| # taz.de -- Architektonisches Tauwetter in Jerewan: Relikte der zweiten Sowjetm… | |
| > Leichtfüßige Sowjetbauten, Verfall und nationales Pathos: eine | |
| > architektonische Besichtigung von Armeniens Hauptstadt Jerewan. | |
| Bild: Eine freiheitliche Vision: Freiluftkino Moskau, Jerewan, gebaut im Jahr 1… | |
| Es war ein ganz verwegenes Gebäude. Etwas geheimnisvoll in einen Innenhof | |
| gerückt, entblätterte sich der Betonkörper des Freiluftkinos Moskau | |
| förmlich über den Köpfen der Passanten, mitten im Zentrum von Jerewan. Als | |
| dieser leichtfüßige Bau der Sowjetmoderne vor zehn Jahren von der | |
| Denkmalliste gestrichen werden sollte, bündelte sein drohender Abriss wie | |
| ein Brennglas den Unmut vieler Armenier:innen. | |
| 2011 begannen die [1][Proteste von Occupy Wall Street im New Yorker | |
| Zuccotti-Park] und 2013 die im Gezi-Park von Istanbul, aber schon im | |
| Februar 2010 demonstrierten in der armenischen Hauptstadt Menschen für den | |
| öffentlichen Raum in ihrer Stadt. Und sie wehrten sich damit gegen die | |
| Kräfte, die Jerewan seit dem Zerfall der Sowjetunion mit Bürotürmen und | |
| Kathedralgiganten in ein Korsett von Kapital und Moral gespannt hatten. Das | |
| ist jetzt zehn Jahre her. Das Moskau-Freiluftkino steht noch, aber es ist | |
| zur Unkenntlichkeit verrottet. | |
| Die Stadt Jerewan am Fuß des mystisch von der Osttürkei herüber schauenden | |
| Bergs Ararat ist wie ein Freilichtmuseum der „zweiten“ sowjetischen | |
| Moderne. Einer Architektur nach Stalin, anknüpfend an die internationale | |
| Avantgarde aus den zwanziger Jahren (diese „erste“ Moderne hat in Armenien | |
| kaum bauliche Zeugnisse hinterlassen), aber freimütiger. Wie das Kino | |
| Moskau löst sich diese zweite Moderne mit leichten Flaneur-Architekturen | |
| vom dunklen Totalitarismus der Vorjahre. Heute ist Jerewan gleichsam | |
| Spielstätte ihres Verfalls. | |
| In den 1960er Jahren ließ die armenische Regierung den grünen Ringboulevard | |
| um die Innenstadt vollenden, den bereits der Nationalbaumeister Alexander | |
| Tamanyan im Zuge der Hauptstadtgründung 1924 geplant hatte, und platzierte | |
| darin die ungewöhnlichen Loisir-Architekturen: Wie ein rostiger Seedampfer | |
| ragte der Schachclub von Zhanna Meshcheryakova aus dem Ringpark empor. | |
| ## Goldenes Zeitalter der Stagnation | |
| Als würde über einem Wasserbassin ein gigantisches Tischtuch gerade | |
| aufgeworfen und in der Schwebe gehalten – so sah das Poplavok-Café von | |
| Feniks Darbinyan und Felix Hakobyan aus. Und das Rossiya-Kino von Artur | |
| Takhanyan, Spartak Khachikyan und Hrachya Poghosyan war eine vollends | |
| kühne Konstruktion: Zwei monumentale Waagschalen aus Beton hingen über den | |
| Boulevard, gerade so, als wären sie aus der Balance geraten und stünden | |
| kurz davor, ins Gleichgewicht zurückzukippen. | |
| Diese Gebäude kommen aus einer diffusen Ära der Sowjetunion. Die Loslösung | |
| vom stalinistischen Terror-Regime verfolgten Chruschtschow und Breschnew in | |
| den 1960er Jahren mit einer doppelgesichtigen Politik: Kontrolle aus Moskau | |
| einerseits und Förderung nationaler Freizügigkeit andererseits. Der | |
| Ethnologe Wiktor Kozlow bezeichnete die Zeit rückblickend als „Goldenes | |
| Zeitalter der Stagnation“. Und damit benannte er auch ihre Schizophrenie, | |
| die eine ebenso widerstreitende Baukultur in den einzelnen Republiken der | |
| UdSSR hervorgebracht hat. | |
| In Armenien zeigte sich einerseits ein aufkommender Nationalismus in einer | |
| Architektur voller Anspielungen an das Vaterland: Architekten wie Rafayel | |
| Israeyelian setzten schlanke Bögen und gemeißelte Ornamente an die Fassaden | |
| von Museen- und Regierungsbauten – als seien die Baumeister der Kathedrale | |
| von Ani selbst am Werk gewesen, jener mittelalterlichen Königshauptstadt, | |
| die mittlerweile in der Türkei eine Ruinenlandschaft bildet. | |
| ## Heute prosperiert dieser Nationalstil | |
| Es ist ein dunkel-erhabener Stil, [2][die schmerzhafte Geschichte einer | |
| Jahrhunderte lang staatenlosen und vom türkischen Genozid traumatisierten | |
| Gesellschaft] schwingt in ihm mit. Heute prosperiert dieser Nationalstil | |
| geradezu, private Bauherren setzen die steinernen Bögen und labyrinthischen | |
| Muster gerne als bloße Hülle vor ihre Shoppingmalls und Hotels, dass es | |
| schon an Verunglimpfung grenzt. | |
| Zur gleichen Zeit entwickelte sich in allen Staaten der UdSSR diese | |
| leichtfüßige Sowjetmoderne. Café, Sportpalast, Kino – es waren | |
| Freizeitbauten für den kosmopolitischen Sowjetbürger, von Moskau erwünscht, | |
| aber über Moskau hinauswachsend. Denn ihre abstrakten Formen schufen wahre | |
| Freiräume. Räume zum gemeinsamen Dasein, man kann auch sagen: zum | |
| zwecklosen Dasein. Unter den vorschwingenden Dächern des Rossiya-Kinos oder | |
| Schachclubs in Jerewan wurde öffentliches Leben sichtbar, mit der | |
| subversiven Note, die das lose Zusammentreffen von Menschen im Alltag haben | |
| kann. | |
| Doch ihre Zweckungebundenheit wird diesen Bauten heute zum Verhängnis. Als | |
| „unbeschriebene Zonen“ deutet sie der armenische Architekturtheoretiker | |
| und Kurator Ruben Arevshatyan: Sie beschwören keine nationale Identität | |
| herauf wie Israeyelians Denkmäler, und sie besetzen eine diffuse Stelle im | |
| kollektiven Gedächtnis: Diese Architektur vermittelt eine freiheitliche | |
| Vision vom einstigen Leben im Staatskonstrukt der UdSSR, die dieses selbst | |
| nicht einhalten konnte und stattdessen einfach unterging. | |
| ## Architekten ins Arbeitslager verbannt | |
| Mittlerweile hat sich in diese Bauten die Härte der postsowjetischen | |
| Gegenwart gedrängt: Über dem Popliya-Café schwebt längst kein Tischtuch | |
| mehr, dafür wurde es um Etagen und zahlende Kunden aufgestockt. Die | |
| Waagschalen des Rossiya-Kinos sind umwuchert von Verkaufsbuden. Hinter | |
| Spiegelfolie gibt es darin Unterwäsche und Billigkoffer zu kaufen. In den | |
| Kinosälen predigt eine Freikirche den dritten Weg zwischen einstigem | |
| Sozialismus und heutigem Kapitalismus. | |
| Das Rossiya-Kino gehört einem, der sich in den chaotischen 1990er Jahren, | |
| als in Armenien Macht und Eigentum neu verteilt wurden, durchsetzen konnte | |
| – einem Oligarchen, dem Unternehmer und Politiker Khachatur Sukiasyan, bis | |
| zur samtenen Revolution 2018 Parlamentsabgeordneter. | |
| Folgt man Ruben Arevshatyan, so ist es eben diese gesellschaftliche | |
| „Unbeschriebenheit“ ihrer Bauten, die jene zweite Moderne heute so | |
| gefährdet. Der ersten Moderne hingegen wurde die kritische Haltung ihrer | |
| Vertreter zum Verhängnis. Stalin verbannte Architekten wie Gevorg Kochar | |
| und Mikael Mazmanyan ins Arbeitslager nach Norilsk in Sibirien. Erst nach | |
| zwanzigjähriger Unterbrechung sollten die beiden das Erholungszentrum der | |
| Schriftstellervereinigung am gut 100 Kilometer von Jerewan entfernten | |
| Sewan-See vollenden – und es gelang ihnen schließlich eine veritable Ikone | |
| der Sowjetmoderne. | |
| Ein Glaskreisel, aus dem Felshang auf einen Betonfuß brechend, radikal und | |
| elegant. Das Bauwerk blieb auch nach dem Zerfall der UdSSR in öffentlichem | |
| Besitz. Und nur weil es nicht der Willkür des Privateigentums unterliegt, | |
| kann das Zentrum am Sewan-See einem internationalen Denkmalschutzprogramm | |
| unterzogen werden, an dem im Übrigen Ruben Arevshatyan beteiligt ist. | |
| ## Öffentlichkeit fordert Rekonstruktion | |
| Die politische Geschichte Armeniens seit der Republikgründung 1918 hat das | |
| Stadtbild seiner Hauptstadt geprägt. Schon Alexander Tamanyan, der 1924 mit | |
| einer symbolischen Kreisanlage aus der einstigen Karawanenstadt eine neue | |
| Kapitale machte, ignorierte ihre historische Substanz. | |
| Jerewan ist eine Hauptstadt ohne Altstadt, in die sich die Schichten von | |
| Abriss und Neubau aus jeder Dekade eingeschrieben haben – und die Schichten | |
| der Nostalgie. Heute fordert ein Teil der Öffentlichkeit die Rekonstruktion | |
| zerstörter Bauwerke. Der Petrus-und-Poghos-Kirche aus dem 5. Jahrhundert | |
| etwa, die Stalins Antireligionspolitik zum Opfer fiel. | |
| Doch an ihrer Stelle befindet sich nun einmal eines der schönsten Denkmäler | |
| der sowjetischen Moderne: Telman Geworgyan und Spartak Kntekhtsyan fanden | |
| 1964 lediglich eine urbane Nische vor, als sie darin ihre Betonplattformen | |
| zu ebenjenem Freiluftkino Moskau aufspannten, gegen dessen Abriss sich 2010 | |
| Widerstand formierte. | |
| ## Der soziale Wert der Architektur | |
| Es scheint, als träten mit den unterschiedlichen Forderungen nach Erhalt | |
| und Rekonstruktion von Bauten in Jerewan auch die verschiedenen Deutungen | |
| der sowjetischen Vergangenheit in den Wettstreit. Den Protestierenden ging | |
| es nicht um eine Deutungshoheit über die Geschichte. | |
| Vielmehr geht es um den sozialen Wert dieser Architektur. Denn sie zeigt in | |
| einem postsowjetischen Heute, in einem Alltag des | |
| Sich-irgendwie-Durchschlagens und einer Ökonomie des Stärkeren daran, dass | |
| es auch eine Möglichkeit des Gemeinsamseins gab – und dass es sie immer | |
| noch gibt. | |
| 20 Feb 2020 | |
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| Sophie Jung | |
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