# taz.de -- Essayfilm: Die Stimme eines Geists | |
> "The Halfmoon Files" forscht nach einem Inder, der 1916 bei Berlin | |
> interniert war - und findet heraus, wie Ethnografen, Militärs und | |
> Filmemacher zusammenwirkten. | |
Bild: Kriegsgefangene als Objekte ethnografischer Forschung: im Sonderlager "Ha… | |
In ihren Anfängen waren die technischen von den okkulten Medien nicht zu | |
trennen. Versuche, die Stimmen der Verstorbenen in Edisons Phonographen | |
einzufangen, ihre geisterhaften Schemen auf fotografischen Platten in die | |
Sichtbarkeit zu bannen, hat es gerade im fortschrittsgläubigen 19. | |
Jahrhundert zahllose gegeben. Es war ein beliebter Zeitvertreib in | |
bürgerlichen Salons, sich von den fantastischen Seiten der neuen | |
Aufzeichnungsgeräte verführen zu lassen, ihre als magisch empfundenen | |
Leistungen mit dem Kitzel des Unheimlichen zu verbinden. | |
Auch "The Halfmoon Files" von Philip Scheffner versucht, diesem heute nur | |
noch schwach nachwirkenden Faszinationspotenzial der Medien nachzuspüren. | |
Allerdings sucht und findet er seine Gespenster nicht in verrauchten | |
Hinterzimmern, sondern in den genau vermessenen Archiven von | |
Humanwissenschaft und Geschichtsschreibung. Ausgangspunkt ist eine Stimme, | |
die eine weite Reise hinter sich hat: von Indien ins Deutsche Reich, vom | |
Ersten Weltkrieg in die Gegenwart. Diese Stimme hebt mit der Formel an, mit | |
der alle Märchen beginnen: "Es war einmal ein Mann. Er geriet in den | |
europäischen Krieg. Deutschland nahm diesen Mann gefangen. Er möchte nach | |
Indien zurück. Wenn Gott gnädig ist, wird er bald Frieden machen. Dann wird | |
dieser Mann von hier fortgehen." | |
Am 11. Dezember 1916 in einen Phonographentrichter gesprochen, in Wachs | |
geritzt, in eine Schellackplatte gepresst, wanderten diese Worte ins Archiv | |
der "Königlich Preußischen Phonographischen Kommission". Heute lagern sie, | |
eine Ablage unter vielen tausend, im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu | |
Berlin. Aus dem hat Scheffner sie geborgen, um sie wieder in eine Frage zu | |
verwandeln: Ist dieser Mann, den die mit preußischer Gründlichkeit | |
geführten Dokumente als Mall Singh, Kolonialsoldat im Dienste der | |
britischen Armee, identifizieren, schließlich heimgekehrt? Ist es 90 Jahre | |
später möglich, ihn heimkehren zu lassen? | |
"The Halfmoon Files" ist das Ergebnis der mehrere Jahre währenden | |
Beschäftigung Scheffners mit dieser Tonaufnahme, die den Regisseur an die | |
unterschiedlichsten Orte geführt hat. Orte, an denen das Vergangene und das | |
Gegenwärtige, das Fremde und das Eigene wie übereinanderprojiziert | |
erscheinen. So in einer Kneipe in Wünsdorf nah bei Berlin, in der eine | |
Postkarte hängt, die eine Moschee zeigt, die einst in Wünsdorf stand. Das | |
Deutsche Reich ließ sie für die gefangen genommenen Kolonialsoldaten | |
errichten, die dort im Sonderlager "Halbmond" interniert waren. Das Kalkül: | |
Wenn England und Frankreich die Feinde sind, dann sollte es doch gelingen, | |
die muslimischen Soldaten britischer und französischer Kolonien durch gute | |
Behandlung zum kollektiven Widerstand gegen ihre Besatzer zu überreden. So | |
wurde unter Kaiser Wilhelm II. der antikolonialistische Kampf Teil | |
deutscher Kriegsstrategie. | |
Das ist nur eine der geschichtliche Pointen, denen Scheffners Film | |
nachgeht. Sprachforscher und Anthropologen strömten in das Lager, um die | |
Internierten zum Objekt ihrer Studien zu machen, um ihre Körper zu | |
vermessen und ihre Idiome zu katalogisieren. Die Filmindustrie nutzte das | |
"exotische" Personal, um ein imaginiertes Afrika auf heimischem Boden zu | |
inszenieren. Andere Länder mochten mehr Besitztümer in Übersee haben, | |
Deutschland hatte Wünsdorf. Und man musste nicht einmal das Land verlassen. | |
Mit äußerster Behutsamkeit rekonstruiert der Film die Zusammenhänge einer | |
Allianz aus Militär, Wissenschaft und Propaganda. Scheffners Umgang mit | |
seinem historischen Bild- und Tonmaterial ist nicht nur meilen-, sondern | |
geradezu galaxienweit entfernt von den Ton-Bild-Konfitüren, die ein | |
gedankenloses Geschichtsverständnis à la Guido Knopp uns massenhaft im | |
Fernsehen anrührt. Menschen, die unter reichsdeutscher Verwaltung nur | |
Nummern waren, erhalten hier ein Gesicht. Scheffner präsentiert seine | |
Dokumente wie selbständige Individuen und macht den Vorgang der Recherche | |
selbst zum dramaturgischen Leitfaden seines Films. Wer Gespenstern | |
hinterherjagt, wird nicht zu fassen kriegen, was er sucht, er wird auf dem | |
Weg aber mehr finden, als er zu hoffen gewagt hat. | |
"The Halfmoon Files". Regie: Philip Scheffner. Essayfilm, Deutschland 2007, | |
87 Min. Der Film ist Teil eines umfassenderen Ausstellungsprojektes, mit | |
dem Philip Scheffner und die Historikerin Britta Lange die Ergebnisse ihrer | |
Beschäftigung mit dem Lautarchiv präsentieren werden. Am 15. Dezember wird | |
in Berlin, im Kunstraum Kreuzberg im Bethanien, eine Ausstellung gleichen | |
Titels eröffnet, die in Sound- und Filminstallationen, Vorträgen und | |
Veranstaltungen am Gegenstand des "Halbmondlagers" exemplarisch das | |
Spannungsfeld von Politik, Wissenschaft und Geschichtsschreibung ausloten | |
wird. | |
19 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Dietmar Kammerer | |
## TAGS | |
Militär | |
Humboldt-Universität | |
Völkermord Armenien | |
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