# taz.de -- Buch über Harald Szeemann: Ein geistreicher Spekulant | |
> Der Kunsthistoriker Roman Kurzmeyer hat ein spannendes Buch über den | |
> legendären Ausstellungsmacher Harald Szeemann geschrieben. | |
Bild: Harald Szeemann (1933 – 2005) in der Ausstellung „Monte Verita, Mamme… | |
Er war einer, der Skulpturen vom Sockel nahm und sie „nackt“ auf den Boden | |
platzierte. Und zwar so dicht beieinander, dass man sich durch die sonst | |
kathedralweiten Säle einer Kunsthalle geradezu seinen Weg bahnen musste. | |
1969 ließ Harald Szeemann in seiner damals kritisierten und heute | |
legendären Ausstellung „Life in your head: When attitudes become form“ die | |
Glasscheiben von Mario Merz niedrig an der Wand lehnen wie abgestelltes | |
Baumaterial und Barry Flaganans dickes Tau manöver-erzwingend durch gleich | |
zwei Säle legen. | |
Und womöglich ließ Harald Szeemann gar nichts stellen und legen, sondern | |
stellte und legte eigenhändig, gemeinsam mit den vielen der 56 beteiligten | |
Künstler (davon mit Hanne Darboven und Eva Hesse nur zwei Frauen!), die in | |
der Vorbereitung von „When attitudes become form“ die Berner Kunsthalle zum | |
kollektiven Atelier erklärt hatten. | |
Der prägende und 2005 verstorbene Schweizer Kunstmann Harald Szeemann war | |
ein Macher, ein Ausstellungsmacher. Kein Kurator. Der Begriff | |
„Ausstellungsmacher“ hängt ihm geradezu natürlich an, wo auch immer | |
Szeemann erwähnt wird. Das wird er häufig, seit ihm die Fondazione Prada | |
mit der Rekonstruktion seiner legendären Attitudes-Schau 2013 in Venedig | |
und das Getty Institute 2018 mit der Reinszenierung seiner | |
Wohnzimmerausstellung „Großvater: Ein Pionier wie wir“ auch posthum Ruhm | |
bereiten. | |
Doch was macht Szeemann nun zum Ausstellungsmacher und nicht etwa zum | |
Kurator? Der Schweizer Kunsthistoriker Roman Kurzmeyer konnte als sein | |
Mitarbeiter in den achtziger Jahren – Szeemann hatte schon längst den | |
Direktorenposten an der Berner Kunsthalle geschmissen und konzipierte nun | |
frei, als alleiniger Kopf seiner „Agentur für geistige Gastarbeit“ weltweit | |
Kunstausstellungen – diese andere Arbeitshaltung des Kunstmanns verfolgen. | |
## Zeit des Zeigens | |
Denn Szeemann war kein passiver Beobachter der Kunst- und Kunstgeschichte, | |
sondern er griff performativ in ihre Schaffung und Schreibung ein, die | |
Ausstellung war ihm Medium der Kunst. Das hält Kurzmeyer in seinem Band | |
„Zeit des Zeigens: Harald Szeemann, Ausstellungsmacher“ fest. | |
„Wie Aby Warburg war Szeemann, vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein, | |
Anthropologe“ schreibt Kurzmeyer eingangs und deutet an anderer Stelle: „Er | |
verstand sich als Subjekt des Kunstwerks“, es ging ihm um eine | |
„authentische künstlerische Wahrnehmung und deren spezifische | |
Erscheinungsform“. Aus Kurzmeyers Beobachtungen wird deutlich: Ohne | |
Berührungsängste rückte Szeemann so nah wie möglich an Kunstwerk und | |
Künstler heran, über die Epochen und Genres hinweg. | |
Ob er sich nun für ein Renaissancegemälde der Johannesenthauptung von | |
Niklaus Manuel Deutsch interessierte „wegen ihrer persönlichen | |
Mythenbildung durch Befreiung der Symbole aus ihrem religiösen Kontext“, | |
oder durch sein enormes soziales Netzwerk die Entwicklungen der | |
zeitgenössischen Kunst selbst miterlebte, wie in seiner Freundschaft zu | |
Künstler Niele Toroni, dessen Hinwendung zu einer mechanischen Malerei er | |
begleitete. | |
Letztlich war Szeemann ein geistreicher Spekulant, nicht nur über Kunst | |
allein, sondern über Kultur im Allgemeinen. In Alfred Jarry, der als Autor | |
und Theatermacher im Paris des späten 19. Jahrhunderts die absurdistische | |
Nicht-Wissenschaft der Pataphysik ins Leben gerufen hatte, fand er eine | |
Orientierungsfigur. Jarrys Methode, Sammeln von Ideen, Assoziieren und | |
hierarchieloses Gleichstellen von Fakten [1][überführte Szeemann in | |
grenzüberschreitende Ausstellungen]. | |
## Kunst und Kitsch | |
Und er zeigte seine Mutmaßungen mit Bildern jeglicher Art: Kunst und | |
Kitsch, Original und Reproduktion, Werk und Dokument kamen in | |
„A-historische Klanken“ (Museum Boymans-van Beuningen, 1988) oder „Monte | |
Verità Ascona. Die Brüste der Wahrheit“ (Museo Casa Anatta, 1978) zusammen. | |
Szeemann „löste Geschichte pro forma auf, um die ausgewählten Objekte für | |
die synchrone Betrachtung auf eine Ebene zu holen“ schreibt dazu Kurzmeyer. | |
Szeemann selbst war ein manischer Sammler: Als das Getty Institute 2011 | |
sein persönliches Archiv aus der Fabrica Rossa im Schweizerischen Maggia | |
übernahm, sah es sich mit 26.000 Büchern und 750 Meter Dokumenten | |
konfrontiert. | |
Für seine kühnen kulturanthropologischen Projekte ist Szeemann nicht | |
bekannt, vielmehr wurden seine Ausstellungen zur zeitgenössischen Skulptur | |
und Performancekunst Legende. „When attitudes become form“ und die | |
documenta 5 gelten als Meilensteine. Seine reinen Kunstausstellungen, die | |
er meist gemeinsam mit den Künstlern (es werden über die Dekaden zwar mehr, | |
aber nie viele Frauen) in einem Werkprozess anlegte, rückten Wahrnehmung | |
und visuelle Erfahrung in den Vordergrund. | |
So entstanden ungewöhnliche Rauminszenierungen, weder Landschaften, noch | |
Architektur. Kurzmeyer spricht in Anlehnung an Theorien der | |
Kunsthistorikerin Rosalind E. Krauss von „Ortskonstruktionen“, einer | |
erweiterten Form der Bildhauerei. In einer Phase der Kunst, die Szeemann | |
bis in die Achtziger miterlebte und in der Konzept und Material in ein | |
neues Verhältnis traten, ist dann der Schritt vom „Kunst machen“ zum | |
„Ausstellung machen“ nur ein kleiner. | |
21 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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