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# taz.de -- „Coin Coin Three" von Matana Roberts: Im befreiten Raum
> Panoramischer Sound-Quilt: Die US-Amerikanerin Matana Roberts bearbeitet
> Themen wie „Race“, „Class“ und „Gender“ in aufregenden Klangmuste…
Bild: Künstlerisch ein Gegenpol zur historischen Position eines Malcolm X: Mat…
Wenn Matana Roberts die Bühne betritt, verstummt das Publikum sofort.
Vielleicht liegt es an ihrer einnehmenden Erscheinung, vielleicht an der
Erwartungshaltung der Anwesenden, die sich darauf einstimmen, schon bald in
die Erhabenheit von Roberts’ Improvisationen eintauchen zu dürfen. Während
ihrer Shows erzählt die 37-Jährige Geschichten, sie kreischt, macht Witze,
geht in sich, ist woanders und plötzlich wieder voll da, spricht das
Publikum an. Und doch, man kann es nicht leugnen, hat sie etwas Unnahbares
an sich.
Denn Roberts ist keine Entertainerin, sie ist experimentelle Künstlerin.
Ja, sie spielt Saxofon und Klarinette, erzeugt Klänge mit ihrer Stimme,
doch ist es schwierig, sie eindeutig als Musikerin zu bezeichnen. Umso
schwieriger sogar nach der neuen Veröffentlichung „Coin Coin Three: River
Run Thee“, auf dem zwölf mehrschichtige Solostücke nahtlos
ineinanderfließen. Während die beiden Vorgänger noch an Free Jazz, Blues
und Folk erinnerten, ist das neue Werk mehr Installation als Album.
Noisepassagen überrollen asymmetrische Spoken-Word-Ebenen. Aus der Ferne
erklingt eine Klarinette, und gerade als ein Refrain besänftigen will, wird
er von einer bebenden Synthesizerwelle verschluckt – was bleibt, ist
Unbehagen. „River Run Thee“ ist der dritte Teil von Roberts’ ambitioniert…
„Coin Coin“-Langzeitprojekt, das am Ende aus insgesamt zwölf Teilen
bestehen soll. Mit der Serie hat sich Roberts vorgenommen, die Themen Race,
Class und Gender im Kontext der US-Gesellschaft historisch zu behandeln.
Als „panoramischen Sound-Quilt“ bezeichnet Roberts ihre Arbeitsweise. Die
Künstlerin schreibt nicht einfach Songs, sie recherchiert und dokumentiert
anhand von Klängen. Für „River Run Thee“ etwa reiste sie in den Süden der
USA, um Klangaufnahmen auf verlassenen Plantagen zu machen. Dazu rezitiert
sie Gedichte von Familienangehörigen, Bekenntnisse eines Sklavenhändlers
oder lässt die US-Nationalhymne anklingen.
Den Titel „Coin Coin“ entlehnte Roberts Erzählungen aus ihrer Kindheit. Es
ist der Spitzname von Marie Thérèse Métoyer, einer befreiten Sklavin, die
im 18. Jahrhundert eine unabhängige Kommune für Schwarze in Louisiana
gründete – in einem verwandten Kollektiv wuchs Roberts’ verwaister
Großvater auf.
Roberts selbst, Tochter von zwei früheren radikalen Aktivisten, ist in
Chicagos South Side aufgewachsen, ungefähr zur selben Zeit, als Barack
Obama dort als Direktor einer Bürgerorganisation tätig war. Und so zieht
sich das Bewusstsein darüber, dass ihre Ahnen Teil eines ganz anderen
Systems waren (oder eben nicht waren) als sie selbst, wie ein roter Faden
durch Roberts’ Werk. In Interviews betont die Künstlerin das Privileg, in
einem „Post-Obama America“ zu leben. Die Sprachlosigkeit angesichts der
Tatsache, dass im Weißen Haus heute eine Frau wohnt, deren Vorfahren
Sklaven in den Südstaaten waren.
## „Taten, die sich wiederholen“
Und nicht zuletzt die Unteilbarkeit von schwarzer und US-Identität – was in
Anbetracht der Diskussionen über die Rapperin Azealia Banks, die die
schwarze Musiktradition nur schwarzen Musikern vorbehalten sieht, ein nicht
unbedeutendes Statement ist. „Unsere Geschichte können wir nutzen, um
anderen zu zeigen, wie man mit Dingen umgehen kann, mit denen auch wir
schon umgehen mussten und vielleicht immer noch müssen“, sagte Roberts
letztes Jahr dem britischen Musikmagazin The Wire. „Ich spreche vor allem
von Immigration, LGBT-Rechten und Menschenhandel. Es gibt Beispiele
historisch dokumentierter Taten, die sich lediglich wiederholen.“
In diesem Sinne werden das Trauma der Sklaverei und der Kampf der
Bürgerrechtsbewegung in „Coin Coin“ nicht wiederbelebt, sondern mit dem
Zugang der Oral History neu erörtert. Es ist ein politisches Projekt, ja,
aber auch ein höchst persönliches, das in keinem Moment steril wirkt. Das
bluesige Saxofon, die repetitiven Folkmelodien und die Naturaufnahmen
erzeugen ein Gefühl von Intimität, das auch die eher verstörenden Passagen,
die dunkleren Ecken in Matanas Raum erhellt.
Auch die Erschießungen junger Afroamerikaner und die folgenden Proteste in
Ferguson und anderen US-Städten im vergangenen Jahr sind präsent auf „River
Run Thee“. So wie in dem Stück „As Years Roll By“ das gesungene „Amen�…
endlos nachhallt, so hallt der Schmerz der kollektiven Erinnerung in
aktuellen Ungerechtigkeiten wider.
Und doch sagt Roberts im Interview mit The Guardian Sätze wie: „I feel
sorry for George Zimmerman“, und begreift den Mann, der Trayvon Martin
erschoss, als Produkt einer Gesellschaft, von der auch sie selbst ein Teil
ist. Diese ganz eigene Radikalität von Roberts kann man als Gegenpol zu der
Position von Malcolm X begreifen, dessen Todestag sich an diesem Wochenende
zum 50. Mal jährt. Und doch ist es seine Stimme, die die 46-minütige
Performance auf „River Run Thee“ schließt mit den versöhnlichen Worten: �…
am not a racist.“
22 Feb 2015
## AUTOREN
Fatma Aydemir
## TAGS
Chicago
Barack Obama
Trayvon Martin
Jazz
Sklaverei
Pharrell Williams
Umweltschutz
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