# taz.de -- Sexuelle Gewalt an Frauen: Nicht meine Scham | |
> Die Wut bleibt, auch ohne Opferrolle. Geschichten von Betroffenen | |
> sexueller Gewalt können anders erzählt werden, findet unsere Autorin | |
> Gilda Sahebi. | |
Bild: Wütend wegen der unzähligen sexuellen Belästigungen: ein Mittelfinger … | |
In ihrem Buch „King Kong Theorie“ schreibt die französische Feministin | |
Virginie Despentes darüber, wie sie mit 17 von drei Männern vergewaltigt | |
wurde. Was sie über ihr Leben nach der Vergewaltigung erzählt, ist bei mir | |
in besonderer Erinnerung. In unserer Gesellschaft, so Despentes, lernen | |
Frauen, schwach zu sein, sobald sie angegriffen werden. Sie schreibt: „Eine | |
Vergewaltigung hat als ein traumatisches Ereignis Spuren zu hinterlassen, | |
die man möglichst sichtbar und dekorativ zur Schau trägt: Angst vor | |
Männern, Angst vor Dunkelheit, Angst vor Unabhängigkeit.“ | |
An diese Sätze denke ich, als ich das [1][Video „Männerwelten“] sehe. 15 | |
Minuten Länge, beste Sendezeit auf Pro7, Millionen Menschen haben dieses | |
Video inzwischen im Netz gesehen; [2][den Sendeplatz stellten die | |
Entertainer Joko und Klaas zur Verfügung, waren aber an der Erstellung des | |
Videos nicht beteiligt.] | |
Das Video zeigt Frauen, die [3][sexuelle Belästigung, Missbrauch, | |
Vergewaltigung] erlebt haben. Sie sind umgeben von Dunkelheit. Ich sehe | |
bewegungslose Frauen, als seien sie starr vor Angst. Diese Frauen, in | |
diesem dunklen Raum, in diesem Keller, fast wie Puppen. Starr vor Angst? | |
Starr vor Wut? Ich sehe Frauen vor mir, die Opfer sind. Opfer von Männern. | |
Die wohl älteste Erzählung der Geschichte. Einer Geschichte, die von | |
Männern erzählt wird. Und wir glauben sie. | |
Für mich bringt es „Männerwelten“ wieder hoch: das Gefühl, Opfer zu sein. | |
Ich spüre wieder diese Scham. Sie begleitete mich jahrelang, seit jenem | |
Tag, an dem ich erlebte, was Sex sein kann. Ein Mittel der Gewalt. Ein | |
Mittel der Demütigung. Ein Mittel der Macht. Scham. Sie kroch damals in | |
mich hinein, in meinen Körper, in meinen Geist. Machte mich krank. Zahllose | |
Krankenhausaufenthalte, ratlose Ärzte, ich galt als austherapiert, | |
unheilbar. Ich wusste nicht, dass es das Gefühl war, der Welt ausgeliefert | |
zu sein, und die Angst, die meinen Körper krank machten. | |
Scham und Schmerz und Wut | |
In dem Moment, in dem es passiert – sexueller Missbrauch, Belästigung, Hass | |
–, sind wir Opfer. Aber wie lange sollen wir in der Rolle bleiben? Einen | |
Monat? Ein Jahr? Ein ganzes Leben? So lange, wie es sich in unserer | |
männerdominierten Gesellschaft gehört? Müssen wir die Opferrolle immer | |
wieder reproduzieren? | |
Ich hatte der Erzählung geglaubt. Jahrelang. Ich bin Opfer von Männern. | |
Opfer meiner Geschichte. Opfer meiner Umstände. Die bösen Männer. Sie | |
bringen Scham, bringen Schmerz. Mein Glück, meine Gesundheit, meine | |
Unversehrtheit hängen davon ab, was Männer tun, wie sie sich verhalten, ob | |
sie Frauen respektieren oder nicht. Ich war wütend. | |
Ich war wütend, wenn ein Oberarzt uns Medizinstudentinnen alle „Uschi“ | |
nannte, weil er keine Lust hatte, sich die Namen von uns Frauen zu merken, | |
während die Männernamen ihm problemlos über die Lippen gingen. Ich war | |
wütend, wenn ein Redakteur mir nächtliche Nachrichten von der Hotelbar | |
schrieb, er denke an mich, er könne viel für mich und meine Karriere tun, | |
wenn ich wollte. | |
Ich war wütend, wenn ein Mann im Park seinen Penis entblößte und mit ihm | |
vor mir herumwedelte. Ich war wütend, wenn ein Journalist mir, der | |
Praktikantin, abends in einer Bar betrunken die Zunge in den Hals steckte | |
und ich ihn wegstoßen musste, damit er aufhört. Ich war wütend, empört, | |
schockiert. Nur: Hinter all der Wut steckte stets das Gefühl, ausgeliefert | |
zu sein. Wütend zu sein, aber machtlos. Selbst wenn ich anderen davon | |
erzählte. Selbst wenn ich mich wehrte. Ich blieb in der Opferrolle. | |
Sich wie ein Opfer verhalten müssen | |
In unserer Gesellschaft wird von Frauen verlangt, dass sie sich auch wie | |
Opfer verhalten, wenn sie Opfer geworden sind. Eine Frau die, wie Virginie | |
Despentes, beim Trampen vergewaltigt wird und auch nach der Vergewaltigung | |
weiter trampt? Unerhört. Sie hat keine Angst? Sie hat aber Angst zu haben. | |
Eine Frau, die sexuellen Missbrauch erlebt hat und weiter Lust auf Sex und | |
Promiskuität hat? Unerträglich. Sie ist nicht erschüttert? Sie hat aber | |
erschüttert zu sein. Eine Frau, die vergewaltigt wurde und vor Gericht | |
nicht weint, nicht verängstigt, nicht traumatisiert auftritt? | |
Unglaubwürdig. Sie ist nicht zerstört? Sie hat aber zerstört zu sein. | |
Eine „starke“ Frau ist eine Frau im Gegensatz dazu nur, wenn sie | |
erfolgreich alle Rollen ausfüllt, die sie auszufüllen hat, und das, ohne | |
sich zu beschweren. Aber warum brauchen wir überhaupt die Bilder von | |
„starken“ Frauen? Warum benutzen wir das Wort „stark“ bei Männern nur,… | |
wir sagen wollen, dass sie Muskeln haben? „Frau“ alleine reicht nicht, um | |
mit Stärke in Verbindung gebracht zu werden. Sagen wir nur „Frau“, liegt | |
der Gedanke an Schwäche näher als an Stärke. Das ist die Erzählung. | |
Als ich ganz unten, im Keller, in der Dunkelheit angekommen war, gezeichnet | |
von Krankheit, lebensmüde, starr, bewegungslos, fragte ich mich: Was, wenn | |
ich mich entscheide, dieser Erzählung nicht mehr zu glauben? | |
Die Wucht ihrer Geschichten | |
Ich möchte die Geschichten der Frauen hören, die dort unten im Keller der | |
Männerwelten stehen. Ich bewundere sie für ihren Mut, dort zu stehen und | |
ihre Geschichten zu erzählen. Ich fühle mich ihnen nah, auch wenn ich ihre | |
Erlebnisse nicht nachfühlen kann, weil jeder Mensch ein solches Trauma | |
anders fühlt, erlebt, spürt. Es ist wichtig, dass sie ihre Geschichten | |
erzählen. Nicht nur damit jene sie hören, die sich den Alltag einer Frau in | |
dieser Gesellschaft nicht vorstellen können. Nicht nur, damit sich etwas | |
ändert. Sondern auch, um aus dem dunklen Keller herauszukommen, in dem wir | |
unsere Geschichten jahrelang versteckt haben. | |
Ja, ich möchte die Geschichten dieser Frauen hören, aber nicht im dunklen | |
Keller. Wir alle müssen uns diesen Geschichten stellen, wir müssen sehen, | |
was in unserer Gesellschaft passiert. Aber wenn Frauen sich selbst | |
aussuchen, wie sie ihre Geschichten sexueller Gewalt erzählen – wäre es | |
wirklich auf diese Art und Weise? In Dunkelheit, in Stille, in Starre? Im | |
Keller? Oder vielleicht doch lieber mit Kraft, mit Licht, mit Macht? | |
Vielleicht mit dem Satz: Ich war Opfer. Aber ich lasse es nicht mehr zu, | |
dass ihr mich immer und immer wieder zum Opfer macht. | |
Die Wucht ihrer Geschichten würde an nichts verlieren, im Gegenteil, wir | |
würden sehen, wie viel Resilienz und wie viel Lebenswillen es bedarf, um | |
nach einem solchen Trauma weiterzumachen. Wir brauchen keinen Keller und | |
keine geisterhafte Aufmachung, keine Opferinszenierung, um das zu | |
verstehen. | |
Es wäre ehrlicher gewesen, wenn Joko und Klaas selbst durch die Ausstellung | |
geführt hätten. Es ist ihre Plattform. Ich sehe die Frauen in diesem Video | |
durch einen männlichen Blick. Erstarrt, still, schockiert. | |
Aus dem Opfergefühl befreit | |
Und ich sehe, dass es niemandem auffällt, wie verstörend es eigentlich ist, | |
was wir da sehen. Frauen als Opfer zu sehen ist für uns normal. Niemanden | |
stört es, dass die Frauen im Halbdunkel stehen, sich nicht bewegen, starre | |
Gesichter haben, fast geisterhaft wirken, als seien sie nicht mehr richtig | |
lebendig aufgrund dessen, was ihnen angetan wurde. So normal ist es für uns | |
alle, Frauen auf diese Weise zu sehen, dass es uns nicht einmal mehr | |
auffällt. | |
Es ist nur mein eigenes Gefühl, das ich beschreiben kann. Jede Frau, die | |
sexualisierte Gewalt erlebt hat, hat einen anderen Blick, sieht dieses | |
Video anders, empfindet ihre Geschichte anders. Für mich aber war das | |
Gefühl, Opfer zu sein, ein Gefängnis, in das ich mich selbst geschlossen | |
hatte. Niemand hatte mich dazu gezwungen. | |
Was mir passiert ist, habe ich mir nicht ausgesucht. Aber ich hatte | |
geglaubt, der Weg nach dem Missbrauch sei vorgezeichnet. Schließlich war es | |
das, was ich überall sah, zu sehen bekam: Frauen, die sexuellen Missbrauch, | |
Übergriff, Hass erleben, sind gezeichnet. Dieser eine Moment, diese | |
furchtbare Zeit in ihrem Leben, diese traumatisierenden Erfahrungen prägen | |
den Rest ihres Lebens, binden sie an den Täter, an die Männer. Das ist | |
nicht wahr. Ich hörte auf, der Erzählung zu glauben. | |
Heute weiß ich, dass es genau das ist, was die Täter wollen: uns ein Leben | |
lang zu Opfern zu machen. Uns in der Opferrolle zu wissen, ist für sie | |
Genugtuung und Belohnung zugleich. Ich tue ihnen diesen Gefallen nicht | |
mehr. Es war ein langer, schmerzhafter Weg, mich von diesem Opfergefühl zu | |
befreien. Gesund zu werden, zu heilen. Zu verstehen: Es ist nicht meine | |
Scham. Es ist die Scham der Täter. Und ich nehme sie ihnen nicht mehr ab. | |
28 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.prosieben.de/tv/joko-klaas-gegen-prosieben/video/32-maennerwelt… | |
[2] /Maennerwelten-Video-von-Joko--Klaas/!5683366 | |
[3] /Genderexpertin-ueber-Maennerwelten/!5687188 | |
## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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