| # taz.de -- Punk und Indie in Washington, D. C.: Puritanismus vs. Polemik | |
| > Zwei Alben als Abbild einer musikalisch heterogenen Hauptstadt: „Coriky“ | |
| > von Coriky und die Neuauflage von No Trends „Too Many Humans“ | |
| Bild: Straight-Edge-Initiator Ian MacKaye und seine Frau Amy Farina als Duo The… | |
| Der Ian MacKaye des Jahres 2020 hat erstaunlich viel mit dem Ian MacKaye | |
| der achtziger Jahre gemein. Noch immer trägt er Kapuzenpulli und eine | |
| Mütze, die nur das Hinterhaupt bedeckt, noch immer sitzt er im alten, mit | |
| Plattencovern vollgestellten Büro seines Labels Dischord Records in | |
| Washington, D. C., noch immer redet er über die Kraft von Punk und D.I.Y | |
| und darüber, dass er sich seit mehr als 30 Jahren vegan ernährt. | |
| Von all dem konnte man sich überzeugen, als er dem kanadischen | |
| Pop-Journalisten Nardwuar kürzlich ein rares Interview gab. MacKaye, | |
| inzwischen 58, zählt zu den [1][Schlüsselfiguren des US-Hardcore-Punk]: als | |
| Sänger und Gitarrist von Minor Threat und Fugazi, als Labelbetreiber und | |
| als [2][Erfinder der Verzichtsphilosophie Straight Edge]. | |
| Zwei aktuelle Veröffentlichungen bilden nun sehr gut die Entwicklung der | |
| wegweisenden D.C.-Punk- und Indieszene ab. Zum einen ist da MacKayes eigene | |
| neue Band. Coriky heißt sie. Gemeinsam mit dem ehemaligen Fugazi-Bassisten | |
| Joe Lally und seiner Frau Amy Farina am Schlagzeug rief er sie bereits 2015 | |
| ins Leben, jetzt erscheint ihr Debütalbum. | |
| Coriky wirkt wie die logische Fortsetzung von MacKayes Duo The Evens – | |
| unter diesem Alias haben er und Farina zwischen 2001 und 2012 drei Alben | |
| veröffentlicht. Der Wechselgesang der beiden steht auch jetzt wieder im | |
| Vordergrund, ergänzt vom Bass-Groove Lallys. Stilistisch bewegen sich die | |
| elf Songs zwischen Songwriter und Achtziger-Indierock, insgesamt ist das | |
| Klangbild eher ruhig, mit gelegentlichen Noise-Ausbrüchen. | |
| ## Melancholische Bestandsaufnahme der USA der Gegenwart | |
| Die [3][erste Single, „Clean Kill“], floatet locker und leicht im Midtempo | |
| vor sich hin, „[4][Have A Cup Of Tea]“ dagegen ist eine leicht | |
| melancholische Bestandsaufnahme der USA der Gegenwart, und „[5][Woulda | |
| Coulda]“ als vielleicht überraschendster Track zum Schluss kommt mit | |
| Gospelgesang und Americana-Anleihen daher. | |
| Ein Grund für das Trio, sich mit einem Album wieder zu Wort zu melden, war | |
| die politische Entwicklung jüngerer Jahre. Der Song „Inauguration Day“ | |
| spielt auf den 20. und den 21. Januar 2017 an, die Tage der Amtseinführung | |
| von Donald Trump und der Proteste dagegen. | |
| „There’s some people here to see you / I don’t think they agree with you / | |
| one hundred thousand strong / standing out on the lawn“, singt MacKaye im | |
| eingängigen Chorus des Stücks. Für die Bürger:innen von D. C. war Trumps | |
| Amtsantritt ein besonders bitterer Moment, denn im Wahlkreis stimmten 2016 | |
| lediglich 4,1 Prozent der Wahlberechtigten für den heutigen US-Präsidenten. | |
| Politische Untertöne hat auch der Song „bqm“, in dem MacKaye über eine me… | |
| und mehr von Algorithmen geleitete und von Newsfeeds in den Wahn getriebene | |
| Gesellschaft nachsinnt: „We’re eating something / but it is not food / menu | |
| operated by algorithm“, heißt es darin. Einige wenige Stücke auf „Coriky�… | |
| fallen textlich wie musikalisch etwas ab. Dennoch dürften nicht nur Fans | |
| des Dischord-Sounds, sondern auch alle anderen Freund:innen von | |
| Indie-Gitarren Spaß an dem Album haben. | |
| ## Wiederveröffentlichung einer heute vergessenen Band | |
| Das andere Werk, das mit der Washingtoner Szene in Verbindung steht, ist | |
| die Wiederveröffentlichung einer heute vergessenen Band. Das Label Drag | |
| City hat [6][„Too Many Humans“ von No Trend] von 1983 neu aufgelegt, | |
| ergänzt durch die erste EP, Liveaufnahmen, Demos und Raritäten. | |
| No Trend gründeten sich 1982 in Ashton, Maryland (zwischen Washington, D. | |
| C., und Baltimore) und existierten bis 1988 – im Vergleich zu den Acts des | |
| Dischord-Labels ist die Band aber eher ein Randphänomen geblieben. Bei No | |
| Trend war übrigens Jeff Nelsons Bruder Brian Saxofonist. | |
| Auf „Too Many Humans“ ätzt und polemisiert die Band um Sänger Jeff Mentges | |
| vom ersten Ton an gegen das menschliche Treiben auf dem Planeten – es ist | |
| 1984, die Zeit der atomaren Aufrüstung, Reagan, Kohl und Thatcher haben in | |
| den westlichen Industrienationen das Ruder übernommen. Saurer Regen fällt | |
| vom Himmel („Acid rain is falling“), die Städte sind Giftmüllhalden („T… | |
| waste dump“), die Straßen kohlenmonoxidverpestet („Carbon monoxide“). | |
| ## Angepisste Attitüden gegen puritanische Lehre | |
| Der Mensch treibt den Irrsinn voran und vermehrt sich zu allem Überfluss | |
| wie die Ratten („Too many fucking humans / You breed like rats / And you’re | |
| no fucking better“). In vielerlei Hinsicht bildeten No Trend mit ihrer | |
| angepissten Attitüde somit einen Gegenentwurf zur puritanisch anmutenden | |
| Lehre Minor Threats und MacKayes. | |
| Wegweisend war neben der Energie von Sänger Mentges auch das Gitarrenspiel | |
| von Frank Price. Price spielte schräge Soli, arbeitete mit Dissonanzen, | |
| Funk-Licks sowie Krach- und Noise-Attacken, wie es später bei den Bands des | |
| Labels SST gang und gäbe werden sollte. Auf späteren Alben experimentierten | |
| No Trend mit Ska, Funk und Fahrstuhlmusik. | |
| Zudem war die Band fast wie eine Theatertruppe unterwegs, sie verkleideten | |
| sich oder sie vergrätzten das Publikum mit grellen Blinklichtern. Alles in | |
| allem: zwei Alben, die die Heterogenität der so vitalen Washingtoner | |
| Musikszene gut widerspiegeln. Im Gestern wie im Heute. | |
| 20 Jul 2020 | |
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| [1] /Dokumentarfilm-ueber-DC-Punk-Szene/!5016645 | |
| [2] /Doku-ueber-Straight-Edge-Bewegung/!5134025 | |
| [3] https://youtu.be/rSQ3b6QnHlk | |
| [4] https://youtu.be/cLl0rcg-BHM | |
| [5] https://youtu.be/XkB76H0oY_k | |
| [6] https://www.dragcity.com/products/too-many-humans-teen-love | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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