| # taz.de -- Reisebuch über die Geschichte Istanbuls: Die Faszination der Stadt | |
| > Da wir Städte gerade nicht bereisen können, bleibt uns nur, über sie zu | |
| > lesen. Eine literarische Reise in eine 3.000 Jahre alte Schönheit. | |
| Bild: Die Bevölkerung Istanbuls gibt den Takt des Landes vor | |
| Immobilienmakler haben ein geflügeltes Wort: Lage, Lage, Lage! Wie immer | |
| der Zustand eines Hauses oder einer Wohnung aussieht, ist nicht so wichtig. | |
| Entscheidend ist die Lage. Was für Häuser und Wohnungen gilt, gilt erst | |
| recht für ganze Städte. Erfolg oder Misserfolg einer Stadt entscheidet sich | |
| oft daran, wo sie liegt, wie sicher ihre Lage sie vor Angriffen schützt und | |
| wie gut sie an das Netz von Handelswegen, Meeresstraßen und Häfen | |
| angebunden ist. | |
| Für wenige Städte gilt das so sehr wie für die Weltstadt am Bosporus, die | |
| zunächst als Byzantion, dann [1][Konstantinopel] und zuletzt Istanbul jetzt | |
| schon mehr als 3.000 Jahre überdauert. Ihre Lage an der Meerenge zwischen | |
| dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer, ihre sicheren Häfen und ihr Platz | |
| auf einer Landzunge, durch eine gigantische Stadtmauer im Westen | |
| abgeschirmt, schufen die Voraussetzungen für ihre Erfolgsgeschichte. | |
| Das begann in der Antike, wo Byzantion zwar von allen entscheidenden | |
| Händeln wie Perserkriegen und Alexanderfeldzug betroffen war und immer | |
| wieder zerstört wurde, aber egal unter wessen Herrschaft letztlich auch | |
| immer wieder aufgebaut wurde, „da sie strategisch so bedeutsam war“, wie | |
| der deutsche Historiker Malte Fuhrmann in seinem hervorragenden Buch, | |
| „Konstantinopel – Istanbul, Stadt der Sultane und Rebellen“, anschaulich | |
| beschreibt. | |
| Deshalb traf auch der römische Kaiser Konstantin 324 die Entscheidung, das | |
| damalige Byzantion zu seiner neuen Hauptstadt Konstantinopel zu machen, | |
| nachdem er zuvor die Trümmer von Troja an den Dardanellen besichtigt hatte | |
| und danach entschied, dass sein Konstantinopel quasi die Nachfolge Trojas | |
| antreten sollte. | |
| ## „Santa Sofia, stöhnte ein Matrose“ | |
| Doch nicht nur die strategische Lage macht den Erfolg einer Stadt aus. Sie | |
| muss auch durch ihre Schönheit begeistern. In einem jüngst neu aufgelegten | |
| Buch des italienischen Schriftstellers Edmondo De Amicis beschreibt er in | |
| einer berühmten Passage seine Ankunft in Konstantinopel mit dem Schiff vom | |
| Marmarameer aus. Nachdem er sich ein Jahr durch Lektüre auf die Reise | |
| vorbereitet hat, fiebert er nun der Ankunft entgegen. | |
| „Erst war es ein weißer Punkt, die Spitze eines Minaretts, dessen unterer | |
| Teil noch im Nebel verborgen war. Dann, wie ein riesiger Schatten, ragte | |
| ein gewaltiges luftiges Gebäude, noch immer in einen Nebelschleier gehüllt, | |
| vom Gipfel einer Anhöhe in den Himmel und rundete sich herrlich in die | |
| Luft, von vier endlosen Minaretten umgeben, deren versilberten Spitzen in | |
| den ersten Sonnenstrahlen funkelten. Santa Sofia, stöhnte ein Matrose.“ | |
| Doch erst richtig geplättet war Amicis, als sein Schiff die Serailspitze | |
| umrundete und in das Goldene Horn einlief. „Eine Minute, noch eine, wir | |
| umschiffen das Kap – und ich sehe einen unermesslichen Raum voller Licht, | |
| voll unzähliger Dinge und Farben. Konstantinopel! Das immense, erhabene, | |
| wunderbare Konstantinopel! Ruhm der Schöpfung und des Menschen! Diese | |
| Schönheit hätte ich mir nicht träumen lassen!“ | |
| Amicis schrieb sein Reisetagebuch über Konstantinopel 1878. Heute erreichen | |
| wir die Stadt ja leider zumeist über einen ihrer Flughäfen und nicht mehr | |
| mit dem Schiff, aber dennoch hat die uralte Metropole auch heute nichts von | |
| ihrer Faszination verloren, wie Umberto Eco in einem Nachwort zur | |
| Neuauflage beschreibt. | |
| ## Instanbul – Faszination einer Weltstadt | |
| Worin genau diese Faszination besteht, haben Malte Fuhrmann und schon zwei | |
| Jahre zuvor die britische Historikerin Bettany Hughes mit ihren Werken | |
| „Stadt der Sultane und Rebellen“ und „Istanbul. Die Biographie einer | |
| Weltstadt“ versucht herauszufinden. | |
| Beide schauen von Außen, als nicht gebürtige Istanbuler auf diese Stadt, | |
| aber beide sind der berühmten Schönheit auch erlegen, als sie über viele | |
| Jahre dort lebten und arbeiteten. Beide haben versucht, die gesamte lange | |
| Zeitspanne, die die Stadt nun schon existiert, aufzubereiten und ihren | |
| Werdegang nachvollziehbar zu machen – sind dabei aber unterschiedlich | |
| vorgegangen. | |
| Bettany Hughes bleibt auf ihren knapp 1.000 Seiten Stadtgeschichte sehr an | |
| der Chronologie hängen und beschreibt die Geschichte und Geschichten der | |
| Metropole so detailreich, dass man sich manchmal darin verliert. | |
| Anders Malte Fuhrmann. Der Historiker, der am Orient-Institut in Istanbul | |
| geforscht hat, danach an verschiedenen Universitäten der Stadt | |
| unterrichtete und heute am Leibniz-Zentrum in Berlin arbeitet, untersucht | |
| im gesamten Buch eine Fragestellung, die sich wie ein roter Faden durch die | |
| Geschichte zieht: Welchen Anteil hatte und hat die Zivilgesellschaft an der | |
| Entwicklung der Stadt, wie haben die Untertanen, später die Bürger um ihr | |
| Recht am Anteil des Ertrags der Stadt gekämpft, und wie haben sie sich | |
| gegenüber den Mächtigen Gehör verschafft. | |
| ## Zwischen Marmarameer und Bosporus | |
| Herausgekommen ist ein Buch, das so faszinierend ist wie die Stadt, die es | |
| beschreibt. Naturgemäß wissen wir über die 3.000 Jahre zurückliegenden | |
| Anfänge wenig, und auch die Zeit der ersten Jahrhunderte griechischer | |
| Kolonisierung in Byzantion und dem gegenüberliegenden Chalkedon (heute der | |
| asiatische Stadtteil Kadıköy) bleibt bezüglich der Zivilgesellschaft noch | |
| weitestgehend im Schatten der Geschichte. Einen demokratischen Höhepunkt | |
| wie Athen im 5. Jahrhundert v. Chr. erlebte Byzantion nicht. | |
| Zur Weltstadt wurde die Kommune auf der Halbinsel zwischen dem Marmarameer | |
| und dem Bosporus auch nicht durch die Aktivitäten ihrer damaligen Bewohner, | |
| sondern aufgrund ihrer strategischen Lage, die Kaiser Konstantin nach | |
| jahrelangen Kämpfen um die Alleinherrschaft im römischen Reich 324 n. Chr. | |
| dazu bewog, hier seine neue Kapitale aufzubauen, weit weg vom Niedergang in | |
| Rom. | |
| Aus dieser Entscheidung entstand Konstantinopel, ein Kaiserreich, | |
| ideologisch unterfüttert durch das Christentum, das, bei allen Höhen und | |
| Tiefen, sagenhafte 1.100 Jahre überdauerte, bis die Stadt 1453 endgültig | |
| von den Osmanen erobert wurde. Beide Autoren berichten darüber, wie selbst | |
| auf der Straße, unter den einfachen Leuten, leidenschaftlich über | |
| theologische Streitfragen diskutiert wurde. | |
| Jahrhundertelang beschäftigte die Bevölkerung von Konstantinopel, ob Jesus | |
| nun gottgleich oder doch nur gottähnlich sei, der Vater dem Sohn nicht doch | |
| überlegen sei oder Vater und Sohn in einem gedacht werden müssten. Doch | |
| schon damals zeigte sich schnell, dass scheinbar religiöse Fragen vor allem | |
| Machtfragen waren. | |
| ## Der Bruch mit Byzanz | |
| Diverse Abspaltungen der orientalischen Kirchen in Syrien und Alexandria | |
| waren nicht zuletzt der Frage geschuldet, welches Patriarchat das führende | |
| innerhalb der christlichen Welt sein sollte. Und beim sogenannten Schisma | |
| 1054, als die orthodoxe und die lateinische Kirche endgültig getrennte Wege | |
| gingen, war es vor allem der wieder aufsteigende Machtanspruch Roms und des | |
| Westens insgesamt, der zum Bruch mit Byzanz führte. | |
| Neben der Diskussion religiöser Fragen hegte das Volk von Konstantinopel | |
| noch eine weitere Leidenschaft: den Sport. Die Parteien der Wagenlenker, | |
| die im Hippodrom beim Wagenrennen um Geld und Ehre kämpften, hatten in | |
| Konstantinopel fast eine Funktion wie politische Parteien heute. Durch sie | |
| artikulierte sich der Volkswillen, im Hippodrom mussten die Kaiser sich | |
| rechtfertigen. | |
| Der Aufstand der Rennsportparteien im 7. Jahrhundert, der sogenannte | |
| Nika-Aufstand, hätte den großen Justinian beinah hinweggefegt, noch bevor | |
| er den Auftrag zum [2][Bau der Hagia Sophia] vergeben konnte und bevor | |
| seine Generäle fast ganz Italien zurückeroberten. | |
| Wenn auch nicht institutionell verankert, mischte sich die Bevölkerung von | |
| Konstantinopel doch immer wieder ein, wenn es um die Nachfolge bei | |
| Thronwechseln ging und forderte so ihre Beteiligung selbstbewusst ein. Für | |
| die erstaunliche Langlebigkeit des Byzantinischen Reiches dürfte die | |
| Verbundenheit der sich ständig durch Einwanderung erneuernden Bevölkerung | |
| mit ihrer Stadt und damit auch mit dem Reich ein wesentlicher Faktor | |
| gewesen sein. | |
| ## Verlust einer Hauptstadt | |
| Das galt in gewandelter Form auch für das Osmanische Reich. Zahlreiche | |
| Aufstände zeigten, dass auch ein Sultan nicht auf Dauer gegen die | |
| Bevölkerung der Hauptstadt regieren konnte. Anders als Bettany Hughes zieht | |
| Malte Fuhrmann den Bogen dann auch bis in die republikanische Türkei. Mit | |
| Ausrufung der Republik im Oktober 1923 verliert Istanbul die Rolle der | |
| Hauptstadt. | |
| Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde Istanbul von der neuen | |
| Republik verschmäht und vernachlässigt, doch dann setzte sich auch in der | |
| neuen Türkei ihre Lage und ihre Schönheit wieder durch. Zwar wuchs auch die | |
| Kopfgeburt Ankara zu einer Millionenstadt heran, doch die Massen zog es an | |
| den Bosporus. | |
| Schnell wurde Istanbul wieder zum ökonomischen und kulturellen Zentrum des | |
| Landes, und wie in den letzten zwei Jahrtausenden zuvor ist es auch jetzt | |
| wieder die Bevölkerung der Stadt an den Meerengen, die den Takt des Landes | |
| vorgibt. Malte Fuhrmann schließt diesen Kreis mit seiner Schilderung des | |
| [3][Gezi-Aufstands 2013,] der erneut das Ringen um Teilhabe der Istanbuler | |
| Bevölkerung in einem zunehmend autoritären Staat zeigte. | |
| ## Die Erwanderung Istanbuls | |
| Was den beiden großen Stadtbiografien von Fuhrmann und Hughes fehlt, ist | |
| die sinnliche Erfahrung der Stadt, wie Amicis sie für das 19. Jahrhundert | |
| vermittelte. Diese Rolle spielte für das 20. Jahrhundert vor allem der | |
| [4][amerikanische Schriftsteller John Freely.] Freely ist der Autor, der, | |
| zunächst in den angloamerikanischen Ländern, später auch in Westeuropa, | |
| Istanbul neu präsentierte. Der Amerikaner irischer Abstammung kam Anfang | |
| der 60er Jahre als Lehrer an das damals noch amerikanische Robert-College | |
| nach Istanbul. | |
| Zehn Jahre später erschien von ihm und seinem Kollegen Hilary Sumner-Boyd | |
| das Buch „Strolling Through Istanbul“, bis heute der immer wieder neu | |
| aufgelegte Klassiker für die Erkundung der Stadt. Freely hat sich wie viele | |
| nach ihm Istanbul erwandert und machte dabei immer wieder neue Entdeckungen | |
| von verborgenen Zisternen, verfallenen Kirchen und völlig unentdeckten | |
| Quartieren. Viele seiner über 60 Bücher widmete er Istanbul, der Türkei und | |
| dem Osmanischen Reich. | |
| Die Menschen der Stadt stehen bei ihm im Mittelpunkt. So auch in seinem | |
| letzten, posthum herausgekommenen Buch: „Stamboul Ghosts“ eine | |
| Liebeserklärung an schräge Charaktere im Bohemian Istanbul. Das Buch ist | |
| illustriert mit wunderbaren Fotografien des ebenfalls legendären | |
| [5][Istanbuler Chronisten Ara Güler], der 2018, ein Jahr nach Freely, seine | |
| Stadt für immer verlassen hat. | |
| 21 Apr 2020 | |
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| Jürgen Gottschlich | |
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