| # taz.de -- Krise in Armenien: Die Revolution öffnet Horizonte | |
| > Nach dem Rücktritt des Premiers begehen die Armenier den Jahrestag zum | |
| > Gedenken an die Opfer des Genozids von 1915. Politisch ist alles offen. | |
| Bild: Auch am diesjährigen Jahrestag, dem 24. April, zogen wieder tausende Arm… | |
| Jerewan taz | Bis in die frühen Morgenstunden war Armeniens Hauptstadt | |
| Jerewan auf den Beinen. Autokorsos schlängelten sich durch die Stadt, die | |
| die Nacht zum Tag machte. Hunderttausende feierten den Rücktritt des | |
| mächtigsten Mannes der Kaukasusrepublik, Sersch Sargsjan. Zehn Jahre hatte | |
| er geherrscht und wollte seine Amtszeit verlängern. Die Verfassung ließ es | |
| nicht zu, so schlüpfte er in die Rolle des Ministerpräsidenten, dessen Amt | |
| er vom Parlament mit den Befugnissen des Präsidenten ausstatten ließ. Erst | |
| vor einer Woche vollzog er diese Volte. | |
| Schon seit zehn Tagen demonstrierte die Opposition dagegen auf dem | |
| Freiheitsplatz in der Hauptstadt und anderen Städten. Von drei Millionen | |
| Einwohnern Armeniens beteiligten sich mindestens hunderttausend bei den | |
| Protestaktionen. | |
| Tanz, Musik und Gesang unterstützt von Hupkonzerten und Armeniens Trikolore | |
| beherrschten in der Nacht das Straßenbild. Das Volk wollte es zunächst gar | |
| nicht glauben. Unerwartet war Sersch Sargsjan am Montagnachmittag | |
| zurückgetreten. Er zeigte sogar Reue und zollte auch dem Herausforderer | |
| Nikol Paschinan Respekt. Die Opposition klagte über Vetternwirtschaft, | |
| Korruption und mangelnde Transparenz. | |
| Dass ein führender Politiker in einem postsowjetischen Staat zurücktritt | |
| und auch noch Fehler eingesteht, ist sehr ungewöhnlich. Beobachter sehen | |
| darin einen Reifeprozess in der kleinen Republik. Die Freude ist riesig. | |
| Auch bei den Ingenieurstudenten Aschot Adschamoglan und Artasch Marguyan | |
| von der Eriwaner Universität. Für sie war der 63-jährige Politiker ein | |
| Gegner, aber kein Feind. | |
| ## Nicht zum Feind erklärt | |
| Das Volk hatte den Rücktritt erzwungen. Dennoch wurde Sargsjan nicht | |
| öffentlich zum Feind erklärt. Die Ingenieurstudenten würden sich für den | |
| Oppositionellen Nikol Paschinjan als Nachfolger an der Staatsspitze | |
| entscheiden. | |
| Doch das ist längst noch nicht ausgemacht. Es wären auch andere Lösungen | |
| denkbar, sagen sie. Ihnen ist Erleichterung anzumerken, jedoch nicht, weil | |
| eine Tyrannei zu Ende geht. So schlimm sei es nicht gewesen, meinen sie. | |
| „Jetzt eröffnet sich jedoch wieder eine Zukunft, an die wir auch glauben | |
| können.“ | |
| Am Mittwoch trifft sich der Vize Sargsjans, Karen Karapetian mit dem | |
| Oppositionellen, um über einen Umbau des Machtgefüges zu verhandeln. | |
| Im Vorfeld war es die Hartnäckigkeit Paschinjans, die Sargsjan zum | |
| Rücktritt bewog. Noch 2008 waren bei Protesten gegen Sargsjans | |
| Präsidentenwahl zehn Demonstranten zu Tode gekommen. Daran erinnerte | |
| Sargsjan, es klang wie eine Drohung, noch am Sonntag, als er sich kurz mit | |
| dem Oppositionsführer traf. | |
| ## Lieder auf dem Freiheitsplatz | |
| Ein neues Blutvergießen am Vorabend des nationalen Feiertages am 24. April | |
| sollte vermieden werden. Die Armenier gedenken an diesem Tag des Genozids | |
| am armenischen Volk im Osmanischen Reich 1915. | |
| Auch die „samtene Revolution“ nahm sich gestern einen Tag frei. Niemand | |
| demonstrierte mehr in der Innenstadt. Einige sangen auf dem Freiheitsplatz | |
| noch Volkslieder, den die Stadtverwaltung von den Resten des zehntägigen | |
| Camps hatte reinigen lassen. Freude war aber überall zu spüren, einander | |
| fremde Passanten gratulierten einander zum „Sieg“. | |
| Zehntausende zogen am Morgen zur nationalen Gedenkstätte auf den Hügeln | |
| Jerewans. Von der gegenüberliegenden Seite glänzte der schneebedeckte | |
| Ararat in der Sonne. Armenien nennt den Gipfel seinen höchsten Berg. Auch | |
| wenn das armenische Wahrzeichen heute auf dem Gebiet der Türkei liegt. | |
| Vertreter der Regierung und der armenischen apostolischen Kirche waren | |
| unter den ersten Pilgern. Am Rande kommentierte eine Frau, wie „volksnah | |
| die Elite sich plötzlich“ aufführe. Kolonnen von Soldaten und uniformierten | |
| jungen Leuten waren unter den Besuchern. Armenien zählt zu einem der | |
| wehrhaftesten Staaten der Welt. | |
| ## Unumstößliches Gesetz | |
| Die Türkei als Bedrohung ist im armenischen Bewusstsein mehr als präsent. | |
| Die Auseinandersetzung um die Enklave Berg-Karabach nach dem Ende der | |
| Sowjetunion ließ alte Ängste und Vorbehalte gegenüber den turksprachigen | |
| Azeris aus Aserbaidschan wieder aufleben. | |
| Bislang herrschte ein unumstößliches Gesetz in Jerewan: Wer in Armenien | |
| regieren will, muss sich Sporen im Konflikt um Karabach erworben haben. | |
| Sersch Sargsjan war ein Kommandeure an der Front in Karabach. Ob vom | |
| nächsten Premier auch eine militärische Vita verlangt wird, ist offen. | |
| 24 Apr 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Klaus-Helge Donath | |
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