# taz.de -- Botaniker über Hamburgs Flora: „Jede Pflanze hat ihre Geschichte… | |
> Kaum jemand kennt Hamburgs Flora besser als Hans-Helmut Poppendieck. Ein | |
> Gespräch über Blüten und die Konkurrenz in der Großstadt. | |
Bild: Ist in die Arbeit mit den Pflanzen „reingerutscht“: Hans-Helmut Poppe… | |
taz: Herr Poppendieck, warum regen sich in Hamburg so viele Menschen über | |
eine Pflanze namens Schierlings-Wasserfenchel auf? | |
Hans-Helmut Poppendieck: Der Schierlings-Wasserfenchel ist aufgrund seines | |
begrenzten Verbreitungsgebiets sehr selten. Und die Pflanze ist [1][durch | |
europäisches Recht geschützt.] Das bedeutet, dass sowohl die Hansestadt | |
Hamburg als auch die Bundesrepublik zum Schutz verpflichtet sind. Aber | |
diesen Schutz haben eben die verschiedenen Elbvertiefungen immer wieder | |
infrage gestellt. Und somit hat der seltene Schierlings-Wasserfenchel auch | |
immer wieder diese Elbvertiefungsvorhaben infrage gestellt. | |
Was ist denn so besonders an der Pflanze? | |
Jede Pflanze ist besonders und hat ihre eigene Geschichte. Sie steht auch | |
nicht für sich selbst, sondern im Fall des Schierlings-Wasserfenchels für | |
das gesamte Tide-Elbgebiet. Deshalb gibt die Pflanze Anzeichen: Geht es ihr | |
gut, ist das ein Indiz für das funktionierende Ökosystem des Gebiets. | |
Geht es ihr heute gut? | |
[2][Nicht besonders.] Am Hauptvorkommen in Heuckenlock und in Schweenssand | |
haben wir stabile Populationen, ansonsten ist es ein bisschen prekär. Es | |
braucht Bereiche, die keine starken Strömungen haben. Durch die | |
Elbvertiefung hat sich aber das ganze Strömungsregime verändert, sodass es | |
diese beruhigten Bereiche nur noch selten gibt – westlich von Hamburg fast | |
gar nicht mehr. Allerdings: Die Art überhaupt zu finden, ist ja schon | |
schwierig. | |
Das ist Detektivarbeit? | |
Ja, das ist immer noch eine ziemliche Detektivarbeit, sie kommt nur in | |
kleinen Bereichen vor dem Schilf vor. Ich kannte die Pflanze seit den | |
1980er-Jahren. Sobald man anfängt, sich mit Hamburgs Pflanzenwelt zu | |
beschäftigen, ist das eine Art, die man unbedingt einmal gesehen haben | |
will. | |
Packt Sie dann der Entdeckergeist? | |
Auf jeden Fall! Wenn ich so eine Pflanze gefunden habe, dann bin ich schon | |
begeistert. Man sucht die Standorte mitunter stundenlang ab und wenn man | |
die Pflanze tatsächlich findet, ist das ein richtiges Erfolgserlebnis. | |
Was für eine Flora hat Hamburg? | |
Hamburg ist schon ganz spannend. Eigentlich ist die Flora des norddeutschen | |
Tieflandes nicht so fürchterlich artenreich. Bei uns überlagern sich aber | |
mehrere Trends. Erstens ist Hamburg eine Großstadt mit ganz eigener Flora, | |
wie das für Großstädte typisch ist. Zweitens ist dies hier | |
Süßwasser-Tidegebiet mit vielen Besonderheiten und dann haben wir, | |
drittens, ja die Flora der Elbe, die sich wie an einem Band entlang des | |
Flusses von Mitteldeutschland bis nach Hamburg zieht. Und so kommt dann | |
doch eine relativ große Artenvielfalt zustande. Wir haben das vor einigen | |
Jahren mal in einem großen Pflanzenatlas zusammengetragen … | |
… der einige hundert Seiten dick ist. | |
Da sind auch viele beteiligt gewesen, überwiegend ehrenamtlich. Angefangen | |
haben wir 1995, etwa 2008 waren die Arbeiten abgeschlossen und erschienen | |
ist er dann 2010. Nun veraltet so etwas aber langsam. Wir haben jetzt ein | |
neues Programm aufgelegt, in der wir die Standorte der seltenen Arten | |
aufsuchen, die Mengen erfassen und versuchen, das den Behörden und | |
Planungsbüros zur Verfügung zu stellen. Wir wollen ja, dass die | |
Pflanzenstandorte erhalten bleiben. | |
Wie begann Ihre Leidenschaft für Pflanzen? | |
Ich bin nicht von frühester Jugend dabei, sondern im Studium dazu gekommen. | |
Ich komme aus Ahrensburg und hatte an der Uni Hamburg einen Job als | |
studentische Hilfskraft bekommen zu einem Kurs über das Bestimmen von | |
Pflanzen. Eine Aufgabe war es, Pflanzenmaterial dafür zu beschaffen, und so | |
bin ich in und um Ahrensburg immer durch die Feldmark gezogen, habe | |
Pflanzen gesammelt und montags zum Bestimmen mit in den Uni-Kurs genommen. | |
Um 1970 konnte man so was noch machen. So bin ich da reingerutscht. | |
Und dann wurden Sie „Kustos für Phanerogamen“. Was ist das für ein Titel? | |
Kustos bedeutet Wächter. Derselbe Wortstamm wie in Küster. Gemeint ist | |
aber: Leiter einer wissenschaftlichen Sammlung, in diesem Fall das | |
Herbarium der Universität. Und da war ich zuständig für Phanerogamen. Also | |
für die höheren Pflanzen, die Blüten haben und sich sozusagen öffentlich | |
fortpflanzen. Kryptogamen hingegen sind die Pflanzen, die es im Verborgenen | |
treiben, weil sie keine auffälligen Blüten haben. Also Moose und Farne. | |
War diese Arbeit im Herbarium nicht einsam? | |
Einerseits war das sicher eine einsame Arbeit. Man ist umgeben von 1,8 | |
Millionen getrockneten Pflanzen. Andererseits hat man aber auch Kontakt zu | |
vielen Menschen. Das Herbarium wird genutzt von Forschern, die auf der | |
Suche nach einer Pflanze sind oder ein fachliches Problem haben. Und durch | |
die Pflanzen ist man ja auch mit der Außenwelt verknüpft und ebenso durch | |
die Kontakte mit den Menschen. Das ist vergleichbar mit der Arbeit in | |
Archiven. | |
Welches ist Ihre Lieblingspflanze? | |
Immer die, mit der ich mich gerade beschäftige. Zu meinen Lieblingen | |
gehören vor allem Frühblüher in Parks, die sogenannten Stinzenpflanzen. Das | |
sind Pflanzen, die an alten Gutshöfen und Parks vorkommen. Vielleicht | |
kennen Sie die Husumer Krokusse. Die kommen eigentlich aus Italien, wurden | |
im 17. oder 18. Jahrhundert beim Husumer Schloss angesiedelt. Spektakulär | |
sind auch die Lauenburger Winterlinge oder die Wildtulpen in den | |
Vierlanden. Gute Gründe, sich aufs Frühjahr zu freuen. | |
Was zeichnet die Flora von Großstädten, dieses doch eigentlich großteils | |
versiegelten Raumes, aus? | |
In der Großstadt haben Sie viel mehr sogenannte Störstellen. Das machen | |
sich manche Pflanzen zunutze. Die Störung schafft denen die Konkurrenz vom | |
Hals. Pflanzen, die in diese Nischen und Lücken stoßen, können sich dann | |
gut vermehren. | |
Welche zum Beispiel? | |
Die Mäusegerste ist zum Beispiel eine charakteristische Stadtpflanze. Die | |
kommt in Innenstädten vor, wo man nicht alles vollständig zugepflastert | |
hat. Zum anderen ist die Kleinteiligkeit der Stadt charakteristisch. Die | |
Grundstücke sind viel kleiner und die Nutzung ist sehr unterschiedlich. | |
Andererseits hat aber jede Großstadt ihre Eigenheit. Der Umgang der | |
Menschen mit ihrer wilden Flora ist unterschiedlich. Ich war bei einem | |
Kongress in Berlin vor Weihnachten, da ist die Herangehensweise anders. | |
Berlin hat eine größere Vorliebe für wilde Pflanzenwelt, in Hamburg muss es | |
immer alles gepflegt sein. | |
Das sind jetzt aber Klischees über die beiden Städte. | |
Man merkt das ja in Berlin etwa am Gleisdreieck oder im Schöneberger | |
Südgelände, das sind wilde städtische Urwälder, die man unter Naturschutz | |
gestellt hat – in Hamburg bislang undenkbar. Der Vollhöfner Wald am | |
südlichen Hafenrand, um den jetzt gestritten wird, ist so ein unberührter | |
städtischer Urwald. Für Hamburg eine einmalige Chance, eine urbane Wildnis | |
zu schützen und zu erhalten. | |
Was denken Sie, wenn Sie von der drohenden Zerstörung solcher Flächen | |
hören? | |
In einer Großstadt herrscht große Konkurrenz um die wenigen freien Flächen. | |
Wir haben uns mehrmals schon überlegt, ob aber nicht so etwas wie ein | |
Konzept „Naturschutz auf Zeit“ eine Idee wäre. Wir schützen eine Fläche … | |
zehn Jahre, anschließend wird es bebaut. Am Ende ist es aber eine Frage, | |
wie viel Fläche eine Stadt unversiegelt haben will. | |
Seit wann kommen bestimmte Pflanzen in Hamburg vor? | |
Manche erst seit wenigen Jahren. Es gibt immer wieder Pflanzen, die neu | |
einwandern. Andererseits gibt es beispielsweise Pflanzen, die | |
mittelalterliche Flurgrenzen markieren. Die haben sich da bis heute | |
gehalten. Und dass man in einer Großstadt wie Hamburg, wo sich so viel | |
verändert hat, auch Pflanzenvorkommen mit 2.000 oder 3.000 Jahre alter | |
Kontinuität hat, ist Wahnsinn. | |
Was sind das für Pflanzen? | |
In diesem Fall ein ganz kleiner unscheinbarer Frühjahrsblüher, der | |
Scheiden-Goldstern. Eine ganz rätselhafte Pflanze. Wir wissen gar nicht, | |
wie die da hingekommen ist, weil sie gar keine Samen macht. Dafür gibt es | |
immer noch keine gute Erklärung. | |
Kam und kommt denn viel über den Hafen rein? | |
Also, dass vom Schiff direkt etwas in die Umgebung kommt, wie man sich das | |
vielleicht vorstellt, war eher nicht so. Wohl aber an den Umschlagplätzen | |
und Verarbeitungsbetrieben. Zum Beispiel bei der ehemaligen Wollkämmerei in | |
Wilhelmsburg fanden sich ganz interessante Pflanzen, weil dort die Samen, | |
die sich in der Wolle verhakt hatten, aussortiert und im Zweifel einfach | |
über den Zaun geworfen wurden. Auch das direkte Hafengebiet war botanisch | |
früher sehr interessant, aber letztlich hat die Umstellung auf den | |
Container das beendet. Heute ist die Hafenbotanik ziemlich langweilig. | |
Da merkt man aber, dass es eine enge Verbindung von menschlicher Geschichte | |
und der Geschichte der Pflanzenwelt gibt, oder? | |
Es ist immer eine Verbindung aus Kulturgeschichte und Naturgeschichte. Zum | |
Beispiel stellte sich uns irgendwann mal die Frage, ab wann man in Hamburg | |
von einer typisch städtischen Flora sprechen kann. Da war unsere Antwort, | |
dass man ab etwa 1850 davon sprechen kann. Denn in Hamburg lässt sich das | |
auch an einem historischen Ereignis festmachen: dem großen Brand von 1842. | |
Danach musste man den ganzen Schutt loswerden und er wurde nach Hammerbrook | |
und Steinwerder gebracht. Erstmals hat man damit großflächig künstliche | |
Böden geschaffen und damit Lebensräume für neu eingeführte Pflanzen. | |
Eine andere, aktuelle Verbindung ist der Klimawandel. Sehen Sie ihn schon? | |
Es gibt interessante Anzeichen: Seit 2014 beobachten wir, anfangs zufällig, | |
Schilf auf Mittelstreifen in den städtischen Straßen. Das kennen wir ja | |
sonst nur am Rande von Teichen. Und eigentlich vermehrt es sich bei uns | |
nicht so leicht, weil es Wärme zur Keimung braucht. Seit 2014 haben wir | |
aber immer relativ warme Frühjahre gehabt. In diesen gepflasterten | |
Mittelstreifen gibt es Moospolster und die halten die Feuchtigkeit. Jetzt | |
gibt es durch die Klimaveränderungen auf den wohl trockensten | |
innerstädtischen Standorten Feuchtpflanzen. Das ist natürlich paradox, aber | |
wahnsinnig spannend. | |
15 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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