# taz.de -- Wahlen in Brandenburg und Sachsen: Sieben grüne Gebote | |
> Die Grünen haben in Sachsen und Brandenburg glamouröse Prozentzahlen | |
> verpasst. Aber entscheidender ist, was sie daraus machen. | |
Bild: Grüne Spitzenkandidaten auf einer Wahlparty in Brandenburg | |
Zum grünen Höhenflug hat der Brandenburger Spitzenkandidat Benjamin Raschke | |
vor drei Wochen einen im Rückblick klugen Satz gesagt: „Wir bleiben auf dem | |
Teppich, auch wenn der Teppich fliegt.“ Tatsächlich ist es nämlich so, dass | |
der Teppich nicht dort gelandet ist, wo es sich die Partei gewünscht hätte. | |
Jedenfalls nicht, wenn man sich an die Äußerung von Raschkes Brandenburger | |
Mitstreiterin Ursula Nonnenmacher erinnert, die sich ein wenig verfrüht als | |
Ministerpräsidentin empfahl. Jetzt sind es in [1][Brandenburg] bloß 10,8 | |
Prozent geworden und in Sachsen 8,6 Prozent: eher ein Höhenflügchen. | |
So schnell und hoch hinaus geht es eben nicht. Den Aufstieg einer Partei | |
muss man sich eher wie eine Treppe vorstellen, die man Stufe für Stufe | |
nehmen muss. Die Grünen sollten mal durchatmen und überlegen, wo sie | |
stehen. [2][Seit Annalena Baerbock und Robert Habeck die Partei führen], | |
haben sie in Bayern, Hessen, Bremen und bei der Europawahl Stimmen | |
hinzugewonnen. Die vielen Mandate in den Parlamenten haben die | |
Gestaltungsmacht der Partei nur sehr begrenzt erweitert, denn sie regieren | |
ebendort, wo sie schon vorher regierten. | |
Nun aber kommen zwei Länder dazu, in denen die Grünen gute Chancen haben zu | |
regieren. In Brandenburg sind Rot-Rot-Grün und Rot-Schwarz-Grün die | |
möglichen Koalitionen, daneben gibt es noch eine Option mit SPD, CDU und | |
Freien Wählern und – sehr unwahrscheinlich – eine SPD-geführte Regierung | |
mit CDU und Linkspartei. In Sachsen geht sogar nur eine schwarz-grün-rote | |
Keniakoalition, weil Ministerpräsident Michael Kretschmer für seine CDU | |
eine Zusammenarbeit mit der Linken oder der AfD ausgeschlossen hat | |
Der Erfolg einer Partei bemisst sich nicht in reiner Zustimmung, sondern | |
daran, ob sie diese in Gestaltungsmacht umsetzen kann. Die Frage ist nicht, | |
wie glamourös die Prozentzahlen der Grünen sind. Die Frage ist, was sie | |
daraus machen. Sieben Punkte sind wichtig: | |
Erstens: Die Grünen müssen verinnerlichen, dass sie es nun sind, die den | |
Staat verteidigen. Die Partei hat eine staatskritische Tradition, von der | |
sie sich den scharfen Blick auf die Bürgerrechte unbedingt erhalten muss. | |
Aber aus ihrer Geschichte heraus pflegt sie auch gern bequeme Feindbilder. | |
Gerade in Sachsen ist es in fast drei Jahrzehnten CDU-Regierung von | |
Biedenkopf und seinen Nachfolgern zum Selbstverständnis der Grünen | |
geworden, sich als Rebellen wider die Staatsmacht zu sehen. Der wackere | |
Underdog, moralisch stets im Recht – das ist auch von Brandenburg bis | |
Bayern immer noch eine klare, einfache Rolle vieler Grünen. | |
Erst langsam vollzieht sich der Rollenwechsel, und der Partei dämmert, was | |
auf dem Spiel steht. In diesem Jahr ging eine Grüne einen wichtigen Schritt | |
in dieser Beziehung: [3][In Görlitz steckte Franziska Schubert bei der | |
Oberbürgermeisterwahl zugunsten des CDU-Kandidaten zurück], um den | |
AfD-Bewerber zu stoppen. Das war richtig. Jetzt muss den Grünen klar sein, | |
dass es um das Grundgerüst der Republik geht: Scheitert Kretschmer, | |
scheitern wir. | |
Zweitens: Die Grünen dürfen sich nicht abspeisen lassen. Sie können | |
selbstbewusst übers Regieren verhandeln. Michael Kretschmer ist jetzt | |
belastbar. Sein Vorgänger Stanislaw Tillich trat zurück, nachdem die | |
sächsische CDU bei der Bundestagswahl auf 26,9 Prozent gefallen war. | |
Dagegen sind die 32,1 Prozent von diesem Sonntag stattlich. Der Erfolg – im | |
Übrigen auch in seinem Görlitzer Wahlkreis – festigt Kretschmers Position | |
gegenüber den Rechtskonservativen in seinem Landesverband, die durchaus mit | |
der AfD was versuchen würden. Wäre der Ministerpräsident geschwächt, würden | |
sie sich womöglich durchsetzen. | |
## Chance, nicht Notgemeinschaft | |
Dann gibt es noch etwas, das sich die Grünen von der CDU teuer abkaufen | |
lassen können: Strategisch bietet eine Regierung mit den Grünen der Union | |
nämlich die Chance, sich zu modernisieren und in den Großstädten den | |
Anschluss zu finden. Das gilt genauso für die unfassbar müde | |
brandenburgische SPD von Dietmar Woidke, die neidisch auf die | |
Grünen-Erfolge im Berliner Speckgürtel blickt. Wenn die Ministerpräsidenten | |
klug sind und ihre Partner der anderen Parteien auch, dann begreifen sie | |
ihr Bündnis nicht als Notgemeinschaft, sondern als Chance. | |
Drittens: Die Grünen müssen Themen dazugewinnen. Die Wahlen in Brandenburg | |
und Sachsen spitzen das Problem zu, dass der Partei im Klimaschutz sehr | |
viel zugetraut wird – aber nicht in Ressorts wie Verkehr oder | |
Landwirtschaft, die doch für die Bewältigung der Klimakrise wichtig sind. | |
Während nach einer Befragung der Forschungsgruppe Wahlen 39 Prozent der | |
Sachsen die Grünen für kompetent im Klimaschutz halten, sagen das zum | |
Beispiel nur 4 Prozent für den Bereich Infrastruktur. | |
In Schleswig-Holstein fuhren die Grünen gut damit, sich durch das | |
Finanzressort übergreifend Einfluss zu sichern, sich aber zweitens durch | |
das Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und | |
Digitalisierung thematisch zu erweitern. In Hessen beispielsweise | |
kombiniert Tarek Al-Wazir im Wirtschaftsressort Energie und Verkehr. Die | |
Zeiten, in denen die Grünen standardmäßig das Umweltressort und halt noch | |
irgendwas Zweites bekamen, sind vorbei, denn dazu – siehe zweitens – sind | |
CDU und SPD zu sehr auf sie angewiesen. | |
Viertens: Die Grünen sollten bei der Braunkohle drängeln, aber auch | |
versöhnen. [4][Am 20. September findet in Deutschland der große Klimastreik | |
statt], am selben Tag will die Bundesregierung ihre Klimapolitik parat | |
haben, die bisher noch keine Gestalt hat. Der Kompromiss der | |
Kohlekommission, die Kraftwerke bis 2038 zu schließen, ist noch längst | |
nicht Gesetz. Nun werden die Grünen ausgerechnet in zwei Ländern über | |
Regierungen verhandeln, in denen Braunkohle abgebaggert und verstromt wird. | |
Von Jänschwalde bis Lippendorf blasen Kraftwerke neben CO2 Feinstaub und | |
Schwefeloxide in den Himmel. Da nicht Tempo zu machen, wäre etwa so, als | |
hielten die Grünen FFF für einen Freundeskreis für Fensterreden. | |
## Konkrete Schritte fordern | |
Ein gutes Geschäft sind die Kraftwerke ohnehin kaum. Im ersten Halbjahr | |
haben alle Braunkohlekraftwerke in Deutschland 22 Prozent weniger Strom | |
produziert als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Die Industrie möchte nur | |
einen möglichst vorteilhaften Ausstieg. Da sollten die Grünen verlangen, | |
dass es schneller geht und dass die Schritte sehr konkret verabredet | |
werden. | |
Gleichzeitig wäre es wichtig, zu verstehen, dass es hier vielen Menschen | |
nicht einfach um Arbeitsplätze geht, sondern um ihre Biografien. Wer früher | |
im Bewusstsein arbeitete, dass in der DDR ohne ihn die Lichter ausgingen | |
oder die Wohnungen kalt blieben, lässt sich heute ungern als unbelehrbarer | |
Klimakiller abtun. Jemand muss den Menschen sagen, was denn die neue | |
Aufgabe ist. Das ist mehr als nur eine Frage des Geldes, sondern der Ideen. | |
Und des Streits, der von Angesicht zu Angesicht ausdiskutiert wird, so wie | |
es vielerorts die gute Kultur dieses Wahlkampfes geworden ist. | |
Fünftens: Die Grünen müssen in die Fläche. In Brandenburg und Sachsen | |
wählen Menschen in großen Städten mit hohem Bildungsabschluss die Grünen. | |
Sie haben sogar zwei Wahlkreise in Leipzig, einen in Dresden und einen in | |
Potsdam geholt. In Kleinstädten und auf dem Dorf sieht es anders aus. Auch | |
anders als in Bayern, da haben die Grünen im vergangenen Jahr auch auf dem | |
Land gewonnen. Die gemeinsame Arbeit von Stadt- und Landmenschen ist | |
eigentlich in der grünen Geschichte verortet, wie der Kampf gegen das | |
Atomkraftwerk im badischen Wyhl oder gegen das Atommülllager im Wendland | |
zeigen. | |
Es lässt sich von Berlin aus leicht vorschlagen, dass Parteien doch bitte | |
mal auf dem Dorf in Ostsachsen was reißen sollen. Aber überall dort, wo | |
Grüne sich engagieren, in Kreis-, Gemeinde- und Ortsbeiräten, sollte ihre | |
Partei sie unterstützen, was das Zeug hält. Und das gilt nicht nur für die | |
Grünen, sondern für die anderen Parteien, die [5][die Rechtsextremen | |
aufhalten] möchten. Fünf Jahre können schnell vergehen. | |
Sechstens: Die Grünen müssen das Gespräch fortsetzen. Sie haben es im | |
Wahlkampf immer wieder vermocht, die ewigen Monologe und Gegenmonologe | |
aufzubrechen. In die Sprachlosigkeit hinein haben die Grünen viele | |
neugierig gemacht. Es war keine Kampagne, die Menschen trennt, sondern | |
eine, die welche zusammenbringt. | |
## Reinholen statt ausschließen | |
Zu den Veranstaltungen kamen auch Leute, die anderer Meinung waren. Der | |
selbstgewisse Sound von „Ist doch eh klar“ und „Geht gar nicht“ ist | |
gefährlich. Gut, dass die Grünen Leute reinholten, statt sie | |
auszuschließen. Die Partei hat zwei Vorsitzende, die weder eine | |
Parlamentsfraktion noch ein Ministerium leiten müssen. Sie sollten auch | |
über die Landtagswahl in Thüringen im Oktober hinaus im Osten präsent sein | |
– und nicht nur große Townhall-Termine absolvieren. Politik, das zeigt der | |
Erfolg von Kretschmers „Sachsen-Gesprächen“ lange vor dem Wahlkampfsommer, | |
das ist auch das kleine Gesprächsformat. Habeck und Baerbock sollten den | |
Kretschmer machen. | |
Siebtens: Die Grünen dürfen nicht wieder schrill werden. Der Schluss, ihre | |
Ergebnisse wären höher gewesen, wenn sie schärfer polarisiert hätten, ist | |
falsch. Diese Zeit wird von zwei Weltuntergangsparteien geprägt, wie sie | |
unterschiedlicher nicht sein könnten. Die AfD beschwört den Weltuntergang | |
herauf – oder jedenfalls den der Nation –, facht damit Angst an und holzt | |
maximal gegen die anderen. Die Grünen, schon bei ihrer Gründung eine Partei | |
gegen Atomkrieg und Supergau, beschäftigen sich nun wieder mit einer | |
drohenden Zerstörung der Erde. Da läge es nahe, dauernd Alarm zu geben. | |
Aber den grünen Ton prägen zurzeit nicht apokalyptische Reden, sondern der | |
Optimismus, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten. | |
Die Grünen dosieren ihre Drastik, sie sparen sich saftige Vorwürfe, machen | |
Kritik am Gegner nicht zu Charakterfragen. Das gelingt längst nicht immer, | |
aber doch oft, vor allem wenn man es mit dem politischen Gestus der alten | |
Grünen vergleicht. | |
Die sieben Punkte sind keine Beratung der Grünen. Sie sind eine Forderung – | |
Gebote der Stunde für eine Partei in besonderer Lage. Denn eine | |
Verantwortung dafür, dass die AfD schwächer werden muss, hatten die Grünen | |
diesmal noch nicht. In fünf Jahren schon. | |
Korrektur: In einer ersten Version des Textes wurden die zwei Brandenburger | |
Bündnisoptionen ohne die Grünen außer acht gelassen. | |
2 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Georg Löwisch | |
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