| # taz.de -- Kampf für neue Verkehrspolitik: Zu viel Autofahrer-Perspektive | |
| > Ein Hamburger Vater bittet die Polizei, gefährliche Situationen auf dem | |
| > Schulweg zu entschärfen. Weil nichts passiert, wendet er sich an die | |
| > Politik. | |
| Bild: Fordert eine konkrete Wende in der Verkehrspolitik: Tilo Schmidtsdorff | |
| Hamburg taz | Tilo Schmidtsdorff kann es nicht mehr mit ansehen, dass der | |
| [1][Schulweg] seiner Kinder zugeparkt wird, dass ihnen Autos an | |
| Fußgängerüberwegen die Sicht verstellen und dass die Polizei sie dann auch | |
| noch ermahnt, Helme und Sicherheitswesten zu tragen. „Wie viele | |
| Sicherheitswesten und Fahrradhelme soll man als Fußgänger denn tragen, um | |
| vor einem auf dem Gehweg fahrenden Auto geschützt zu sein?“, fragt er. | |
| Schmidtsdorff betreibt einen [2][Verkehrsblog]. Er hat drei Kinder, möchte | |
| mit seiner Familie ohne Auto leben, und dürfte vielen Hamburgerinnen und | |
| Hamburgern, die [3][Umfragen] zufolge den Autoverkehr zurückdrängen wollen, | |
| aus der Seele sprechen. | |
| Mit Blick auf die irgendwann nach dem Ende der Corona-Krise anstehenden | |
| Koalitionsverhandlungen von SPD und Grünen verlangt er, ans Eingemachte zu | |
| gehen: Die Straßenverkehrsbehörden müssten ihre [4][Prioritäten neu | |
| setzen], fordert er – weg vom Auto, hin zum Fuß- und Radverkehr. Dazu müsse | |
| das Personal umdenken, die Planungsbasis müsse verbessert und die | |
| Zuständigkeiten verändert werden. | |
| Hier liegt Schmidtsdorff auf einer Linie mit dem Allgemeinen Deutschen | |
| Fahrradclub ([5][ADFC]), der kürzlich eine „starke, grün geführte Behörde | |
| zur Neugestaltung des Verkehrs“ gefordert hatte. Das zielt darauf, die | |
| entsprechenden Abteilungen aus der Innenbehörde und der Polizei | |
| herauszulösen und stattdessen der Verkehrsbehörde zuzuschlagen. | |
| ## Es geht um strukturelle Änderungen | |
| Politisch wäre das brisant, aber es wäre eine Möglichkeit, das | |
| verkehrspolitische Umdenken auch strukturell anzulegen. Das tut aus | |
| Schmidtsdorffs Sicht bitter not, denn die Empfehlung, Sicherheitswesten zu | |
| tragen, hält er für symptomatisch: Trotz aller Beteuerungen, sich für die | |
| schwächsten VerkehrsteilnehmerInnen einzusetzen, gehe die Polizei nicht | |
| konsequent gegen die Auswüchse des Autoverkehrs vor. Sie betrachte den | |
| Verkehr nach wie vor in erster Linie aus der Autofahrer-Perspektive. | |
| Weil seine direkten Kontakte mit der Polizei vor Ort zu nichts geführt | |
| haben, hat Schmidtsdorff die entsprechende Korrespondenz jetzt an die | |
| Bürgerschaft, an Innensenator Andy Grote (SPD) sowie die Polizeiführung | |
| geschickt. Unterfüttert hat er sie mit 14 Eingaben zu konkreten | |
| Problemfällen an die Regionalausschüsse | |
| Barmbek-Uhlenhorst-Hohenfelde-Dulsberg sowie Eppendorf-Winterhude. | |
| Dabei geht es Schmidtsdorff im ersten Schritt nur darum, dass die Polizei | |
| der Straßenverkehrsordnung Geltung verschafft, also ihre Aufgabe erfüllt: | |
| Sie soll FalschparkerInnen abschleppen, verhindern, dass Leute mit ihren | |
| Autos über den Gehweg fahren, dass sie noch in der Fußgängerfurt stehen, | |
| wenn die Fußgängerampel längst Grün zeigt, und dass Radwege im Nichts | |
| enden. | |
| Er erwarte von der Straßenverkehrsbehörde, dass sie „sich aktiv für sichere | |
| Fuß- und Radwege, insbesondere für Kinder und Menschen mit Einschränkungen | |
| einsetzt, indem sie dem Kfz-Verkehr eindeutige Grenzen aufzeigt“, schreibt | |
| Schmidtsdorff. Dass das nicht geschehe, sei ihm unverständlich. | |
| Im vergangenen Jahr habe die Polizei „erhebliche Kräfte darauf verwendet, | |
| Schulkinder zu kontrollieren, um für Verkehrssicherheit zu sorgen“. | |
| Gleichzeitig wurde ihm bedeutet, es sei illusorisch, die von ihm gemeldeten | |
| Regelverstöße durch Überwachung von der Polizei zu verhindern. | |
| „Zusammengenommen klingt das für mich nach Kapitulation“, schreibt | |
| Schmidtsdorff. | |
| ## Hartes Brot für Lokalpolitiker | |
| In seinen Eingaben nennt er auch viele Probleme in der Infrastruktur: | |
| fehlende Radverkehrsanlagen, gefährliche Fußgängerüberquerungen, | |
| „minderwertige“ Verkehrsführung. Beim Versuch, solche Zustände zu ändern, | |
| tun sich die PolitikerInnen lokaler Ebene bisher schwer. | |
| Timo Kranz, Fraktionschef der Grünen im Bezirk Nord, kann als Beispiel von | |
| der Veloroute 4 erzählen, einer Art Ausfallstraße für RadlerInnen, die in | |
| Langenhorn über die Straße Hohe Liedt und Neuberger Weg verlaufen soll. | |
| Eigentlich sei das eine Bezirksstraße, aber eine, der die Verkehrsbehörde | |
| „übergeordnete Bedeutung“ zumesse. | |
| Es komme für die Behörde daher nicht in Frage, dem Fahrradverkehr Vorrang | |
| vor dem Auto einzuräumen. Und auch Tempo 30 sei nicht möglich, habe die | |
| Polizei beschieden – schließlich handele es sich nicht um einen | |
| Unfallschwerpunkt. „Das Ergebnis: Die RadfahrerInnen müssen auf einer | |
| Veloroute im Mischverkehr bei Tempo 50 fahren“, sagt Kranz. Wem das zu | |
| stressig sei, der dürfe großzügigerweise auf dem Gehsteig fahren – und das | |
| auf einer Hauptachse für den Fahrradverkehr. | |
| Für Kranz und Schmidtsdorff zeigt sich an solchen Beispielen, wohin es | |
| führt, dass das Thema Verkehr unter verschiedenen Behörden aufgeteilt ist. | |
| „Man hat keine einheitliche Idee, wie man den Straßenverkehr gestalten | |
| will“, kritisiert der Grüne Kranz. | |
| Schmidtsdorff hat in einem [6][Video] die Struktur aufgedröselt: Auf der | |
| einen Seite stehen die Verkehrsbehörde und die Bezirke, die sich um | |
| Straßenbau und Straßenplanung kümmern. Auf der andere Seite steht die | |
| Innenbehörde mit ihrer Grundsatzabteilung und der Verkehrsdirektion – bis | |
| hinunter zu den örtlichen Polizeikommissariaten. | |
| ## Hamburger Sonderweg | |
| „Das ist in Hamburg einzigartig“, sagt Samina Mir vom Vorstand des | |
| Hamburger ADFC. Das gibt es in keinem anderen Bundesland, dass die gleiche | |
| Behörde, die die Straßenverkehrsordnung auslege, auch für deren Einhaltung | |
| zuständig sei. | |
| Dabei kollidierten die politisch-planerischen Ziele bisweilen mit der | |
| tradierten Sichtweise der Polizei. Dieser gehe es um die Leistungsfähigkeit | |
| einer Straße, sagt Schmidtsdorff – „und die wird am Autodurchsatz | |
| gemessen“. Als Fußgänger, Fahrradfahrer und Vater fühle er sich dabei | |
| missachtet. „Ich will mich frei bewegen können ohne Auto“, sagt | |
| Schmidtsdorff. | |
| Jens Deye vom ADFC fordert, wenigstens die Grundsatzabteilung für den | |
| Verkehr, die etwa für die Umsetzung von Bundes- in Landesrecht zuständig | |
| ist, von der Innen- in die Verkehrsbehörde zu verlagern. Das könnte eine | |
| Verkehrspolitik aus einem Guss fördern und der Verkehrswende Schwung geben. | |
| Und die PolizistInnen, die mit dem Verkehr befasst seien, sollten zumindest | |
| besonders qualifiziert werden. „Sie brauchen eine Ausbildung als | |
| Sicherheitsauditor“, findet Deye. Ziel müsse eine felhlerverzeihende | |
| Infrastruktur sein. | |
| Der Verkehrsaktivist Schmidtsdorff findet, es könnten auch private Anbieter | |
| mit Sicherheitsaudits, etwa rund um Schulen, beauftragt werden. Dabei würde | |
| die Verkehrsinfrastruktur und -lage in der Nachbarschaft systematisch auf | |
| mögliche Konflikte zwischen unterschiedlichen VerkehrsteilnehmerInnen und | |
| Gefahrstellen hin analysiert. | |
| 24 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Volksinitiative-fuer-Verkehrswende/!5629151 | |
| [2] https://mobil-hh.de/verkehrspolitik-hamburg-die-rolle-der-polizei/729/ | |
| [3] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/wahl/buergerschaftswahl_2020/Hamburg… | |
| [4] /Umbau-des-Verkehrssystems/!5663079 | |
| [5] https://hamburg.adfc.de/ueber-uns/ueber-uns/ | |
| [6] https://mobil-hh.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Gernot Knödler | |
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