Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Armeniens Präsident im Interview: „Wir haben zivilisiert gehande…
> Armeniens Parlament hat den Oppositionsführer Nikol Paschinian zum
> Premier gewählt. Das werde die politische Krise im Land beilegen, sagt
> Präsident Armen Sargsjan.
Bild: Proteste gegen die Regierung Anfang Mai in Jerewan
Das armenische Parlament hat den Oppositionsführer Nikol Paschinjan am
Dienstag zum Regierungschef gewählt. Paschinjan führt seit Mitte April
friedliche Straßenproteste in der Ex-Sowjetrepublik an. Mit der sogenannten
Samtenen Revolution wurde Ministerpräsident Sersch Sargsjan zum Rücktritt
gezwungen. Armeniens Präsident, Armen Sargsjan, äußert sich im
taz-Interview über die Hintergründe der politischen Krise im Land.
taz: Herr Präsident, warum sind die Leute in Armenien so unzufrieden?
Armen Sargsjan: Die alten Menschen sind ärgerlich, weil ihre Pensionen oft
zu niedrig sind. Die jungen Menschen sehen keine Zukunft. Ein großer Teil
des Problems ist die Korruption. Die gibt es überall, aber es geht um den
Maßstab und das Verhältnis der Öffentlichkeit zur Korruption. Viele sind
unglücklich, weil dieses Land eine sehr polarisierte Gesellschaft hat.
Wenn die Bevölkerung so unzufrieden war, warum hat die bisherige Regierung
nicht früher darauf reagiert?
Wenn sie zugehört hätte, wäre es nie zu dieser Situation gekommen. Sie hat
nicht zugehört.
Das heißt, Sie glauben nicht, dass Sie sich zwischen der EU und der
Eurasischen Wirtschaftsunion entscheiden müssen?
Es ist für Armenien sehr wichtig, sich an seine Verpflichtungen gegenüber
der Eurasischen Wirtschaftsunion zu halten. Armenien ist klein und das ist
ein großer Markt. Wer würde sonst in Armenien investieren wollen? Das ist
ein Tor zu einem großen Markt, der Russland, Zentralasien, Weißrussland und
andere umfasst, also um die 200 Millionen Menschen. Gleichzeitig haben wir
ein Abkommen mit der EU und sind damit eine einzigartige Brücke, über die
europäisches Geld, Know-How und europäische Ideen nach Russland,
Kasachstan, Weißrussland fließen können. Das ist eine klassische armenische
Situation, in der wir in der Mitte sind.
Welche Rolle können Sie in diesen Tagen in Armenien spielen?
Meine Rolle als Präsident ist so ähnlich wie die des Präsidenten in
Deutschland. Ich habe keine exekutiven Machtbefugnisse und ich bin
derjenige, der die Einhaltung der Verfassung garantieren soll.
Und wie tun Sie das?
Als die Proteste immer größer wurden, wollte ich sicherstellen, dass weder
die Demonstranten noch die Polizisten das Gesetz brechen. Ich wollte einen
Dialog starten. Und dafür musste ich zu den Demonstranten gehen. Viele
haben ja nicht geglaubt, dass der Präsident zu Fuß gehen kann. Dort habe
ich die Anführer der Opposition getroffen. Mit Nikol Paschinian haben wir
uns geeinigt, dass er sich am nächsten Tag mit Premierminister Sargsjan
treffen würde.
Dort ist Nikol Paschinian dann verhaftet worden.
Er und zwei andere Mitglieder des Parlaments. Das war keine einfache
Situation. Das geschah kurz vor dem 24. April, dem Gedenktag des Genozids,
an dem viele Menschen auf den Straßen sind. Wir mussten erwarten, dass
etwas Dramatisches passiert. Wir haben uns dann getroffen: der
Premierminister Serzh Sargsjan , der Präsident von Nagorni-Karabach und der
Katholikos, das Oberhaupt der Kirche. Wir haben ein Statement verfasst, in
dem es hieß, der 24. solle ein Tag der nationalen Einheit sein. Danach ging
der Vize-Premierminister dorthin, wo Paschinian und die beiden anderen
Abgeordneten inhaftiert waren und sie wurden entlassen. Nach ein paar
Stunden trat dann der Premierminister zurück. Dass ein Politiker dieses
Kalibers nach einer Karriere von 30 Jahren eine solche Entscheidung trifft,
das schätze ich sehr hoch ein. Am Ende des Tages war er ein
verantwortungsvoller Politiker.
Sargsjan hat sich nach seinem Rücktritt entschuldigt. Das war ungewöhnlich.
Wir hatten bei diesen Protesten keine Zusammenstöße. Alle waren sich einig,
dass es Dialog und einen verfassungsgemäßen Prozess geben muss. Das ist die
größte Errungenschaft dieser Bewegung. Und die ist von allen erreicht
worden, den Leuten auf der Straße, Polizisten, Studenten und von den
Politikern. Wir haben gezeigt, dass wir zivilisiert handeln können.
Die Menschen hier setzen viele Hoffnungen in die Proteste und in einen
Machtwechsel, aber die Probleme von Armenien können nicht so einfach gelöst
werden. Sind die Menschen zu naiv?
Nein. Sie hatten den Mut, hinauszugehen und ihre Meinung zu äußern.
Natürlich gibt es jetzt große Erwartungen. Aber das geschieht auch bei
Wahlen in Europa: Man wählt jemanden und es gibt große Hoffnungen in der
Gesellschaft, die entweder realisiert werden oder eben nicht. Das gehört
zur Demokratie.
Glauben Sie, dass die Proteste für die armenische Demokratie heilsam waren?
Jedes rechtmäßige Ausdrücken von Gedanken und Ideen ist gesund. Leider gibt
es ein sowjetisches Phänomen, das immer noch andauert. Die Leute haben
Angst, etwas zu sagen. Und das hat doch in Ostdeutschland auch nicht sofort
geendet, als die Berliner Mauer eingerissen wurde. Die Mauer im Kopf
einzureißen, dauert Jahre. Ich habe als Professor an der Universität in
Moskau Physik und Mathematik unterrichtet, da saßen 150 Studenten und wenn
ich nach der Vorlesung fragte, ob jemand eine Frage habe, sah ich, dass sie
alle Angst davor hatten zu fragen. So ist unsere Gesellschaft aufgebaut.
Wir können uns nicht verständigen, wenn die Menschen weiter Angst vor ihrer
eigenen Meinung haben.
Es gab bereits andere Proteste in Armenien, die oft sehr gewaltsam
abgelaufen sind. Was ist dieses Mal anders?
Vor ungefähr zehn Jahren gab es Proteste nach einer anderen Wahl. Leider
wurden damals zehn Menschen getötet. Die Frage ist, ob wir eine Lehre
daraus gezogen haben. Für den Moment haben wir das wahrscheinlich.
Es gab eine Reihe von Protesten gegen autokratische Regime vor dem
Aufbegehren in Armenien. Gibt es Gemeinsamkeiten zum Beispiel mit dem
Maidan in der Ukraine?
Absolut nicht. Es ist ein großer Unterschied. Allein schon, weil wir ein
vereintes Land haben, was in der Ukraine nicht der Fall war. Es ist anders,
weil wir gezeigt haben, dass wir in unserem Land einen ordentlichen
zivilisierten Dialog führen können.
Und gibt es einen russischen Einfluss bei dem, was gerade passiert?
Lassen wir die Russen beiseite. Wissen Sie, viele Leute sagen auch, es gebe
einen europäischen Einfluss. Aber das hier ist ein armenisches Problem.
Wenn man ein Problem im eigenen Haus hat, kann man nicht seinen Nachbar
oder dessen Schwiegermutter beschuldigen, das bringt nichts.
Dieses Interview wurde während einer Journalistenreise geführt, die die
Organisation European Friends of Armenia organisiert und finanziert hat.
Fragen stellten neben Daniel Schulz noch drei andere Journalisten aus
Deutschland, Italien und Spanien. Das Interview wurde vor der Abstimmung am
Dienstag geführt.
8 May 2018
## AUTOREN
Daniel Schulz
## TAGS
Armenien
Jerewan
Dresden
Armenien
Armenien
Armenien
Armenien
Armenien
Armenien
Armenien
Armenien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausgeladene armenische Sopranistin: Der Sängerkrieg von Dresden
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist in der Semperoper in
Dresden angekommen. Zwei Opernstars streiten.
Trinken in Armenien: Revolutionärer Wodka
Zu Ehren von Armeniens Premierminister Paschinjan wird jetzt Schnaps
gebrannt. Ein Wahlprogramm am Flaschenhals gibt's inklusive.
Gerichtsverfahren nach zehn Jahren: Armeniens Ex-Präsident in U-Haft
Im Jahr 2008 ließ Robert Kotscharjan mehrtägige Proteste gegen
Wahlfälschung brutal niederschlagen. Nun wird er zur Verantwortung gezogen.
Regierungskrise in Armenien: Kämpferin im Rollstuhl
Bei den Protesten gegen den ehemaligen Regierungschef Sargsjan war die
Aktivistin Zara Batojan täglich mit dabei. Jetzt will sie in die große
Politik.
Regierungskrise in Armenien: Eine kleine Revolution
Im Dorf Debed haben sich Schüler, Lehrer und der Schuldirektor landesweiten
Protesten gegen die Regierung angeschlossen.
Massenproteste in Armenien: Der gute Hirte
Armeniens Premier Sargsjan ist nach Protesten zurückgetreten.
Oppositionsführer Nikol Paschinjan kämpft nun für echten Wandel.
Krise in Armenien: Die Revolution öffnet Horizonte
Nach dem Rücktritt des Premiers begehen die Armenier den Jahrestag zum
Gedenken an die Opfer des Genozids von 1915. Politisch ist alles offen.
Kommentar Rücktritt in Armenien: Hut ab!
In nur zwei Wochen hat die armenische Protestbewegung den korrupten
Regierungschef aus dem Amt gekippt. Doch Sargsjan allein ist nicht das
Problem.
Armenischer Dissident Paschinjan: Revolutionär mit Erfahrung
Seit Tagen gehen Menschen in Armenien gegen Premier Sargsjan auf die
Straße. Derweil sitzt Oppositionspolitiker Paschinjan im Knast – erneut.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.