# taz.de -- Wahlforscher zu Ostwahlen: „Grüne sind der Antipode zur AfD“ | |
> Endet der Grünen-Höhenflug bald? Nein, glaubt der Wahlforscher Matthias | |
> Jung. Die Ökopartei werde als modern und bürgerlich wahrgenommen. | |
Bild: Die Grünen werden sich auf einem „signifikant höheren“ Niveau stabi… | |
taz: Herr Jung, ist Ostdeutschland ein Versuchslabor für Verhältnisse, die | |
uns auch im Westen drohen? | |
Matthias Jung: Versuchslabor wäre mir zu zugespitzt. Es gibt nach wie vor | |
valide Unterschiede zwischen Ost und West. In ostdeutschen Bundesländern | |
existieren nicht so feste, ideologisch geprägte Parteibindungen, wie es sie | |
in Westdeutschland gab und noch gibt. WählerInnen verhalten sich volatiler, | |
unberechenbarer und auch taktischer. | |
Die Zeiten fester Parteibindungen sind doch auch in Westdeutschland vorbei. | |
Den Trend gibt es, ja. Auflösungstendenzen beobachten wir zunehmend auch in | |
Westdeutschland. Milieus, die früher klar einer Partei zuzuordnen waren, | |
bröckeln. Die katholisch geprägte CDU/CSU leidet darunter, dass die Kirchen | |
weniger Bindekraft haben. Auch die Arbeiterbewegung, die hinter der SPD | |
stand, bewegt ja heute keine Massen mehr. | |
Alle Parteien fragen sich, was sie gegen den Erfolg der AfD tun können. Was | |
raten Sie? | |
Was jedenfalls nicht hilft, ist Themen hochzuziehen, die die AfD stark | |
machen. Die CSU hat im vergangenen Sommer viel über Flüchtlingspolitik | |
geredet, obwohl kaum noch Flüchtlinge kamen. Mitten im bayerischen | |
Landtagswahlkampf ist bei ihr der Groschen gefallen, dass das nur bei der | |
AfD einzahlt – inzwischen ergrünt die CSU unter Markus Söder. Der ehemalige | |
CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hat im Bundestagwahlkampf 2017 | |
versucht, sich als Speerspitze der Antifa zu profilieren, obwohl die AfD in | |
einem Tief verschwunden war. Prompt kam sie wieder. Damit und mit Seehofers | |
Dauerkritik an Merkels Flüchtlingspolitik wurde einer schwarz-grünen | |
Mehrheit das Genick gebrochen. | |
Also geht es vor allem um kluge Kommunikation? | |
Die schadet natürlich nie, aber wichtig ist es, zu handeln. Nicht alles, | |
was AfD-WählerInnen stört, ist fiktional, sie haben teils berechtigte | |
Sorgen. Die Parteien müssen allgemeine Zukunftsängste und vor allem die | |
Furcht, abgehängt zu werden, ernst nehmen und mit Konzepten kontern. Das | |
ist in Sachsen und Brandenburg nicht ausreichend gelungen. Taten helfen | |
mehr, als alle AfD-WählerInnen als Unmenschen zu klassifizieren. | |
Die Linkspartei hat in Sachsen und Brandenburg viele WählerInnen an die | |
Konkurrenz verloren. Verliert sie ihren Status als Ostversteher-Partei? | |
Die Linke hatte stets eine doppelte Grundlage für Wahlerfolge in | |
Ostdeutschland. Es gab Altkader, die früher SED wählten – und die Linke | |
stützten. Sie sterben langsam aber sicher weg. Außerdem war die Linke eine | |
Protestpartei. Sie sammelte all jene hinter sich, die sich als Verlierer | |
der Wiedervereinigung oder der Globalisierung verstanden. Da hat sie jetzt | |
gerade im Osten starke Konkurrenz durch die AfD. Hinzu kommt, dass die | |
Linke momentan nicht gerade geschlossen oder inhaltlich konsistent | |
auftritt. | |
Die Grünen legten in beiden Ländern zu, aber weniger als erwartet. Ist ihr | |
Höhenflug ein Hype, der bald endet? | |
Die Grünen werden sich auf einem signifikant höheren Niveau als bei der | |
letzten Bundestagswahl stabilisieren. Sie sind – in Lagerkategorien gedacht | |
– der Antipode zur AfD, weil sie für eine ganz andere Werteorientierung | |
stehen, von der Homoehe, über den Klimaschutz bis zur Flüchtlingspolitik. | |
Gleichzeitig vermeiden sie schrille Töne, zielen also stärker als früher | |
auf die Mitte. Das ist klug. Dort hat die CDU durch die interne Kritik an | |
Angela Merkel Räume freigegeben. Die Grünen werden inzwischen von vielen | |
als die moderne bürgerliche Partei wahrgenommen. | |
In Brandenburg und Sachsen sind die Grünen ein städtisches Phänomen. Sie | |
blieben in abgelegenen Regionen schwach. | |
Das stimmt. Aber die Auswirkung dieser zwei Wahlen auf das gesamtdeutsche | |
System wird überschätzt. Da haben 5,8 Millionen Menschen gewählt – | |
angesichts von 65 Millionen Wahlberechtigten in ganz Deutschland. Den | |
Grünen hilft natürlich auch, dass der Klimawandel für jeden spürbar wird. | |
Ihre Konzepte klingen nach gesundem Menschenverstand, das macht sie | |
glaubwürdig. | |
Stimmt es eigentlich, dass die Grünen der Gegenpol zur AfD sind? In Sachsen | |
avancierte ja [1][CDU-Mann Michael Kretschmer] zum liberalen Gegenspieler. | |
Es gibt einen Unterschied zwischen strategischer Polarisierung in einem | |
Wahlkampf – und inhaltlicher Ausrichtung. Natürlich kann ein angesehener | |
Ministerpräsident signalisieren: Versammelt euch hinter mich, wenn ihr die | |
AfD stoppen wollt. Das ist Kretschmer in Sachsen taktisch geglückt. Aber | |
die Grünen vertreten von allen Parteien inhaltlich die Positionen, die sich | |
am wenigstens mit denen der AfD vertragen. Leute wie Hans-Georg Maaßen | |
sagen ja explizit, dass eine Koalition mit den Grünen für die CDU schlimmer | |
sei als ein Bündnis mit der AfD. | |
Sowohl in der CDU als auch in der SPD ist eine Sehnsucht nach klarerem | |
Profil spürbar. Die einen hadern mit Merkel, die anderen setzen auf linke | |
Konzepte wie eine Vermögensteuer. Ist die Zeit der Mitteorientierung der | |
Parteien vorbei? | |
Das glaube ich nicht. Der Kampf um die Mitte bleibt entscheidend für | |
strategische Mehrheitsfähigkeit. Wer in der Mitte gewinnt, kann die eigenen | |
Konzepte umsetzen. Gerhard Schröder hatte das damals kapiert, Angela Merkel | |
sowieso. | |
In der SPD glauben viele, dass sie Schröders Agenda-Kurs in den Abgrund | |
trieb. | |
Die Partei hat Schröder einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie wollte | |
nicht zu viel Modernisierung, sondern lieber zurück in die glückselige | |
Gewerkschaftsidylle des 20. Jahrhunderts. Deshalb steckt die SPD heute in | |
einem multiplen Dilemma. Mit einem klaren Mitte-Kurs hätte sie ihre | |
Verluste an die Linkspartei kompensiert. Sie hat sich aber bewusst dagegen | |
entschieden. | |
Wenn alle in eine imaginierte Mitte drängen, wird es dort eng – und | |
Unterschiede zwischen Parteien verwischen. | |
In der Mitte ist Platz genug für alle. Dort verorten sich nämlich 70 | |
Prozent der WählerInnen, das zeigen unsere Studien. Unsere Gesellschaft | |
wird ja interessanterweise konformer, obwohl es hohe | |
Individualitätsansprüche gibt. Die meisten Deutschen wünschen sich soziale | |
Sicherheit, wollen, dass Recht und Gesetz durchgesetzt werden, oder dass | |
Leistung honoriert wird. Es gibt ähnliche Einstellungsbilder in einem | |
großen Teil der Bevölkerung. | |
Hat sich die Mitte nach links verschoben? Eine Anti-Mindestlohn-Kampagne | |
der CDU wäre heute undenkbar. Vor Jahren hätte sie sie vielleicht noch | |
versucht. | |
Die Mitte ist kein statischer Ort, sie hat viele inhaltliche Dimensionen. | |
Parteien haben sich immer wieder programmatisch angepasst, um Schritt zu | |
halten. Die SPD verabschiedete 1959 das Godesberger Programm, eine | |
gigantische Modernisierung. Helmut Kohl hat die CDU in den 70ern komplett | |
neu aufgestellt, viel radikaler, als Merkel es später getan hat. Die | |
Konservativen in der Union, die sich die Vergangenheit zurückwünschen, | |
verstehen die Notwendigkeit von Wandel nicht. CDU und CSU sterben in jeder | |
Legislaturperiode gut eine Million ihrer alten WählerInnen weg. Zu glauben, | |
morgen mit dem Gestern gewinnen zu können, ist naiv. | |
6 Sep 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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