# taz.de -- Straßenphilosophische Pop-Musik: Der Teufel hat ihn vermisst | |
> Mike Skinner hat 2001 das Rap-Projekt The Streets gegründet, um den | |
> Lifestyle britischer Jugendlicher zu reflektieren. Nun gibt’s ein neues | |
> Mixtape. | |
Bild: Draußen auf der Straße: Mike Skinner alias The Streets | |
Für Mike Skinner ist es ein Ding der Unmöglichkeit, nur geradeaus zu | |
denken. Im Telefoninterview mit der taz schlägt der Brite immer wieder | |
Haken. Mal hält er einen Monolog über die Coronakrise, mal streift er den | |
Brexit oder tut seine Meinung zu modernen Kommunikationsmitteln kund. All | |
diese Themen treiben ihn um, schon lange. So verwundert es nicht, dass er | |
für das neue The-Streets-Mixtape „None of Us Are Getting Out of this Life | |
Alive“ abermals Songs geschrieben hat, die nicht einfach nur nebenbei | |
laufen können. Die Musik changiert zwischen Grime, Rap, Trap, Drum’n’Bass | |
und House, die Texte verlangen einem die volle Aufmerksamkeit ab. Zeilen | |
wie „She talks about her ex so much even I miss him“ offenbaren Mike | |
Skinners emotionale Seite, im Titelsong konstatiert er dagegen | |
knochentrocken mit seinem Cockney-Akzent: „I don’t like my country.“ | |
„Diesen Satz würde ich am liebsten streichen“, bekennt der 41-Jährige im | |
Gespräch. Ursprünglich war seine Antipathie gegen Großbritannien auf den | |
Brexit gemünzt. Das Treiben der Befürworter des Austritts aus der | |
Europäischen Union hatte Mike Skinner, wie er sagt, wahnsinnig gemacht: | |
„Ich hatte das Gefühl, sie wünschten sich das British Empire zurück. Für | |
mich waren diese Rückwärtsgewandten keinen Deut besser als Trump mit | |
seinen,Lasst uns Amerika wieder groß machen'-Parolen.“ | |
So harsch urteilt Mike Skinner heute allerdings nicht mehr über seine | |
Landsleute beziehungsweise das soziale Klima in seiner Heimat. Die Pandemie | |
hat ihn etwas milder gestimmt: „Ich glaube zwar nicht, dass die Menschen | |
fundamental besser geworden sind. Aber inzwischen haben sie zumindest | |
erkannt, wer wirklich Gutes tut.“ Das Pflegepersonal in Kliniken zum | |
Beispiel: „Vor einem Jahr hielt kaum jemand Krankenschwestern für wahre | |
Heldinnen. Angesichts Covid-19 ist da ein radikales Umdenken erfolgt.“ | |
Das Virus werde auch die Arbeitswelt verändern, daran besteht für den | |
zweifachen Familienvater nicht der geringste Zweifel: „Ich denke, immer | |
mehr Leute werden dauerhaft ins Homeoffice gehen. Vermutlich sieht man | |
seine Kollegen nur noch alle paar Monate.“ Für Mike Skinner hat sich dieses | |
Arbeitsmodell bereits bestens bewährt – egal, ob er als Musiker oder DJ | |
unterwegs ist. Für seine Tonga-Partys in London, Birmingham, Berlin und | |
Kopenhagen tat er sich mit dem Murkage-Kollektiv zusammen. Für diese | |
Clubabende stellten sie einen Mix aus Dubsteb, Grime und Rap zusammen. | |
## Spott für die Verschwörungstheoretiker | |
Gerade das hatte großen Einfluss auf The Streets’ jüngstes Mixtape. „Ich | |
wollte die Musik nicht revolutionieren“, bekennt Mike Skinner ohne | |
Umschweife. „Mein Ziel war es, die Songs eher simpel zu halten.“ Trotzdem | |
holte er jede Menge Gäste ins Boot. Bei jedem Stück wechselte er die | |
Besetzung. Er kooperierte mit Rockbands wie Tame Impala oder Idles; mit Ms | |
Banks, Jimothy Lacoste und Jesse James Solomon stießen Musiker*innen zu | |
ihm, die derzeit als die großen britischen Rapsensationen gelten. | |
So verarbeiten The Streets ein breites Spektrum an Klängen und Inhalten: | |
Tame Impalas Psychedelic-Einsprengsel treffen bei „Call my Phone Thinking | |
I’m Doing Nothing Better“ auf groovende Beats. „Eskimo Ice“ kokettiert … | |
Post-Dubstep. Ein unbehagliches Elektro-Skelett liefert in „The Poison I | |
Take Hoping You Will Suffer“ den Soundtrack für besonders dunkle Träume. | |
„The devil says he misses me and wants me back“, rappt Mike Skinner in | |
diesem Track. Das balladeske „Conspiracy Theory Freestyle“ wartet mit | |
spärlichen Klavierakkorden auf. Sätze wie „You know the truth like your | |
phone knows the time“ verspotten Verschwörungstheoretiker. | |
Mit dem Rapper Donae’o und der R-’n’-B-Sängerin Greentea Peng nahm Mike | |
Skinner ein Plädoyer für mehr Selbstliebe auf: die Two-Step-Hymne „I Wish | |
You Loved You As Much As You Love Him“. Dass die eigene Wertschätzung ein | |
recht heikles Sujet ist, hat Skinner selbst erfahren: „Oft hassen wir, wer | |
wir sind.“ Wenigstens in seiner Jugend habe ihm diese Einstellung das Leben | |
schwer gemacht: „Ich war damals davon abhängig, von anderen gemocht zu | |
werden“, sagt er. | |
Inzwischen hat sich Mike Skinner von seinen Komplexen gelöst: „Je älter ich | |
wurde, desto mehr habe ich eine Art buddhistische Gelassenheit entwickelt.“ | |
Will heißen: Er akzeptiert sich so, wie er ist. Mit all seinen Stärken und | |
Schwächen. „Meine Dickköpfigkeit“, sagt er, „muss nicht unbedingt negat… | |
sein. Sie hilft mir, mich zu fokussieren und mich nicht von meinem Weg | |
abbringen zu lassen.“ | |
## Mal Bock auf Gesellschaft, mal halt nicht | |
Auch bei Projekten, die über die Musik hinausgehen: So versucht er seit | |
Jahren unermüdlich, einen Film namens „The Darker the Shadows the Brighter | |
the Lights“ voranzutreiben. Das sei ein Musical über einen DJ, erklärt er: | |
„eine Fiktion, keine Dokumentation“. Parallel dazu führt er bei seinen | |
eigenen Videos Regie, er hat einige Kurzfilme gedreht. Die Filmwelt, findet | |
er, sei völlig anders als die Musikwelt: „Schauspieler verdienen relativ | |
viel Geld, Musiker haben mehr Freiheit.“ | |
Gleichwohl trat Mike Skinner mit extrem hohen Ansprüchen an sich selbst an, | |
als er 2002 sein erstes The-Streets-Album „Original Pirate Material“ | |
veröffentlichte. Einerseits wollte er Garage weiterentwickeln, andererseits | |
die Lebensstile britischer Jugendlicher authentisch reflektieren: „Mein | |
Plan war es, nicht zu künstlerisch zu sein. Meine Musik sollte einen Zweck | |
haben.“ Mit dieser Philosophie stieß er 2011 allerdings an seine Grenzen, | |
ihm gingen die Ideen aus, seine Verkaufszahlen waren im Sinkflug. Also | |
beschloss er, The Streets ad acta zu legen. Diese Entscheidung schien | |
endgültig zu sein, so wirkte es jedenfalls. Selbst sein Manager war | |
überrascht, als Mike Skinner eine The-Streets-Reunion-Tour für 2018 | |
ankündigte. Er haute einige Singles raus, nun folgt das Mixtape, das | |
tatsächlich kein stringentes Album ist. | |
Es gibt jedoch Themen, die sich durchziehen. Mit den Liedern „Phone Is | |
Always in My Hand“ und „Call My Phone Thinking I’m Doing Nothing Better“ | |
seziert er einmal mehr die Bedeutung des Mobiltelefons in unserer | |
Gesellschaft. „Moderne Technologie ist längst ein wesentlicher Bestandteil | |
unseres Alltags geworden“, analysiert Mike Skinner. „Die Leute nutzen | |
WhatsApp, um sich für ein Date zu verabreden. Konferenzen finden via Zoom | |
statt.“ Aber bringt uns Hightech tatsächlich näher zusammen? Schon mal | |
darüber nachgedacht, warum nicht selten manche neben ihren | |
Facebook-Bekanntschaften kaum noch echte Freunde haben? | |
Solche Fragen lässt Mike Skinner indes nicht gelten, um gegen Social Media | |
oder Smartphones zu stänkern. „Meiner Ansicht nach braucht ein Mensch gar | |
nicht ständig andere um sich herum“, stellt er klar. „Wir kommen mit | |
weniger Kontakt aus, als wir denken.“ Er persönlich hat aus dieser | |
Erkenntnis die Konsequenz gezogen: „Ich entscheide aus der Situation | |
heraus, ob ich Gesellschaft möchte oder lieber für mich sein will.“ | |
27 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Dagmar Leischow | |
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