# taz.de -- Kanadisches Avantgarde-Label: Ein Herz für musikalische Bastarde | |
> Das kanadische Label Constellation Records ist eng mit Montreal | |
> verbunden. Aber Macher und Künstler setzen auf Alternativstrukturen statt | |
> Heimatliebe. | |
Bild: Die Cellistin Rebecca Foon produziert für Constellation Records Soundfl�… | |
„Allgemein gesagt orientieren wir uns an Grundsätzen, laut denen das | |
Erwirtschaften von Gewinnen und ökonomisches Wachstum so ziemlich an | |
letzter Stelle steht“, sagt Ian Ilavsky. | |
Als Ilavsky und sein Kollege Don Wilkie das Label Constellation Records | |
1997 in Montreal ins Leben riefen, hätten sie sich niemals träumen lassen, | |
fünfzehn Jahre später auf fast 100 Veröffentlichungen blicken zu können, | |
vier Angestellte zu beschäftigen und von Fans kultisch verehrte Bands wie | |
Thee Silver Mt. Zion, Tindersticks oder Godspeed You! Black Emperor zu | |
veröffentlichen. | |
Das kanadische Label hat als unabhängiges Label über mehr als eine Dekade | |
überlebt, indem es sich den Mechanismen des Kapitalismus verweigert, es | |
trotzt den Krisen der Musikindustrie ebenso wie jenen des Kapitalismus. | |
Constellation macht alles anders, als man es von der Musikindustrie gewohnt | |
ist: Die Betreiber konzentrieren sich, bis auf ausgewählte Ausnahmen wie | |
Vic Chesnutt, Carla Bozulich und Matana Roberts, auf die lokale Szene | |
Montreals, schließen mit den Musikern keine Verträge ab, sondern setzen auf | |
Vertrauen und gegenseitigen Respekt. | |
## Den Mechanismen des Kapitalismus verweigert | |
Lange Zeit verweigerten sie sich auch Vertriebsstrukturen und produzieren, | |
aller Krise des Tonträgers zum Trotz, liebevoll und aufwändig gestaltete | |
CD- und Vinylversionen ihrer Alben. | |
Gleichzeitig ist ihnen wichtig, die eigenen Abhängigkeiten, Arbeitsweisen | |
und Probleme als unabhängiges Label nicht unter den Tisch fallen zu lassen. | |
Im Interview führt Ian Ilavsky aus: „Wir sind seit langem der Meinung, dass | |
die Produktivkräfte hinter der Kunst Bestandteil der Rezeption unserer | |
Musik sein sollten. Wie wurde dieses Album aufgenommen, welche Bedingungen | |
führten zu dieser Aufnahme?“ | |
Daher wird immer wieder die Bedeutung des Umfelds herausgestellt; die der | |
lokalen Konzertveranstalter, Druckereien und Gestalter und natürlich vor | |
allem der Künstler selbst, die trotz aller musikalischen Unterschiede eines | |
eint: der Mut zum Experiment. | |
„Man muss spüren, dass die Musik etwas aussagt, sich jenseits von Trends | |
bewegt und Genregrenzen überwindet. Im Idealfall zeigt sie einen Weg auf, | |
der zwischen den Genres passierbar ist“, sagt Ilavsky. | |
## Tradition und Bruch mit der Tradition | |
Alle Musiker des Labels vereint die Auseinandersetzung mit musikalischen | |
Traditionen von Punk und Hardcore über Jazz bis hin zu Klezmer bei | |
gleichzeitigem Bruch mit diesen Traditionen. Echos der Vergangenheit | |
treffen auf die Gegenwart, werden in eine Musik transformiert, die sich nur | |
schwer in herkömmlichen Begriffen fassen lässt. | |
Jazz trifft auf Neue Musik, Gospel auf Postrock. Beim Black Ox Orkestar | |
tritt Klezmer hinzu, bei Godspeed You! Black Emperor Hardcore, bei Vic | |
Chesnutt Americana, bei Sackville Country und Folk, bei Land of Kush | |
Psychedelic und Arabische Musik. | |
Niemals aber bleibt Musik in ihrer Reinform bestehen, immer wird sie | |
verfremdet, erweitert, unterwandert. Der Sound ist Gegenstand eines | |
Prozesses, Teil der Auseinandersetzung der Bandkollektive mit Musik und | |
Gesellschaft. Diese prozessuale Offenheit prägt auch die politische Seite | |
der Labelphilosophie. Musiker wie auch Labelbetreiber entstammen linken | |
Strukturen: von der Hausbesetzer- bis zur Antiglobalisierungsszene Kanadas. | |
## Zitate und Anspielungen auf Denker | |
Entsprechend sind Texte, Musik und Liner-Notes der Constellation-Bands | |
durchsetzt von Zitaten und Anspielungen auf radikale Denker und Literaten, | |
Aktivisten und Musiker, mit deren Traditionen sie sich auseinandersetzen: | |
von Michail Bakunin, Steve Reich und Emma Goldmann über Max Roach, Gershom | |
Scholem und Crass bis hin zum Jüdischen Antifaschistischen Komitee, Karl | |
Marx, Lawrence Ferlinghetti und dem Schwarzen Block. | |
Auf dieser Basis suchen die Musiker permanent nach Positionen zu der sie | |
umgebenden Gesellschaft, die mal krude und problematisch daherkommen, wie | |
etwa in der Unterstützung einer „Boykott Israel“-Kampagne durch die | |
Labelbetreiber 2010, mal radikal wie die Bauanleitung zu einem | |
Molotowcocktail auf dem Cover zum Mini-Album „Slow Riot for New Zerø | |
Kanada“ von Godspeed You! Black Emperor und mal hochkomplex wie beim | |
mittlerweile aufgelösten Black Ox Orkestar. | |
Diese Band hat an Klezmersounds orientierte Musik auf Jiddisch komponiert, | |
sich dabei aber nicht auf die Sichtung vorhandenen Materials beschränkt, | |
sondern versucht, vor dem Hintergrund der persönlichen musikalischen Jazz- | |
und Hardcore-Sozialisation einen neuen Zugang zu osteuropäischen | |
Klezmertraditionen zu finden. | |
Diese Wurzelsuche verstanden sie gleichzeitig als politischen Akt. „Wir | |
inszenieren jiddische Kultur als eine lebendige Alternative zu jeder Form | |
von institutionalisierter Kultur“, so das Black Ox Orkestar. „We made a new | |
golem / We created our guard“, singt die Band in einem Song und bringt | |
darin ihre Suche nach Alternativen auf Basis von jüdischen Traditionen wie | |
jener des Golems zum Ausdruck. | |
## Suche nach Alternativen in Kultur und Politik | |
Doch nicht nur nach Alternativen in der Kultur suchen die Musiker, sondern | |
auch nach politischen Alternativen. Die meisten Constellation-Künstler eint | |
die Ablehnung einer eingrenzenden Vorstellung von „Heimat“, von | |
Verwurzelung in einem künstlich geschaffenen Staatsgebilde. Stattdessen | |
leben und loben sie das Grenzüberschreitende, das Unbehauste, Vermischung | |
und Unreinheit: im Sound, in der Sprache, im Leben. | |
So auch die auf Constellation veröffentlichende junge US-Jazzsaxofonistin | |
Matana Roberts, die in Interviews die Bedeutung des Kreolischen für ihre | |
Musik betont – auch so eine hybride, grenzüberschreitende Sprache. | |
Matana Roberts Werk ist gekennzeichnet von der Suche nach Spuren der mit | |
der eigenen Biografie verknüpften Kulturgeschichte, der afroamerikanischen | |
Sklavenerfahrungen als familiärem wie auch kulturellem Gedächtnis, dem | |
Blues und Jazz, der US-Bürgerrechtsbewegung. | |
„On silver Mount Zion / All buried in ruins / We was dancing the hora / | |
Until we vomited blood.“ Bei Thee Silver Mt. Zion dagegen stehen jüdische | |
Traditionslinien im Fokus, Spuren jüdischen Lebens in Osteuropa vor der | |
Schoah sind in Musik und Ästhetik der Band eingewoben. | |
Über diese Motive verhandelt die Band das eigene komplizierte Verhältnis | |
zur sehr traditionell geprägten jüdischen Gemeinde Montreals wie auch zur | |
nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft Quebecs mit einer langen | |
antisemitischen Tradition. | |
Ambivalenzen, die bei Silver Mt. Zion in den musikalischen Kontrasten von | |
Zerbrechlichkeit und Lärm mit transportiert werden. Ziel ist das | |
Abschütteln von Erwartungen, das Finden einer ästhetischen Form unabhängig | |
von gesellschaftlichen und religiösen Zuschreibungen. | |
## Musikästhetische Überschreitungen | |
Musikästhetische Überschreitungen stellen auch die Neuerscheinungen des | |
Labels dar. Das multimediale Experimentalfilm- und Musikprojekt Jerusalem | |
in My Heart verknüpft auf seinem Albumdebüt „Mo7it Al-Mo7it“ | |
zeitgenössische arabische Musik mit elektronischen Spielereien, | |
Bouzouki-Spiel mit Halleffekten und geloopten Stimmen. | |
Während der Saxofonist Colin Stetson auf „To See More Light“, dem Abschluss | |
seiner „New History Warfare“-Trilogie, zwischen Jazz, Drone, Elektroakustik | |
und auch poppigen Klängen – insbesondere in den Songs mit | |
Bon-Iver-Bandkollege Justin Vernon am Gesang – pendelt. | |
Doch bevor Vernons Gesang die Zuhörer zu sehr betören kann, entlockt | |
Stetson seinem Instrument die verstörendsten Töne, musikalische | |
Rastlosigkeit und strenge Schönheit verschränken sich zu einem völlig neuen | |
Hörerlebnis. | |
## Neue Sounds und ungehörte Verknüpfungen | |
Stetsons Saxofon ist auch auf dem Debütalbum „I Thought It Was Us But It | |
Was All Of Us“ von Saltland zu hören, dem Projekt der ehemaligen | |
Silver-Mt.-Zion- und Set-Fire-to Flames-Cellistin Rebecca Foon. | |
Soundflächen auf Cello-Basis treffen auf Foons verhallten Gesang und Texte | |
über verlorene Kindheiten und die Suche nach Hoffnung in einer düsteren | |
Welt. | |
Drei ungewöhnliche und gerade deswegen wohl typische | |
Constellation-Veröffentlichungen, die im Ruhelosen und Ortlosen, in ihrer | |
Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, nach neuen musikalischen Sounds | |
und bislang ungehörten Verknüpfungen verbunden sind. | |
Musikalische Bastarde, in denen sich kein Ursprung ausmachen lässt, sondern | |
viele unterschiedliche, in sich schon wieder hybride Einflüsse | |
aufeinanderprallen und ineinander verschachtelt werden. Constellation | |
schafft einen Ort für solche Formen von Musik, an der alle Versuche, sie zu | |
greifen, zu bestimmen und von außen zu definieren, zum Scheitern verurteilt | |
sind. | |
23 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Jonas Engelmann | |
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