| Corona-Eindämmung in Schweden: Holz- oder Königsweg? | |
| In Schweden sind viele Menschen an Covid-19 gestorben. Doch die Regierung | |
| bleibt bei ihrem liberalen Kurs – und bekommt Lob von der WHO. | |
| Geld in Liebesbeziehungen: Es ist kompliziert | |
| Warum tun sich selbst aufgeklärte Männer schwer damit, wenn eine Frau mehr | |
| verdient als sie? Eine Annäherung | |
| Mindestlohn und Gender-Pay-Gap: Doppelte Wirkung | |
| Frauen profitieren doppelt vom Mindestlohn. Einmal über den Lohn selbst – | |
| und aus ihm resultierend auch über die bessere Qualität in der Carearbeit. |