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# taz.de -- Neues Album von Jaimie Branch: Gegen die Dämonen
> Die US-Trompeterin Jaimie Branch ist ein Jazz-Star. Ihre neue Platte „Fly
> or Die II: bird dogs of paradise“ bündelt Wut und Schmerz.
Bild: Wut ohne Bitterkeit: US-Jazztrompeterin Jaimie Branch
Es gibt bestimmt hundert Wege, einen Text über das neue Album der Chicagoer
Künstlerin Jaimie Branch zu beginnen. Man könnte losstürmen, mit Pauken und
Trompeten, Volldampf, direkt zur Nacherzählung springen.
Was hört man wann und warum? Jedoch: Bei einem Werk wie „Fly Or Die II:
bird dogs of paradise“ fühlt sich das reichlich platt an. Selbst das Intro
führt nur langsam an die Platte heran: 3:57 Minuten, 237 Sekunden –
vermeintlich verschenkte Zeit. Und doch wäre das Album ein gänzlich anderes
ohne dieses Innehalten vor der Eruption. Also auch hier heißt es noch
einmal: rekapitulieren, unter welchen Bedingungen die heute 36-jährige
Jaimie Branch Musik produziert.
Groß geworden in Brooklyn unter chaotischen familiären Umständen, zog sie
nach einem Musikstudium Anfang der Nullerjahre nach [1][Chicago].
Mittlerweile ist sie wieder zurück in Baltimore an der Ostküste. Noch so
ein harter Ort. Vorher, nachher und zwischendrin sammelte sie
Drogenerfahrungen, was euphemistischer klingt, als es war.
[2][Branch] hatte es schwer, was man auch hören kann, wenn man mag.
Schmerz, Empörung, Groll, Wildheit, all das übersetzt die Trompeterin wie
kaum jemand anderes im zeitgenössischen Jazz derzeit in eine hörbare
(Mit-)Erfahrung. So gut sie ihr Instrument im Griff hat, so durchdringend
schmetternde Laute der Qual entlockt sie dem Blechhorn immer wieder. Ein
glasklares, brutales Spiel, das Gänsehaut wachsen und aufhorchen ließ, als
sie 2017 mit „Fly or Die“ debütierte.
## Wenn die Trompete Weltenzorn ausdrückt
So vorsichtig das Intro des aktuellen Zweitlings auch ist, so sicher darf
man sich sein, dass es nicht ewig so weitergeht. Die großartigen Momente –
auch von „Fly Or Die II“ – sind jene, in denen es kracht und die Trompete
Weltenzorn ausdrückt, wie es in der Vergangenheit etwa ein [3][Ornette
Coleman] konnte, gleichzeitig gar nicht so verbittert. Man hört förmlich,
wie Branch anspielt: gegen die eigenen Dämonen, gegen die Geister der
Vergangenheit und Gegenwart, gegen die erdrückenden Seiten der USA und auch
gegen die Bedingungen im Jazz, gegen Akteure, die Frauen gängeln, häufig
nicht ernst nehmen, Playtime verweigern.
Ein Glück also, dass sie mit dem Chicagoer Label International Anthem ein
Zuhause gefunden hat. Das dafür sorgt, dass der frische weibliche Wind der
Szene, der sich derzeit in London und New York entwickelt, auch am Lake
Michigan ankommt.
Rund um International Anthem tummeln sich nicht nur grandiose Künstler wie
Makaya McCraven und Ben Lamar Gay, sondern auch die Saxofonistin [4][Matana
Roberts], die Pianistin Angel Bat Dawid und selbstverständlich die
Trompeterin Jaimie Branch. An gleicher Stelle, in der Windy City, hatten
sich in den 1960ern Musiker*innen zur Association for the Advancement of
Creative Musicians (AACM) zusammengeschlossen. Ein Perspektivenwechsel,
eine neue avantgardistische Welle und die Gründung des Art Ensemble of
Chicago waren die Folge.
## Eigenwilliger Klang, unheimliche Stimmung
Es ist eine Tradition, die Jaimie Branch gut steht. Eine Angst vor der
Erblast ist allerdings nirgends in ihrem Sound zu spüren. Das mutige Intro
darf dafür gern als Beweis herangezogen werden. In diesem Falle leistet es
sogar mehr. Vorsichtiges Pizzicato-Spiel auf dem Cello, dasselbe Zupfen an
den Saiten des Kontrabasses: Ein Teppich wird geknüpft, auf dem sich
sogleich der Sound einer Mbira – ein Lamellofon aus Simbabwe, der Kalimba
sehr ähnlich – breit macht und mit ihrem eigenwilligen Klang zwischen
Percussion und Zither einen neuen Weg bereitet.
Branch tritt erst dann mit ihrer Trompete auf den Plan. Gemeinsam mit ihrer
Band, die aus dem Drummer Chad Taylor vom Chicago Underground Duo, dem
Bassisten Jason Ajemian und dem Cellisten Lester St. Louis besteht, erzeugt
sie eine unheimliche Stimmung, die von Obertönen und Dissonanzen geprägt
ist und alsbald wiederum in einem Schnalzen endet.
Es ist dieser eigenwillige, eigenartige Modus, den Branch sowohl auf dem
Debüt „Fly Or Die“ als auch hier auf erstaunliche Art zu konservieren und
konzentrieren weiß. „Fly Or Die II“ ist dennoch kein durchweg spielerisches
Werk. Schon der zweite Track, „prayer for amerikkka Pt. 1 & 2“, ist die
große politische Ansage, eine wütende Abrechnung mit der US-Politik der
letzten Jahre, die in der Wahl Trumps und einem rassistischen Rollback
mündete.
## Tirade gegen rassistische Gewalt
Branch spricht (ja, sie singt selbst) hier von einem gespaltenen Land, das
sich aufbaute durch Genozid und Sklaverei, sie fährt fort mit einer Tirade
auf geschichtliche Ereignisse wie etwa die Prügel, die der junge Schwarze
[5][Rodney King] 1991 in Los Angeles einstecken musste und dadurch eine
schlichtweg segregierte Gesellschaft offenbarte, die noch Jahrzehnte nach
der Aufhebung der Segregation People of Color benachteiligte. Mehrere
Todesfälle durch Polizistenhand in den letzten zehn Jahren zeigen, dass
sich die Lage der afroamerikanischen Bevölkerung kaum verbessert hat.
Es ist das aggressive Kernstück des neuen Albums von Jaimie Branch, das
versucht, im Sinne eines Gebets auf solche Ereignisse und Missstände
hinzuweisen und auf Erlösung zu hoffen. So atemberaubend das Album
insgesamt und das Stück auch ist, offenbart sie hier leider einen Makel,
denn der parolenhafte, gleichwohl lyrische Text kann schlicht nicht mit der
musikalischen Qualität mithalten.
Branchs Trompete schwingt sich in fanatische Höhen auf und erzählt als
Mariachi von den Verletzungen der hispanischen Community; ohne große Worte
zu verlieren, legt sie hier den Finger in die Wunde, und einem wird klar,
dass die alten Fehler wieder neu begangen werden. In schnöden Kennwörtern
ist das aber kaum wiederzugeben.
## Grollende Basswellen
Darüber hinaus macht sich die geniale Komponistin Branch kleiner, als sie
muss. Dass es auch anders geht – ohne Text –, zeigt sie auf großen Teilen
des Albums. Wenn sie etwa mit ihrer Band zu einer Gemeinschaft verschmilzt
und sich durch swingenden Jazz und New-Carnival-Sounds spielt. Wenn ihre
Trompete zur Waffe wird, die sowohl im lateinamerikanischen Stakkato-Ansatz
als auch im dissonanten Überblasen Wut und Wucht entwickelt. Wenn
Basswellen von Cello und Synthesizern grollen und ihre Trompete durch
Dopplung und Delay nicht mehr vereinzelt steht, sondern voller Kraft zum
letzten Gefecht bläst. Wenn Livesequenzen vom Publikum mitaufgenommen
werden und man merkt, dass sich hier eine Gesellschaft nicht mehr an all
der Ungerechtigkeit beteiligen möchte.
Genau dann ist „Fly Or Die II“ ein Wunderwerk, ein mitreißendes,
umwerfendes Stück Jazzgeschichte im Entstehen. Umso weniger versteht man
das schon labil-triviale Abschlussstück „love song (for assholes and
clowns)“.
Solche Parolen machen Branch andererseits menschlich, was auch sympathisch
ist. Denn wie häufig ertappt man sich selbst dabei, nur noch Vulgäres über
diesen oder jenen zu denken. Es ist ein Wermutstropfen, dass Jaimie Branch
ihr eigenes Werk dermaßen unterminiert. Aber auch ein Grund zur Freude:
Anscheinend ist noch Luft nach oben.
12 Nov 2019
## LINKS
[1] /Chicago/!t5016987
[2] https://www.youtube.com/watch?v=a6ceFg0-JJM
[3] /Nachruf-auf-Ornette-Coleman/!5203684
[4] /Coin-Coin-Three-von-Matana-Roberts/!5019384
[5] /Roman-ueber-L-A-Riots-von-1992/!5273478
## AUTOREN
Lars Fleischmann
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