# taz.de -- Einschulung in Berlin: „Schule verteilt Lebenschancen“ | |
> Der ehemalige Schulleiter Wolfgang Harnischfeger plädiert für eine | |
> Kita-Pflicht und mehr ausgebildete Lehrkräfte. | |
Bild: Das fängt ja gut an: Schulanfänger*innen | |
taz: Herr Harnischfeger, der CDU-Fraktionsvize im Bund Carsten Linnemann | |
sorgte diese Woche mit der Bemerkung für Aufregung, SchülerInnen mit | |
schlechtem Deutsch hätten in der ersten Klasse nichts zu suchen, und er | |
forderte eine Vorschulpflicht. Ist das eine gute Idee auch für viele der | |
ErstklässlerInnen, die am Samstag eingeschult werden? | |
Wolfgang Harnischfeger: Wenn man davon absieht, dass er die fehlenden | |
Deutschkenntnisse von Erstklässlern mit dem Attentat auf dem Frankfurter | |
Bahnhof in Verbindung gebracht hat, nach dem Motto „So leiden die Deutschen | |
unter den Ausländern“, hätte ich keine Probleme mit einer Vorschule. Ich | |
habe nie verstanden, warum man 2006 in Berlin die Vorschulklassen | |
abgeschafft hat. Die haben den Übergang für viele Kinder in die erste | |
Klasse sehr erleichtert. | |
Man könnte etwas dagegen haben, Kinder noch früher nach Leistung zu | |
separieren, als es unser Schulsystem ohnehin tut. | |
Die Vorschule galt für alle Kinder, ohne Unterschiede. | |
Was Linnemann gesagt hat, war also populistisch formuliert, aber eigentlich | |
kein Quatsch? | |
Linnemann hat kein Problem formuliert. Er hat eine politische Äußerung | |
getätigt: Ein Kind, das kein Deutsch spricht, hat nichts auf der | |
Grundschule zu suchen. Das ist AfD-Jargon und bedient die konservative | |
Klientel der CDU. Wenn ich will, dass die Kinder gefördert werden, dann | |
formuliere ich das anders. | |
Müsste es nicht Anspruch von Schule sein, mit dieser Heterogenität | |
umzugehen, anstatt zu sagen: „Die Kinder haben ein Problem, also lasse ich | |
sie noch ein Jahr länger in der Vorschule“? | |
Ich stimme Ihnen zu. Wenn ich integrieren will, statt zu separieren, | |
brauche ich ein möglichst heterogenes Umfeld – und da geht es vor allem | |
auch um die soziale Integration. Von daher muss es Ziel sein, dass alle | |
Kinder gemeinsam lernen. Aber damit das gelingt, braucht es Ressourcen, | |
dafür muss man als Lehrkraft ausgebildet sein, dafür braucht es andere | |
Förderkonzepte. | |
Zum Beispiel? | |
Ich wäre zum Beispiel immer für eine Kitapflicht. | |
Eine Light-Variante gibt es in Berlin ja: Wenn ein Kind bei dem | |
verpflichtenden Sprachtest vor der Einschulung durchfällt und keine Kita | |
besucht, müssen die Eltern es zur Sprachförderung anmelden. | |
Das wird aber nicht durchgesetzt. Ich will die Kinder ja auch nicht mit der | |
Polizei abholen lassen, aber in Hamburg etwa setzt man dieses Modell | |
konsequenter um und macht gute Erfahrungen damit. | |
Müssten nicht die Lehrer fit gemacht werden, besser auf unterschiedliche | |
Kinder einzugehen, statt zu sagen, die Kinder haben ein Problem, weil sie | |
nicht genug Deutsch können? | |
Zwei Dinge: Schule ist für die Kinder da, nicht umgekehrt. Man muss also | |
integrieren wollen. Und Lehrer müssen die Zeit und das Know-how haben, | |
damit ihnen der gute Wille nicht abhandenkommt. Wenn ich 26 Kinder in der | |
Klasse habe, von denen 3 einen offiziellen Förderstatus haben und 3 weitere | |
nicht, aber genauso förderbedürftig sind, dann kann ich mich als einzelne | |
Lehrerin nur um das Mittelfeld kümmern. | |
Also immer mindestens zwei PädagogInnen pro Klasse? | |
Ja. Das System muss sich ändern. Der Fokus muss auf der Unterrichtsqualität | |
liegen und dann erst auf dem Mittagessen und der kostenlosen BVG-Karte. Um | |
es ganz radikal zu sagen: Wir müssen hier Ressourcen reingeben, um diese | |
Kinder später nicht in die Sozialsysteme zu verlieren. Schule verteilt | |
Lebenschancen, und die hängen am Schulerfolg. Wir haben in Berlin eine | |
zuletzt wieder steigende Schulabbrecherquote von 11 Prozent, der | |
Bundesschnitt liegt bei 6,1 Prozent. | |
Die Ressourcen sind das eine, das Fachliche ist das andere: | |
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) muss inzwischen zwei Drittel | |
QuereinsteigerInnen einstellen. Würden Sie sagen, durch die | |
QuereinsteigerInnen erhöht sich die Chancenungleichheit im Bildungssystem? | |
Ich denke, schon. Die Quereinsteiger lernen bestenfalls, mit einem | |
mittleren Leistungsniveau umzugehen. Alles andere lässt sich in einem | |
Schnellkurs vor Schuljahresbeginn und mit den zwei Mentoringstunden pro | |
Woche auch nicht machen. Man darf nicht kleinreden, dass diese Kolleginnen | |
und Kollegen 17 Stunden eigenverantwortlichen Unterricht geben und dabei | |
völlig auf sich selbst gestellt sind. Unter diesen Bedingungen lernen die | |
schwächeren Schüler nicht das, was sie lernen könnten. Und die guten | |
Schüler schaffen sich entweder die Strukturen selbst – oder sie haben die | |
Hilfe des Elternhauses. | |
Da sind wir wieder bei einer sehr grundsätzlichen Frage: Unser | |
Bildungssystem sortiert nach schulischem Erfolg, der stark an die soziale | |
Herkunft gekoppelt ist. Und auch wenn man Eltern keinen Vorwurf machen | |
kann, wenn sie das Gymnasium für ihr Kind wollen: Die allgemein anerkannte | |
Erkenntnis, dass Kinder am besten zusammen lernen, und ein separierendes | |
Schulsystem – das passt doch nicht zusammen. | |
Unterschiede können auch so groß sein, dass man sie nicht in einer Gruppe, | |
einem Raum oder einem Projekt integrieren kann. Sonst brauchen Sie am Ende | |
eine 1:1-Betreuung. Es können nicht alle dasselbe lernen, und was oft | |
vergessen wird, sie wollen es auch gar nicht, weil die Interessen | |
verschieden sind. | |
Es können nicht alle dasselbe lernen. Aber vielleicht können alle zusammen | |
besser lernen. | |
Hinter dem Satz steht der Gedanke, dass sich die verschiedenen Kräfte | |
addieren. Das stimmt aber oft nicht. Aber es ist richtig, die soziale | |
Separierung ist problematisch. | |
Wären Sie heute gerne Erstklässler in Berlin? | |
Ich wäre immer gerne Erstklässler! Als meine Kinder damals lesen gelernt | |
haben oder sich die Zahlen erschlossen haben: Machen Sie noch solche | |
Lernerfahrungen? Also, ich nicht mehr. Ich müsste dafür auf den | |
Kilimandscharo. Kinder wollen lernen, sie sind neugierig auf die Welt. Ich | |
kann mir nichts Schöneres vorstellen. | |
9 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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