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# taz.de -- Buch über Natur in der Stadt: Was die Wurzeln wissen
> Die Natur zu beherrschen, davon hat jede Zeit ihre eigenen Vorstellungen.
> Das verhandelt ein Buch am Beispiel von Berlins ältestem Park.
Bild: Das „Kulturforum“ in Berlin, Blick auf die Museen
Die Stadt ist ein Dschungel. Füchse nisten sich zwischen Beton und
Kanaldeckel ein, in der Brache neben dem Schloss, wo bald die Bauakademie
wieder aufgebaut werden soll, sind die Birken schon zu einem engen Dickicht
verwachsen. Alles wuchert und wimmelt. Vor allem im Tiergarten. Denn die
Parkanlage mit einer Fläche von 210 Hektar ist seit Jahrhunderten ein
lebendes, bebendes Biotop.
Die beiden Architekt:innen Sandra Bartoli und Jörg Stollmann sehen diese
grüne Insel in Berlin als einen Spiegel der vielschichtigen Zusammenhänge
von Natur, Mensch, Technik, Denkmal und gebauter Umwelt. Mit ihrer
Publikation „Tiergarten, Transgressing Landscape (This Obscure Object of
Desire)“ haben die beiden eine diverse Aufsatzsammlung zusammengestellt.
Sie verhandelt an diesem ältesten Park Berlins, was Stadt in einer
Gegenwart sein kann, in der sich gerade die Grenzen zwischen Zivilisation
und Wildnis auflösen.
Dass der Tiergarten mit seinen barocken Anlagen und dem Landschaftsgarten
auf eine Zeit zurückgeht, in der die Natur noch als beherrschbar begriffen
wurde, arbeitet die Architekturistorikerin Alessandra Ponte heraus. Sie
zieht Verbindungslinien zwischen den Berliner Gebrüdern Humboldt zu André
und Gabriel Thouin, die in Frankreich auf der Wende vom 18. zum 19.
Jahrhundert mit landwirtschaftlichen Experimenten das Klima und ganze
Ökosysteme als einen gestaltbaren Gegenstand begriffen.
## Von pinkelnden Hunden lernen
Doch der Verwissenschaftlichung und Nutzbarmachung des Raums entzieht sich
die Natur letztlich wieder. Ponte stellt dies am Beispiel von Karl von
Uexküls Beobachtungen pinkelnder Hunde im Hamburger Zoo dar. Es sind
domestizierte Tiere in einer künstlichen Umgebung, und sie schaffen sich
dennoch ihre eigene duftende Hunde-Umwelt, in die wir als Menschen nicht
eintreten können. Uexküls Hundepisse-Kartografie aus den 1930er Jahren ist
vielleicht so etwas wie eine frühe Miniaturstudie zum Anthropozän.
Der Begriff des Anthropozän fällt im Buch erstaunlicherweise nicht. Dennoch
gruppieren sich viele der 15 Beiträge um das Phänomen, wie sich
Menschengemachtes und Natur zu einem neuen biologischen System
verschränken. Die düster-vernebelten Fotoessays, in denen Elisabeth Ficelli
pink blühende, eigentlich gar nicht in Mitteleuropa heimische Rhododendren
unter gigantischen Buchen ablichtet oder Christopher Roth einen streunenden
wie träumenden Hund auf den algenbedeckten Parksee blicken lässt, zeigen
den Tiergarten als einen Ort, an dem Künstliches und Natürliches wieder zu
einem eigenen biologischen Kosmos ineinander gewachsen sind.
Auch weil dieser enorme Park seit seiner Wiederaufbereitung nach dem Krieg
von Willy Alverde in den 1950er Jahren lange dem Wildwuchs überlassen
wurde, wie Sandra Bartoli in ihrem Aufsatz betont. In ihrer Wiederaneignung
des Menschengemachten folgt die Natur jedoch keiner einheitlichen Logik,
sondern besteht letztlich aus einer Vielzahl von Intelligenzen. Der Biologe
Stefano Mancuso berichtet von der Individualität der Pflanzen, ihrer
Anpassungsfähigkeit in urbanen Gebieten, ihrer Sprache durch ein fein
sensorisches Wurzelwerk.
## Was sich Singvögel erzählen
Singvögel hingegen, beschreibt der Geograf Chris Wilbert am Beispiel von
Nachtigallen bei London, entwickeln ein Narrativ um einen Ort, um ihn zu
kolonisieren und ihm dann aber lange treu zu bleiben. Flora und Fauna
rücken durch die jüngsten Forschungen näher an uns heran, auch in ihnen
erkennen wir Gesellschaften und Individuen.
Und so fordert der Philosoph und Künstler Fahim Amir in seinem Aufsatz über
die erstaunliche Existenz von Termiten in Hamburg, die vor über 100 Jahren
mit den Kolonialschiffen aus Namibia in die Hafenstadt kamen und sich in
den unterirdischen Kabel- und Heizleitsystemen einnisteten, die Trennung
von Natur und Zivilisation total zu überwinden. Stattdessen solle man ein
Verständnis von der Welt der vielen Spezies mit flüssigen Identitäten
entwickeln.
Den Tiergarten hat sich auch die Stadtbevölkerung angeeignet. Es sind nicht
die angelegten Orte wie das kürzlich rekonstruierte Venusbecken, an denen
die Leute grillen, cruisen, Yoga machen oder ihre Kinder in den
Waldkindergarten schicken, sondern es sind die Orte der Wildnis, die als
Freiräume wahrgenommen werden.
Vernachlässigung als Empowerment. Sandra Bartoli fordert für die Stadt
daher Orte des Zerfalls, wo Pflanzen, Tiere, Mensch und Gebautes sich
selbst überlassen sind. Die Bauakademie sollte also besser nicht
wiederaufgebaut werden.
5 Aug 2019
## AUTOREN
Sophie Jung
## TAGS
Natur
Stadtnatur
Landschaftsgarten
Tiergarten
Termiten
Singvögel
Hunde
Politisches Buch
Schwerpunkt Utopie nach Corona
Großstadt
Singvögel
Stadtplanung
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