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# taz.de -- Forscher in der armenischen Diaspora: 3.000 Scheiben Erinnerung
> Der Kulturanthropologe Yektan Türkyilmaz spürt dem armenischen Trauma des
> Genozids nach – mithilfe seiner Schallplattensammlung.
Bild: Yektan Türkylmaz mit einem alten Schatz aus seiner Sammlung
Nein, von „Genozid“ wollten die ersten armenischen Einwanderer in den USA
bis in die 60er Jahre erst einmal nichts wissen. „Die Gemeinde konnte es
sich nicht leisten, retraumatisiert zu werden“, sagte der
Kulturanthropologe Yektan Türkyilmaz in einem Vortrag, den er im Juli im
Auditorium der Humboldt-Universität in Berlin hielt. „Sie sangen und hörten
lieber von Heldentaten der Armenier, Liebeslieder oder Musik zu
Trinkgelagen.“
Schließlich mussten sie in der Neuen Welt irgendwie funktionieren.
Vielleicht konnten sie in den 1920er und 1930er Jahren auch nicht viel
darüber wissen – zu frisch war damals das Trauma des Völkermords an den
Armeniern, der heute mehr als hundert Jahre zurückliegt. Nach
unterschiedlichen Schätzungen töteten Soldaten des Osmanischen Reichs
zwischen 1915 und 1917 rund 800.000 bis 1,5 Millionen osmanische Armenier,
darunter viele Verwandte der Einwanderer.
Vermutlich fehlt einem da zunächst der Überblick über die Ausmaße: „Damals
gab es das Wort Genozid noch nicht“, fügt Türkyilmaz hinzu. Sein Vortrag
mit dem Titel „Armenians On Records – Music Production from Homeland to
Diasporas“ ist eingebettet in eine Reihe des Berliner Instituts für
Migrations- und Integrationsforschung und der Central and West Asia and
Diasporas Research Networks, die letzte Woche lief.
## Versteckte Hinweise
Und doch tauchen in wenigen armenischen Musikstücken und an unerwarteten
Stellen Hinweise auf das traumatische Erlebnis auf. Da ist zum Beispiel ein
Stück namens „Yar ounei“ (Ich hatte eine Geliebte) des Sängers Garabet
Merjanian von 1928.
Für den Hörer, der des Armenischen nicht mächtig ist, klingt das Stück
heiter bis fröhlich. Die gedämpfte, nur schwer verständliche Stimme wird
begleitet von dem für alte Schallplatten typischen Knacken.
Es überrascht, dass in diesem Liebeslied an einer Stelle Enver Pasa, einer
der Hauptverantwortlichen des Massenmords an den osmanischen Armeniern, mit
Klarnamen auftaucht. Yektan Türkyilmaz staunt auch nach Jahren der
Beschäftigung mit alten armenischen Liedern. Zwar hat der Genozidforscher
Hunderte alter Platten gesammelt – die ersten erschienen um 1900, seine
jüngsten Exemplare um 1951. Doch eines hat er bestimmt nicht erwartet: dass
er nicht mehr als drei Platten entdecken würde, die solche Hinweise auf den
Genozid enthalten.
## In der Türkei in Ungnade gefallen
Schon als Kind sammelte Türkyilmaz Schallplatten – und seit dem Jahr 2000
sammelt er sie systematisch für Forschungszwecke. Mehr als 3.000 Platten
hat er nun beisammen, allerdings nicht nur mit armenischer Musik. Es sind
alte Schallplatten mit Aufschriften auf Englisch, Russisch oder Armenisch.
Die erste armenische Platte ist von 1901 und stammt aus Sankt Petersburg.
Türkyilmaz besitzt einige aus Buenos Aires oder Tiflis, auch eine
kurdische aus Tansania zeigt er.
„Von Anfang an war das ein globales Geschäft“, sagt der Wissenschaftler,
der derzeit Stipendiat ist im Forschungsprogramm „Europa im Nahen Osten –
Der Nahe Osten in Europa“ (EUME) am Forum Transregionale Studien in Berlin.
Türkyilmaz ist in der Türkei in Ungnade gefallen, weil er gemeinsam mit
Hunderten Akademikern einen an Präsident Erdoğan adressierten Appell
unterzeichnet hatte, der zum Frieden mit den Kurden aufrief. Außerdem ist
Türkyilmaz bekannt für seine Forschung zum Genozid an den Armeniern im
Osmanischen Reich.
Seine Plattensammlung hat ihn durch die Geschichte geführt: Türkyilmaz
arbeitete sich durch die reiche Bandbreite armenischer, kurdischer oder
griechischer Musik im Osmanischen Reich und der armenischen, griechischen
oder jüdischen Diaspora der Frühzeit. Und er hat Einblick gewonnen in den
frühen globalen Musikmarkt und seine Geschichte. „Tontechniker nahmen
Musikstücke irgendwo im Osmanischen Reich, in China oder Russland auf,
pressten die Platten in England oder Deutschland und schickten sie zurück
zu den Aufnahmeorten“, stellt Türkyilmaz fest.
## Emil Berliner und die Gramophone Company
Die Entstehung der ersten Platten um die Jahrhundertwende fällt zusammen
mit der Erfindung des Grammofons, das der Deutsche Emil Berliner sich im
Jahre 1887 patentieren ließ. Schon zehn Jahre vorher hatte der US-Erfinder
Thomas Alva Edison und den Fonografen gebaut, den Vorläufer des Grammofons.
„Als Edison den Fonografen erfand, hat er nicht geahnt, dass er die
Musikwelt damit revolutionieren würde“, meint Türkyilmaz. Bekannt wurde der
Fonograf in Istanbul erst im Jahre 1895.
In Istanbul entstanden nach der Jahrhundertwende Plattenfirmen wie Orfeon
Records (1912), deren Besitzer die jüdische Familie Blumenthal war. Andere
Player auf dem osmanischen Plattenmarkt waren die deutschen Firmen Odeon
und Favorit, zudem der Ableger der britischen Firma Gramophone Company.
Diese gehörte der armenischen Familie Gesaryan.
Die allerfrühesten armenischen Musikaufnahmen entstanden laut Türkyilmaz in
Istanbul zwischen 1900 und 1906 durch die Gramophone Company, eine Gründung
von Emil Berliner, und dem Plattenlabel Disque Pour Zonophone. „Armenier
waren im osmanischen Musikgeschäft der Frühzeit überrepräsentiert“, erzä…
Türkyilmaz.
## Istanbul gab den Takt an
Ein berühmter armenischer Komponist war etwa Tatyos Enkserciyan. Tatyos
Efendi, wie Enkserciyan in der Türkei genannt wird, komponierte viele
Stücke der klassischen türkischen Musik und der vielstimmigen Fasil-Musik,
die heute noch gesungen werden. Und dennoch: An die Namen armenischer
Sänger wie Ciwan Efendi, Matmazel Eugenie oder Agopos Efendi erinnert sich
heute kaum jemand mehr.
Ähnlich verhält es sich mit ihren weiblichen Kolleginnen. Im Osmanischen
Reich durften muslimische Frauen nicht als Sängerinnen in Erscheinung
treten – die Nachfrage nach Frauenstimmen gab es dennoch. „Also griff man
auf Griechinnen, Roma-Frauen und ganz besonders auf Armenierinnen zurück,
die auf Türkisch sangen. Armenierinnen hatten im Gegensatz zu Griechinnen
keinen Akzent.“
Das Prinzip der Musikproduktion war damals wie heute die Nachfrage und die
Kaufkraft. So bestimmte der Musikgeschmack der städtischen, westlich
orientierten armenischen Mittelschicht in der Metropole Istanbul, was
damals auf den Plattenteller kam. Armenische Volksmusik wurde entsprechend
diesem Geschmack neu arrangiert.
## „Warum kam ich nach Amerika?“
In Nordamerika war die Entwicklung eine andere. Die Einwanderer aus dem
Osmanischen Reich, darunter viele aus der Arbeiterschicht, trieben ganz
andere Sorgen um. „Warum kam ich nach Amerika?“, fragt sich beispielsweise
der griechische Sänger Achilleas Poulos auf Türkisch in einem Stück aus den
1920ern. Andere beklagen die fehlende Akzeptanz, die Tatsache, dass sie
einfach nicht ankommen in der Neuen Welt, oder Angst haben, im
US-amerikanischen „Melting Pot“ unterzugehen.
„In den Jahren zwischen 1893 bis 1944 waren Musiker, Stücke und
Musikkonsumenten aus dem Osmanischen Reich ethnisch gemischt“, sagt der
Forscher. Das traf ebenso auf die Musikgenres und Sprachen zu. „Die
gemeinsame und verbindende Sprache war Türkisch.“ Erst ab den 1950ern
entstand eine scharfe Trennung nach Ethnien, das heißt, nach armenischer,
griechischer oder türkischer Musik. Dann nämlich schwand die Bedeutung der
gemeinsamen Sprache bei den Nachkommen der ersten Einwanderer.
29 Jul 2018
## AUTOREN
Hülya Gürler
## TAGS
Völkermord Armenien
Musikgeschichte
Sevim Dagdelen
Armenien
Kaukasus
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