# taz.de -- Neues Album von Mhysa: Tanz auf den Ruinen | |
> „Nevaeh“, das zweite Album der jungen US-Produzentin Mhysa, sehnt sich | |
> nach dem R&B der 90er Jahre. | |
Bild: Mit Gospel und R&B per du: Mhysa | |
E. Jane kommt aus Maryland. E. Jane ist genderfluid und möchte | |
ausschließlich mit dem Pronomen „They“ angesprochen werden. They, sie, | |
dritte Person Plural, soll anzeigen, dass verschiedene | |
Geschlechteridentitäten in der einen Person E. Jane zusammenkommen. Eine | |
von ihnen bringt beim britischen Label [1][Hyperdub] dieser Tage ihr | |
zweites Album raus: Sie nennt sich Mhysa und das Werk heißt „Nevaeh“. | |
Mhysa ist das Gefäß, in dem die Erfahrungen der afroamerikanischen Frau (E. | |
Jane wurde nach ihrer Geburt als biologische Frau markiert) gebündelt | |
werden; das erste Mal wurde das Gefäß 2017 auf dem Debüt „fantasii“ | |
ausgeleert. Im Interview mit dem US-Magazin Rhizome erklärte Mhysa diesen | |
(bloß auf den ersten Blick) komplizierten Zusammenhang so: „Es ist der Teil | |
von mir, den weiße Institutionen versucht haben zu ersticken. Ich hole ihn | |
nur raus, wenn wir uns ‚safe‘ fühlen; vornehmlich an Orten, wo schwarze | |
Frauen sie selbst sein dürfen.“ | |
Das Album „Nevaeh“ bedarf auch eines Safe Space, denn es liefert einen | |
intimen Einblick ins Seelenleben der Künstler*in, die es gleichwohl als | |
Reflexion über das Leben schwarzer Frauen und femmes anlegt. So zitiert sie | |
das Spiritual „When the Saints Go Marching In“, das ihre Großmutter ihr | |
vorgesungen hat, als sie noch klein war. | |
## Klassiker des Gospel | |
Der [2][Gospelklassiker] führt zurück auf die Baumwollfelder der | |
US-Südstaaten, wo Versklavte in der unbarmherzigen Zwangsarbeit kaum mehr | |
Hoffnung hatten als die Erlösung durch das Jüngste Gericht. Das Lied taucht | |
gleich zweimal auf dem Album auf. Einmal als A-cappella-Zwischenspiel von | |
wenigen Sekunden Länge und dann als Finale, das über vier Minuten nur von | |
ihrer leicht-verhallten Stimme und außerweltlichen Glocken getragen wird. | |
Es ist eines der beiden Schlüsselstücke des Albums. Das andere stellt die | |
ebenso skelettierte Version des Rap-Klassikers „If I Ruled the World“ von | |
NAS und Lauryn Hill dar. Als „Breaker of Chains“ wiederholt sie die Zeile | |
„If I ruled the world / I’d free all my sons / Black diamonds and pearls / | |
If I ruled the world“ im Loop – begleitet wird dies von Rasseln und | |
vorsichtig gesetzten Overdubs. Beide Songs sind Wegmarken der | |
afroamerikanischen Musikgeschichte. | |
Aber sie haben auch aktuelle Bedeutung als Wehklagen gegen den erstarkten | |
Rassismus, etwa bei Aufmärschen von „White Supremacists“ und der | |
andauernden Polizeigewalt gegen die schwarze Bevölkerung. Doch das | |
musikalische Programm von „Nevaeh“ erschöpft sich nicht in Symbolpolitik. | |
Kurze Soundskizzen wie „Float“ geben sich die Klinke in die Hand mit | |
Future-R&B-Stücken wie „before the world ends“. Synth-Pads und HiHats in | |
Trapgeschwindigkeit bieten hier die Grundierung für den hinreißenden | |
Gesang. | |
## Auf der Suche nach Lust | |
Mhysa erzählt von der Öffnung des Körpers beim Sex, von der Suche nach | |
Lust, der Angst vor Verletzung. So entsteht eine Korrespondenz mit der | |
eigenen Ästhetik. Genauso wenig wie das Thema des Lieds verlässt die | |
Bedroom-Produktion das eigene Schlafzimmer; offensives Nach-außen-Treten | |
ist nicht vorgesehen. Angreifbarkeit würde das Stück, würde das Album | |
zerreißen. | |
So versteckt sich Mhysa um ihrer selbst willen im heimischen Safe Space. | |
Konterkariert wird dies mit der Single-Auskopplung „Sanaa Lathan“. Eine | |
fiese Bassline wird zum Teppich für ihren Crunk-Vortrag: „Like I’m from the | |
south /Cause I’m from the south“ gibt sie hier zum Besten und ähnelt dabei | |
Rappern der Szenen von Houston und New Orleans. R&B, Crunk, Nas, Lauryn | |
Hill. | |
Mhysa huldigt dem R&B-Sound der Neunziger, die bei ihr zum Sehnsuchtsort | |
werden. Das erinnert an den englischen Produzenten [3][Burial], dessen | |
Dubstep-Tracks stets die Glücksversprechen der glorreichen Rave-Zeiten | |
reflektiert haben. Wo ehedem Fanfaren warteten, sind heute nur noch | |
verlassene, heimgesuchte Orte zu finden, wie der englische Kultursoziologe | |
Mark Fisher einmal postuliert hat. | |
Das Gleiche gilt für „Nevaeh“: Nach den Riots in Los Angeles 1992, | |
ausgelöst durch die brutale Verhaftung von Rodney King, verbesserte sich in | |
den Folgejahren die Situation vieler schwarzer Amerikaner. Auch Black Music | |
erlebte eine Blütezeit, Künstler*innen wie Brandy und Aaliyah, aber auch | |
Usher und R. Kelly wurden zu Hoffnungsträger*innen einer goldenen neuen | |
R&B-Ära. Ihre Songs kündeten von neuen Freiheiten, von der Normalität des | |
Alltags, einem emanzipierten, stolzen Schwarzseins in der US-Gesellschaft. | |
Mhysa behauptet nicht ganz zu Unrecht, von dieser Zeit seien heute nur noch | |
Ruinen übrig: Aaliyah starb bei einem Flugzeugabsturz und über R. Kelly | |
redet seit seinen pädophilen Verfehlungen niemand mehr. Diese Ruinen weidet | |
Mhysa heute für spannende Musik aus und produziert eines der | |
interessantesten Alben der letzten Zeit. | |
17 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
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