# taz.de -- Expertin zu Frauen in der Coronakrise: „An die Bruchstellen ran �… | |
> Frauen treffe weltweit eine „Schattenpandemie“, sagt Karin Nordmeyer von | |
> UN Women Deutschland. Sie seien in der Coronakrise dramatisch | |
> benachteiligt. | |
Bild: Weltweit leiden besonders Frauen unter der Coronapandemie | |
taz: Frau Nordmeyer, das Jahr 2020 hätte Geschlechtergerechtigkeit global | |
nach vorn bringen sollen. Internationale Gleichstellungskonferenzen waren | |
geplant, viele Länder hatten wie Deutschland und Frankreich angekündigt, | |
das Thema pushen zu wollen. Kann das trotz der [1][Coronapandemie] jetzt | |
noch etwas werden? | |
Karin Nordmeyer: Zunächst müssen wir sehen, dass Mädchen und Frauen in der | |
Pandemie dramatisch benachteiligt sind. Global gesehen sind 70 Prozent der | |
Arbeitenden im Gesundheitswesen Frauen. Sie haben eine deutlich höhere | |
Arbeitsbelastung als Männer und sind einem höheren Infektionsrisiko | |
ausgesetzt. In Italien sind derzeit 66 Prozent der Infizierten im | |
Gesundheitsbereich Frauen, in Spanien 72 Prozent. | |
Damit aber nicht genug: Auch im häuslichen Sektor haben Frauen die größere | |
Last zu tragen. Schon vor Corona haben Frauen weltweit täglich mehr als | |
vier Stunden unbezahlter Sorgearbeit geleistet. Zu Hause sind sie von | |
Infektionen bedroht, weil sie die Alten und Kranken pflegen. Diese | |
Arbeitszeit hat sich unter Corona weiter massiv verschlechtert. | |
Wie kommt das? | |
Wenn mehr Ressourcen in der bezahlten und unbezahlten Pflege gebraucht | |
werden, werden diejenigen belastet, die schon da sind. In vielen anderen | |
Branchen werden Frauen noch immer als „Zuverdienerinnen“ gesehen. Viele | |
haben deshalb ihre Teil- oder auch Vollzeitstellen verloren. Und weil sie | |
in der Pflege und zu Hause gebraucht werden, sind Mädchen vor allem im | |
Globalen Süden in Gefahr, auch nach dem Ende der Schulschließungen nicht | |
mehr weiter zur Schule gehen zu dürfen. | |
Die Vereinten Nationen sprechen von einer „Schattenpandemie“ in Bezug auf | |
Frauen und Mädchen. Was ist damit gemeint? | |
Im Schatten von Corona entwickelt sich eine weitere Pandemie: Auch | |
[2][Gewalt gegen Frauen steigt exponentiell]. Die Aggressionstoleranz von | |
Männern ist noch geringer als ohnehin schon, die Wut kann meist nicht mehr | |
draußen abreagiert werden, beim Sport zum Beispiel. | |
Schon vor Corona wurde zum Beispiel in Deutschland, Frankreich, Kanada oder | |
Finnland an jedem dritten Tag eine Frau von ihrem Partner umgebracht. Seit | |
dem Lockdown Mitte März sind die Fälle häuslicher Gewalt in Frankreich um | |
30 Prozent gestiegen. In Singapur, Zypern und Argentinien haben die | |
Hotlines mehr als 30 Prozent mehr Anrufe verzeichnet, in Deutschland sind | |
aktuell mehr als 17 Prozent beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ | |
eingegangen. | |
Wie kommt es, dass die Krise wie ein Brandbeschleuniger für Ungleichheit | |
wirkt? | |
Wir haben die Rollen, die Frauen in unserer globalen Welt einnehmen, noch | |
immer nicht angemessen wahrgenommen und bewertet. Jetzt zeigt sich das | |
deutlich. Es ist doch zynisch, dass die „systemrelevanten“ Arbeiterinnen | |
weniger verdienen als Arbeiter in der Metallindustrie. | |
Jetzt fällt ins Auge, dass unsere Gesellschaft die Produktion von Gütern | |
höher bewertet als die Sorge um Menschen. Und letztlich greifen nun die | |
alten Strukturen, auch wenn wir dachten und hofften, schon weiter zu sein: | |
Die einen haben Körperkraft, Macht und Geld, die anderen machen die meiste | |
Arbeit. Zeit, darauf hinzuweisen, haben sie deshalb leider auch selten. | |
Ist die Lage von Frauen und Mädchen je nach Kontinent und Land überhaupt | |
vergleichbar? Eine Alleinerziehende in Indien und eine in Deutschland | |
stehen vor sehr unterschiedlichen Situationen. | |
Natürlich sind Erwerbsleben und Arbeitslosigkeit in afrikanischen Staaten | |
oder Indien anders strukturiert als in Europa. Aber die Grundlinie ist | |
vergleichbar, weil es um die Frage geht, was Mädchen und Frauen wert sind. | |
Was sind sie wert? | |
Die Gleichwertigkeit der Geschlechter ist in keinem Land der Welt erreicht, | |
auch in Deutschland nicht. Ökonomisch gesehen ist unbezahlte Care-Arbeit | |
direkt verknüpft mit schlechterem Einkommen. Die Art und Weise, wie | |
Familien und die Wirtschaft funktionieren, basiert auf dieser unbezahlten | |
Arbeit. Global gesehen verdienen Frauen weniger, können weniger sparen, | |
sind in Teilzeit oder im informellen Sektor beschäftigt. | |
Stellenstreichungen gab es durch Corona zuhauf in der Gastronomie, dem | |
Tourismusgewerbe, der Hotellerie und in Serviceberufen, also weiblichen | |
Branchen. Jetzt verstärken Schulschließungen den Druck, weil Frauen noch | |
immer weitgehend für die Kinderbetreuung zuständig sind. Alleinerziehende, | |
deren Netzwerke brachliegen, können gar nicht arbeiten. | |
Wo sind Frauen momentan am meisten gefährdet? | |
Besonders gefährdet sind Frauen indigener Völker, zum Beispiel in | |
Argentinien oder Kolumbien, weil dort oft der Zugang zu Gesundheits- und | |
Wirtschaftsmaßnahmen fehlt. Auch Aufklärung darüber, wie man sich schützen | |
kann, findet nicht überall statt, denken wir an Brasilien oder auch an die | |
USA. In konfliktbetroffenen Gebieten ist die Situation besonders grausam. | |
[3][Auf den Fluchtrouten oder in Lagern] wie Moria sind die Verhältnisse | |
nicht nur hygienisch unmenschlich. | |
Gibt es denn schon Ansätze, wie Frauen unter Corona konkret geholfen werden | |
kann? | |
Es gibt zum Beispiel in Bezug auf den Schutz gegen häusliche und | |
sexualisierte Gewalt eine ganze Reihe positiver Beispiele rund um die Welt. | |
Kanada stellt 50 Millionen kanadische Dollar bereit, um Schutzräume für | |
Betroffene zu unterstützen, Mexiko gibt 405 Millionen Pesos an das | |
nationale Netz der Frauenhäuser. In Spanien gibt es einen Messaging | |
Service, der in einem Chatroom sofort psychologische Hilfe anbietet. In | |
Argentinien können Opfer von Gewalt Schutz in Apotheken suchen. Frankreich | |
stellt 20.000 Nächte in Hotelzimmern für Frauen zur Verfügung. | |
Und Deutschland? | |
Auch hier mieten manche Länderregierungen Hotels an, um Schutzräume zu | |
erweitern. Aber schon vor Corona haben hier 14.000 Frauenhausplätze | |
gefehlt. Da müssen wir langfristig nachsteuern. Technisch wäre es zudem | |
längst möglich, auf digitalen Sprachassistenten Programme zu installieren, | |
damit Frauen heimlich Gefahr signalisieren können, auch wenn die Männer zu | |
Hause sind. So etwas müssen wir jetzt pushen. | |
Welche geschlechtsspezifischen ökonomischen Maßnahmen gibt es schon? | |
Costa Rica hat die Zinssätze für Kredite gesenkt, um benachteiligte | |
Bevölkerungsgruppen zu adressieren, also auch Indigene und Frauen. Der | |
südafrikanische Präsident hat einen Fonds angekündigt, der auch die | |
Arbeitnehmerinnen schützen soll. | |
Reicht das? | |
Das wichtigste ist: Frauen müssen an Gelder kommen. Die Staaten müssen | |
Bargeld direkt in ihre Hände bringen. Dass es dort wirksamer ist als in den | |
Händen von Männern, weil Frauen nachhaltiger wirtschaften, wissen wir. Auch | |
Kleinkredite an Frauen helfen. Deren Bedingungen dürfen nicht an Vermögen | |
gekoppelt werden, weil Frauen sonst kaum Chancen haben, sie zu bekommen. | |
Bisher werden unter Corona vor allem große Unternehmen adressiert, weil im | |
Globalen Norden Schlüsselindustrien von Männern dominiert sind. Wir müssen | |
aber das kleine Business in den Blick nehmen. Und wir müssen Daten sammeln, | |
wie sich Covid-19 auf Frauen auswirkt, um valide Argumentationsgrundlagen | |
zu haben. | |
Was lernen wir dabei aus vergangenen Krisen? | |
Nach Ebola hat sich beispielsweise gezeigt, dass Männer schnell ihr | |
Einkommensniveau von vor der Krise erreichen konnten, Frauen nicht. Wir | |
müssen die Geschlechter also unterschiedlich adressieren. Männer verdienen | |
ihr Einkommen global viel eher in organisierten Verhältnissen. 740 | |
Millionen Frauen weltweit arbeiten im informellen Sektor. Das müssen wir | |
berücksichtigen. Auch Krankenversicherungen und Mutterschutz müssen in | |
diesen Sektor reichen. | |
Was muss passieren, damit die Krise als Chance genutzt werden kann? | |
Wir müssen an die Bruchstellen ran – jetzt. Und wir müssen vor allem | |
dranbleiben, wenn die Krise wieder vorbei ist. Wir können nicht mehr | |
weitermachen wie bisher. Zum Glück merken wir gerade, dass ein | |
gleichstellungspolitischer Rückschritt in alte Rollenmuster nicht mehr so | |
einfach möglich ist – er fällt zumindest auf. Niemand kann mehr unbemerkt | |
das Rad zurückdrehen. | |
Könnte eine gleichberechtigtere Welt der Krise besser standhalten? | |
Gegenwärtig verbrauchen wir uns im Kampf. Wir werden Krisen nie ganz | |
verhindern können, sie aber besser bewältigen, wenn alle ihr Potenzial | |
einbringen. Gesellschaften profitieren von unterschiedlichen Perspektiven, | |
sie sind dann stabiler. Wenn Risiken auf mehr Schultern verteilt werden, | |
bricht außerdem niemand mehr unter der zu großen Last zusammen. Wären | |
weibliche Pflegekräfte vor der Krise gehört worden, wäre das | |
Gesundheitssystem nun resilienter. Das Ziel der Vereinten Nationen ist es, | |
Geschlechtergerechtigkeit bis 2030 massiv voranzubringen. Dieses Ziel | |
bleibt auch unter Covid-19. | |
Ist das nicht völlig utopisch? | |
Natürlich brauchen manche Veränderungen Generationen. Aber vielleicht | |
braucht es auch radikale Maßnahmen. Wenn alle Frauen nur eine Viertelstunde | |
ihre Arbeit niederlegen würden, wäre klar, dass ohne sie nichts geht. In | |
der jetzigen Situation ist ein solcher Generalstreik nicht möglich. Aber | |
ich möchte das als Aufruf an die junge Generation verstehen: Zeigt, welche | |
Relevanz Frauen in der Gesellschaft haben. | |
1 May 2020 | |
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Patricia Hecht | |
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