| # taz.de -- Parlamentswahlen in Armenien: Haushoher Sieg für einen Helden | |
| > Nikol Paschinjan, Anführer der „Samtenen Revolution“, fährt 70 Prozent | |
| > der Stimmen ein. Einige seiner Mitstreiter befürchten eine zu große | |
| > Machtfülle. | |
| Bild: Nikol Paschinjan bei seiner Stimmabgabe am Sonntag in Jerewan | |
| Jerewan taz | Am Sonntagmorgen um 12.55 Uhr, nachdem der Wahlbeobachter | |
| Vahan Vanyan fünf Stunden seine Runden gedreht hat, von den elektronischen | |
| Registriermaschinen zu den weißen Kabinen, hinter denen leises Kritzeln zu | |
| hören ist, bis zur durchsichtigen Plastikbox, in die Menschen die weißen | |
| Umschläge werfen, steht er stramm da wie ein Soldat. | |
| Die Sicherheitsleute haben den hinteren Teil des Raumes geräumt, jetzt ist | |
| nur noch eine Frau im roten Mantel hier, ein dünner Typ neben ihm, der mit | |
| seinem Handy filmt und eben dieser Mann mit grauem Vollbart, der einen | |
| weißen Umschlag in eine Wahlurne wirft. Das ist Nikol Paschinjan, früher | |
| einmal Journalist, seit Mai Premierminister, und, so lässt sich das wohl | |
| sagen, ein Held. | |
| Am nächsten Tag wird sein Mythos noch etwas wachsen, denn sein | |
| Parteienbündnis „Mein Schritt“ gewinnt die Parlamentswahlen in Armenien mit | |
| über 70 Prozent der Stimmen. | |
| Im Frühjahr dieses Jahres demonstrierten in mehreren Städten des 2,5 | |
| Millionen-Einwohner-Landes Armenien Hunderttausende. Sie wollten den | |
| autokratischen Politiker Sersch Sargsjan loswerden, der das Land seit zehn | |
| Jahren beherrschte. Sargsjan war so lange Präsident, bis es laut Verfassung | |
| nicht mehr ging. Mit einem Trick wollte er dennoch an der Macht bleiben: | |
| Premierminister werden, aber die Machtbefugnisse des Präsidentenamtes | |
| mitnehmen. | |
| ## Blumen für Polizisten | |
| Die Bilder der Proteste damals hatten etwas Ikonisches, Kinder stellten | |
| Spielzeugautos und Bauklötze auf den Asphalt und blockierten so die Straßen | |
| der Hauptstadt Jerewan, junge Männer und Frauen schenkten Polizisten Blumen | |
| oder sangen für sie. So fröhlich das aussah, so effektiv war es auch. In | |
| Jerewan, der einzigen Großstadt des Landes, funktionierte de facto nichts | |
| mehr, die Regierung musste sich dem Druck der Straße beugen. | |
| Der frühere Journalist Nikol Paschinjan wurde zum Anführer der Bewegung, | |
| dass ihn Sersch Sargsjan einen Tag ins Gefängnis stecken ließ, half ihm | |
| dabei. Am 8. Mai wurde Paschinjan vom Parlament zum Premierminister | |
| gewählt. Die Proteste gelten im Land heute weithin als „Samtene | |
| Revolution“, als Aufstand der Liebe, bei dem nicht einmal die Glasscheibe | |
| eines Geschäfts kaputtgegangen sei. | |
| Paschinjan hatte etwas geschafft, was vielen im Land unmöglich erschien. Er | |
| hatte die Republikanische Partei herausgefordert, de facto eine Art | |
| Staatspartei, die seit 1999 in der Regierung saß und die ihre Macht über 20 | |
| Jahre lang bis in den letzten Winkel des Landes ausgedehnt hatte. Und er | |
| gewann. | |
| Doch noch immer hatten die Republikaner im Parlament die meisten Sitze, bei | |
| den letzten Wahlen im April 2017 bekamen sie 49 Prozent der Stimmen. | |
| Allerdings mit unsauberen Mitteln. Vorgesetzte drohten Menschen im | |
| Staatsdienst mit dem Verlust ihres Jobs und der Arbeitsplätze ihrer | |
| Verwandten, wenn sie nicht für die Machthaber stimmen würden. So etwas | |
| macht Angst in einem Land, in dem etwa ein Drittel der Menschen unterhalb | |
| der Armutsgrenze lebt. Soldaten sollten die Republikanische Partei | |
| ebenfalls wählen. Oft seien Stimmen früher aber auch gekauft worden, | |
| erzählen Menschen in den Wahllokalen. | |
| ## Hase und Wolf | |
| Deshalb ist Vahan Vanyan, der Wahlbeobachter, heute morgen um 6 Uhr | |
| aufgestanden, hat sich ein paar Brote eingesteckt und ist mit dem Taxi | |
| hierher gefahren. Der 21-Jährige ist für eine Organisation hier, deren Name | |
| sich in etwa mit „Union informierter Bürger“ übersetzen lässt. | |
| Seit kurz vor sieben steht er hier im Wahllokal, einem alten Kindergarten, | |
| an dessen Wand Hase und Wolf gemalt sind, die Figuren einer berühmten | |
| russischen Kinderserie. In den Gängen hängen Weihnachtsterne in Rot, Weiß | |
| und Gold. Bis nachts um zwei wird Vahan Vanyan wohl bleiben müssen, schätzt | |
| er, bis dahin haben sie die Stimmen wahrscheinlich ausgezählt. | |
| Warum macht er das? 15.000 Dram zahlt ihm seine Organisation, sagt Vayan, | |
| das wären etwa 27 Euro. Nicht ganz schlecht bei einem Durchschnittslohn von | |
| 280 Euro. Aber als Programmierer von Webseiten könnte er das Geld auch | |
| anders verdienen. „Dieses Mal müssen die Wahlen gerecht ablaufen“, sagt | |
| Vayan, „deshalb habe ich mich gemeldet.“ | |
| In diesem Jahr hätten sie zum ersten Mal frei gewählt, das sagen hier alle. | |
| Eine Frau, die im Krankenhaus Ultraschallgeräte bedient und die sagt, beim | |
| letzten Mal habe ihr der Chef noch gedroht, sie solle auch ja den Richtigen | |
| ihre Stimme geben. Eine Bäckerin, die mit ihrer kleinen Tochter gekommen | |
| ist, ebenso ein Zöllner, mehrere Pensionäre. | |
| ## So werden wie Nikol | |
| Für den Machtwechsel und dafür, dass er auch noch gewaltfrei geschah, | |
| verehren Paschinjan viele Menschen. In den Schaufenstern mancher Bäckereien | |
| in Jerewan stehen Kuchen mit seinem Konterfei, Schülerinnen versichern, | |
| fleißig lernen zu wollen, um „so zu werden wie Nikol“. Auf Facebook | |
| schreibt ein Vater, er habe seine Tochter mit ins Wahllokal genommen und | |
| ihr erklärt, er wolle dem König des Lichts helfen, gegen den König der | |
| Finsternis zu gewinnen. | |
| Paschinjan sagte zwar, er wolle keinen Persönlichkeitskult, aber | |
| unterbunden hat er dessen teils bizarre Auswüchse auch nicht wirklich. Denn | |
| de facto stellte die Zuneigung vieler Armenier bis zu den Wahlen seine | |
| einzige Machtbasis dar. Er verfügt nicht über die finanziellen Mittel der | |
| Oligarchen. Anders als Premierminister vor ihm hat er keinen militärischen | |
| Hintergrund und keinen besonderen Draht zur Armee. Und bis jetzt hatte die | |
| gegnerische Republikanische Partei eben noch die Mehrheit im Parlament. | |
| Doch das hat ein Ende. Die Republikaner sind bei diesen Wahlen an der | |
| Fünfprozenthürde gescheitert. Von der alles beherrschenden Macht im Staat | |
| zur Nullnummer in nur wenigen Monaten. Wie kann das sein? | |
| „Die Partei wurde von mehreren Gruppen unterstützt“, sagt der Armen | |
| Khachikyan. Der Soziologe, der an zwei Universitäten lehrt, sagt, die | |
| Anhängerschaft der Republikaner sei sehr divers gewesen: „Dazu gehörten die | |
| Vertretern der nationalkonservativen Ideologie, die Eliten, Männer, die | |
| sichergehen wollten, dass ihre Geschäfte nicht gefährdet werden, und die | |
| Menschen, die von der Partei profitieren wollten oder einfach keine | |
| Alternative gesehen haben.“ Von all diesen Gruppen seien de facto nur noch | |
| die Ideologen und ein paar Überzeugte übrig. | |
| ## Das alleinige große Böse | |
| Diese Pulverisierung der ehemaligen Staatspartei ist auch in Paschinjans | |
| Wahllokal und auf den Straßen zu spüren. Alle erzählen gerne, wie sich | |
| Freunde, Bekannte, Kollegen in der vorrevolutionären Zeit dazu zwingen | |
| ließen, für die Republikaner zu stimmen. Man selbst jedoch habe schon | |
| damals anders gewählt. | |
| Dazu trage auch Paschinjans Rhetorik bei, sagt der Soziologe Khachikyan. | |
| „Er macht die Republikanische Partei für alles verantwortlich, er stellt | |
| sie als das alleinige große Böse dar.“ Das stünde allerdings im Widerspruch | |
| zu dem versöhnlichen Image, welches sich die Revolutionäre gegeben haben. | |
| Sie betonen bisher, niemand habe wegen seiner früheren Verbindungen zu den | |
| damals Mächtigen etwas zu befürchten, man wolle keine Rache. Khachikyan | |
| denkt, dass Nikol Paschinjan einen Feind gebrauchen kann. | |
| Nicht alle im Parteienbündnis „Mein Schritt“ halten dieses Vorgehen für | |
| richtig. Diana Gasparjan, Bürgermeisterin von Armeniens viertgrößter Stadt | |
| Etschmiadsin und das erste weibliche Stadtoberhaupt des Landes, findet, es | |
| sei „nötig, der Opposition zuzuhören“. Sie hätte es vorgezogen, wenn das | |
| Wahlergebnis für die eigene Partei nicht so hoch ausgefallen wäre und die | |
| Republikaner im Parlament wären. Sie fürchtet die zu große Macht für „Mein | |
| Schritt“ und setzt eher auf Ausgleich. | |
| Die bisherigen Erfolge der Revolution scheinen vor allem darin zu bestehen, | |
| dass viele versuchen, sich anders zu benehmen als in der alten Zeit. | |
| Polizisten fordern weniger Bestechungsgelder, Autofahrer halten sich mehr | |
| zurück, und alle sind freundlicher zueinander. Doch die großen Probleme des | |
| Landes sind nicht mit revolutionärer Euphorie zu lösen und die Popularität | |
| des Ministerpräsidenten könnte wieder sinken, wenn das auch seine | |
| Anhängerschaft merkt. | |
| ## Niedrige Beteiligung | |
| Ist die Wahlbeteiligung bereits ein Anzeichen dafür? Gerade einmal 49 | |
| Prozent der Wahlberechtigten haben dieses Mal ihrer Stimme abgegeben, damit | |
| ist die Beteiligung so niedrig wie noch nie bei einer Wahl. VertreterInnen | |
| von „Mein Schritt“ versuchen das zu erklären: Damit, dass es keinen Zwang | |
| gegeben habe und keine Geldgeschenke oder mit dem Regenwetter. Diana | |
| Gasparjan sagt: „Die Leute sind müde und erschöpft von der Revolution und | |
| der Zeit danach.“ Außerdem sei das Ergebnis in allen Umfragen klar gewesen. | |
| „Die Wähler dachten vielleicht, dass ihre Stimme nicht zählt“, sagt | |
| Gasparjan weiter. | |
| Fünf Minuten nachdem Nikol Paschinjan mit Frau und Töchtern in einer | |
| Kolonne großer schwarzer Autos davongefahren ist, sitzt Vahan Vanyan auf | |
| einem Holzstuhl vor einem aufgeschlagenen weißen Heft. In das soll er | |
| reinschreiben, was ihm an Verstößen oder Betrügereien auffällt. Er macht | |
| zwei Haken. Jemand hat sich mit einem anderen Dokument ausgewiesen als | |
| seinem Pass. Ein anderer war hier nicht als Wähler registriert und musste | |
| wieder nach Hause gehen. Sonst keine weiteren Vorkommnisse. | |
| Offenlegung: Die Reise nach Armenien wurde von der Organisation EU Friends | |
| of Armenia bezahlt | |
| 10 Dec 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Daniel Schulz | |
| ## TAGS | |
| Armenien | |
| Nikol Paschinjan | |
| Parlamentswahl | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Sowjetunion | |
| Tschechien | |
| Armenien | |
| Armenien | |
| Nikol Paschinjan | |
| Armenien | |
| Armenien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Architektonisches Tauwetter in Jerewan: Relikte der zweiten Sowjetmoderne | |
| Leichtfüßige Sowjetbauten, Verfall und nationales Pathos: eine | |
| architektonische Besichtigung von Armeniens Hauptstadt Jerewan. | |
| Samtene Revolution in Prag: Totgesagte leben länger | |
| Vor dreißig Jahren: In Prag soll Stasi-Mitarbeiter Ludvík Zifčák das Regime | |
| retten. Seine Mission: eine Leiche darstellen. Doch das geht schief. | |
| Trinken in Armenien: Revolutionärer Wodka | |
| Zu Ehren von Armeniens Premierminister Paschinjan wird jetzt Schnaps | |
| gebrannt. Ein Wahlprogramm am Flaschenhals gibt's inklusive. | |
| Gerichtsverfahren nach zehn Jahren: Armeniens Ex-Präsident in U-Haft | |
| Im Jahr 2008 ließ Robert Kotscharjan mehrtägige Proteste gegen | |
| Wahlfälschung brutal niederschlagen. Nun wird er zur Verantwortung gezogen. | |
| Ministerpräsidentenwahl in Armenien: Parlament lehnt Protestführer ab | |
| Nikol Paschinjan war der einzige Kandidat, nachdem der ehemalige | |
| Ministerpräsident zurückgetreten war. Nun ruft der Abgelehnte zum Streik | |
| auf. | |
| Krise in Armenien: Die Revolution öffnet Horizonte | |
| Nach dem Rücktritt des Premiers begehen die Armenier den Jahrestag zum | |
| Gedenken an die Opfer des Genozids von 1915. Politisch ist alles offen. | |
| Kommentar Rücktritt in Armenien: Hut ab! | |
| In nur zwei Wochen hat die armenische Protestbewegung den korrupten | |
| Regierungschef aus dem Amt gekippt. Doch Sargsjan allein ist nicht das | |
| Problem. |