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# taz.de -- Interview mit der Autorin Aslı Erdoğan: „Die Hexenjagd ist ein …
> Aslı Erdoğan wurde 2016 in der Türkei inhaftiert. Heute lebt sie in
> Berlin. Ein Gespräch über das Leben im Exil, die Haft und den Zustand der
> Türkei.
Bild: „Die Türkei ist in einen Zustand der Rage gedriftet“, sagt die Schri…
Taz.gazete: Frau Erdoğan, Sie leben seit mehr als zwei Jahren im Exil. Wie
sehen Sie die Türkei von Deutschland aus?
Aslı Erdoğan: Ich lebe seit zwei Jahren und vier Monaten nicht mehr in der
Türkei. Wenn Sie hier leben, sehen Sie Dinge aus einer europäischen
Perspektive, ob Sie wollen oder nicht. Ich habe mich desensibilisiert und
angefangen, mich mehr über das Geschehen in meinem Land zu wundern. Es gibt
Momente, in denen ich mit Grauen auf die Türkei blicke und nicht glauben
kann, was passiert. Ich glaube, der Schleier der Gewöhnung, der sich über
einen legt, wenn man mittendrin ist, hat sich gelüftet. Was mich aber am
hoffnungslosesten fühlen lässt und am meisten schmerzt, ist die Beziehung
des Staats zu den Menschen. Diese Beziehung hat sich zu keiner Zeit
geändert. Der Staat war stets repressiv und despotisch. Aber die Probleme
der heutigen Ära lassen sich mit denen früherer Perioden nicht vergleichen,
den Militärputsch von 1980 eingeschlossen. Selbst wenn es in der Türkei zu
einem Regierungswechsel kommt, glaube ich nicht, dass alles in Ordnung
kommen wird. Wenn das Rechtssystem einmal so ramponiert ist, dauert es
Jahrzehnte, bis es wiederhergestellt ist.
Seit wann leben Sie in Berlin?
Erst seit Kurzem, ich bin in der ersten Januarwoche hergezogen. Davor habe
ich in Frankfurt gelebt. Ich bin mit einem Stipendium der Internationalen
Schrifstellervereinigung PEN nach Berlin gekommen. Eigentlich sollte ich
schon im Oktober kommen, aber der Umzug musste wegen meiner
gesundheitlichen Probleme und einer schweren Operation verschoben werden.
Haben Sie sich in Berlin schon eingelebt ?
Noch ist alles halb hier. Ich konnte meine Angelegenheiten noch nicht
regeln. Es würde nicht der Wirklichkeit entsprechen, wenn ich sagen würde,
ich habe mich eingelebt. Am 22. Januar hatte Luk Percevals Opern-Adaption
von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ mit Texten aus meinem ersten
Erzählband „Der wundersame Mandarin“ in Genf Premiere. Ich war bei den
Proben dabei. Deshalb habe ich noch nicht recht verstanden, wie das Leben
in Berlin ist.
Fühlen Sie sich hier sicher?
Absolut nicht. Wer vom türkischen Staat zur Zielscheibe gemacht wurde, kann
sich nicht sicher fühlen. In Genf wurde ich in einem gepanzerten Auto
gefahren. In meinem Hotel wurde ich sogar von meinem Zimmer zum Frühstück
vom Personenschutz gebracht. Auch in Frankfurt gab es Zeiten, in denen ich
unter Personenschutz stand. Aber ich habe die Angst schon längst
überwunden. Sollen sie mich schlagen oder umbringen – es schert mich nicht.
Seit ich 22 war, trage ich die Möglichkeit des Suizids mit mir herum. Es
ist mir nie gelungen, das Leben zu lieben. Aber ich weiß, dass das Leben
heilig ist. Deshalb kann ich mit der gleichen Leichtigkeit auf dieser wie
auf jener Seite sein. Was ich spüre, ist eine andere Art von Angst. Es ist
eher das Gefühl von: Wenn mir das angetan wird, was wird Millionen von
anderen Menschen angetan?
Vor Kurzem waren Sie einem Shitstorm ausgesetzt, nachdem ein Interview mit
Ihnen unter dem Titel „Den Türken wird beigebracht, die Kurden zu hassen“
erschienen war. Was war passiert?
Auf das Interview in der italienischen Zeitung La Repubblica gab es keine
Reaktionen. Das eigentliche Problem entstand eine Woche später, als die
belgische Zeitung Le Soir das Interview auf ihrer Webseite veröffentlichte.
Das Interview ist gleich, nur der Titel wurde verändert. Die Aussagen im
Titel und in den gefetteten Zwischentiteln waren nicht von mir. Ich habe
weder gesagt, den Türken werde von der Grundschule an beigebracht, die
Kurden zu hassen, noch habe ich gesagt: „Außer der HDP sind alle Parteien
im Parlament, die CHP eingeschlossen, Terroristen.“
Was haben Sie wirklich gesagt?
Ich habe gesagt, dass das Bildungssystem in der Türkei chauvinistisch und
nationalistisch ist. Und: „Alle Parteien im Parlament, die CHP
eingeschlossen, neigen dazu, kurdische Organisationen als Terroristen zu
bezeichnen.“ Es kann ein Übersetzungsfehler gewesen sein. Ich nehme es
nicht so wichtig. Es war ohnehin ein sehr kurzes Interview. Schließlich
wurde ich nicht für etwas zur Zielscheibe gemacht, was ich gesagt habe,
sondern für etwas, was ich nicht gesagt habe. Diese Hexenjagd ist ein
Zeichen unserer Zeit. Systeme, die zum Faschismus neigen, nähren
Denunziation. Inzwischen sind wir mit der feigsten Art von Gewalt, der
Hexenjagd konfrontiert. Die Türkei ist in einen Zustand der Rage gedriftet.
Die Staatsanwaltschaft warf Ihnen 2016 Terrorpropaganda vor und forderte
bis zu neun Jahre Haft. Als Beweismittel wurden die Artikel angeführt, die
Sie für die prokurdische Zeitung Özgür Gündem geschrieben haben. Darin
schreiben Sie unter anderem über die Menschen, die während der
Ausgangssperre im kurdischen Cizre in Kellern verbrannt wurden.
Die Staatsanwaltschaft behauptet, dass ich getötete PKK-Kämpfer*innen „als
Zivilist*innen dargestellt“ habe. Dabei habe ich kein einziges Wort zur PKK
geschrieben. Meine Texte waren über den Tod von Zivilist*innen. Es gibt
internationale Berichte darüber, dass Hunderte Zivilist*innen bei den
Ereignissen in Sur, Nusaybin und Cizre gestorben sind. Ich weiß nicht, wer
von den Getöteten Zivilist*in war und wer PKK-Kämpfer*in. Und offen gesagt
interessiert es mich auch nicht. Sie können Menschen nicht bei lebendigem
Leib verbrennen, egal wer diese Menschen sind. Ich habe das Recht, aus
einer menschlichen Perspektive zu sprechen. Sie sind es, die gesetzeswidrig
handeln, nicht ich.
Trotzdem wurden Sie ins Gefängnis gesteckt. Wie erging es Ihnen in den
viereinhalb Monaten in Haft?
Im Gefängnis habe ich nicht nur Schlechtes erlebt. Ich habe auch schöne
Erinnerungen. Ich kann sogar sagen, dass das Gefängnis der Ort ist, an dem
ich mich zum ersten Mal in meinem Leben nicht allein gefühlt habe. Ich habe
sehr enge und unvergleichbare Freundschaften geschlossen. Es ist ein
bisschen wie im Krieg. Vielleicht romantisiere ich das, aber im Gefängnis
liegen die Gefühle blank. Zum Beispiel der Begriff der Würde. Den Satz „Die
Würde der Menschheit wird die Folter besiegen“ habe ich tausendfach gehört.
Für mich war das ein leerer Slogan. Aber im Gefängnis kommt ein Punkt, an
dem man gezwungen ist zu begreifen, wie grundlegend und wertvoll es ist,
mit menschlicher Würde zu leben. Ein Teil von dir sagt: „Nein, das
akzeptiere ich nicht.“ Das ist etwas Heiliges.
In Europa werden Sie als Autorin geschätzt, in der Türkei werden Sie als
„Vaterlandsverräterin“ wahrgenommen. Woran liegt das?
2005 wurde ich vom französischen Literaturmagazin Lire als eine der 50
Schriftsteller*innen ausgezeichnet, die die Literatur im 21. Jahrhundert
prägen werden. Mein Buch „Tagebuch des Faschismus“ wurde in zwölf Sprachen
übersetzt, ich wurde unzählige Male mit Literatur- und Friedenspreisen
ausgezeichnet. In meinem Land hat dieselbe Literatur dazu geführt, dass ich
wegen Aufstachelung zu Hass und Widerstand angeklagt wurde. In meinen
Texten habe ich mit den begrenzten Möglichkeiten einer Literatin versucht,
eine Brücke des Friedens zu bauen. Ich habe versucht, zur Entstehung eines
universalen Gewissens beizutragen. Sollte die Türkei nicht stolz darauf
sein? Aber das Problem ist nicht nur die Repression der Regierung. Dass
Frauen in der Türkei nicht ernstgenommen werden, hat nicht mit diesem
Regime angefangen. Das ist auch nicht nur ein Problem der Rechten. Wenn Sie
eine Frau in der Türkei sind, müssen Sie entweder sehr alt werden oder
sterben, um sichtbar zu sein.
Aus dem Türkischen von Elisabeth Kimmerle
5 Feb 2020
## AUTOREN
Erk Acarer
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Literatur
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