# taz.de -- Diskussion um Einschulung: Alle mit dabei | |
> Sollten Kinder mit mangelnden Deutschkenntnissen erst später in die | |
> Grundschule? Was ErzieherInnen und LehrerInnen von der Debatte halten. | |
Bild: Die Grundschullehrer Manuel Honisch und Anna Brinkmann in einem Klassenra… | |
BERLIN taz | Wenn an diesem Samstag 73 neue Erstklässlerinnen und | |
Erstklässler an der Möwensee-Grundschule im Norden Berlins eingeschult | |
werden, hat Manuel Honisch sie im Kopf schon sortiert. Nach Kindern, die | |
keine Reime erkennen. Nach Jungen, die ihren Namen falsch schreiben. Nach | |
Mädchen, die Sätze unvollständig formulieren. | |
Die ganze Woche über haben der Sonderpädagoge und andere Lehrkräfte der | |
Schule die Kinder einzeln für je eine Stunde getestet: auf Motorik, auf | |
Konzentrationsfähigkeit und Zahlenverständnis – und eben auf | |
Deutschkenntnisse. In den kommenden Wochen folgen noch Tests in der | |
Kleingruppe und der gesamten Klasse. Doch schon jetzt ist sich Honisch | |
sicher: „Mehr als die Hälfte hat Sprachförderbedarf“. | |
Zum Beweis hat Honisch – kurze Hose, Ohrringe, pinkes Hemd – einen Stapel | |
weißer Hefte mit ins „Förderzimmer“ gebracht. Dieser Raum ist das Reich d… | |
beiden SonderpädagogInnen an der Möwensee-Grundschule. Hier treffen sie | |
sich nachmittags mit ihren Sprachfördergruppen oder dem „Matheclub“, hier | |
sind Honisch und seine Kollegin Anna Brinkmann nun verabredet, um die Tests | |
der neuen ErstklässlerInnen zu sichten und Lernziele für die | |
Förderbedürftigen zu formulieren. | |
Für viele wird die Empfehlung lauten, das „phonologische Bewusstsein“ zu | |
trainieren, dafür reichen Brinkmann und Honisch nur wenige Blicke auf die | |
Sprachübungen. Manche werden vielleicht ein richtiges Sprachtraining | |
benötigen. Das könne man aber erst nach Ende aller Tests mit Sicherheit | |
sagen. | |
Was Honisch und Brinkmann aber jetzt schon wissen: Sie werden mit ihren | |
beiden Teilzeitstellen nur die Kinder mit „intensiven Förderbedarf“ | |
betreuen können. Im letzten Schuljahr waren das 40 Erst- und | |
ZweitklässlerInnen, fast jedeR Dritte. Durch die Neuen, schätzen Honisch | |
und Brinkmann, dürften 20 weitere Kinder hinzukommen, die dem Unterricht | |
vermutlich nur schwer folgen können. | |
## Keine Ahnung | |
Es ist keine neue Debatte, die in dieser Woche hochgekocht ist. Wie Schulen | |
mit diesen Kindern umgehen sollen, darüber wird in Deutschland seit den | |
70ern leidenschaftlich gestritten. Jedes Bundesland hat seine eigene | |
Antwort darauf gefunden, ob und wie lange SchülerInnen verschiedener | |
Niveaus zusammen lernen sollen. | |
Seitdem die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave | |
(SPD) 2005 jedoch als Erste das gegliederte Schulsystem aus Hauptschule, | |
Realschule und Gymnasium zugunsten einer Gemeinschaftsschule aufbrach, | |
vertiefen sich die ideologischen Gräben wieder: zwischen den Verfechtern | |
des getrennten Lernens, die um die Unterrichtsqualität fürchten – und den | |
Befürwortern des integrativen Lernens, die darin den Schlüssel zu mehr | |
Bildungsgleichheit für alle sozialen Schichten sehen. | |
Selten wurde das so eindrucksvoll sichtbar wie diese Woche, als der | |
CDU-Haushaltspolitiker und Fraktionsvize Carsten Linnemann der Rheinischen | |
Post ein Interview gegeben hat. Darin hatte er vor „neuen | |
Parallelgesellschaften“ gewarnt und gefordert, Kinder ohne ausreichende | |
Deutschkenntnisse nicht einzuschulen. Zu seinen Äußerungen erhielt | |
Linnemann Zustimmung, [1][aber es gab auch viel Kritik]. | |
## Vom Thema keine Ahnung | |
„Man sieht, dass der Mann von dem Thema keine Ahnung hat“, sagt | |
Sonderpädagoge Honisch. An seiner Schule sei der Sprachstand sehr niedrig | |
und der Anteil der SchülerInnen mit Migrationshintergrund sehr hoch, 70 | |
Prozent. Nichts Ungewöhnliches im Stadtteil Wedding. Honisch warnt aber vor | |
falschen Rückschlüssen. Die Sprachdefizite der SchülerInnen hätten vor | |
allem mit der sozialen Schicht und dem Mangel an Lernunterstützung durch | |
Eltern zu tun. | |
„Wir haben ausländische Kinder aus Syrien oder Russland, die ohne ein Wort | |
Deutsch an die Schule kommen und in erstaunlich kurzer Zeit dem Unterricht | |
folgen können. Und wir haben deutsche Kinder, die mit erheblichem | |
Förderbedarf an die Schule kommen und später die Schule abbrechen.“ Honisch | |
ärgert sich vor allem über Linnemanns Alternative zur Einschulung: eine | |
verpflichtende Vorschule für alle Kindern, die kaum Deutsch sprechen. „Wie | |
sollen die Kinder Deutsch lernen, wenn sie keine Sprachvorbilder um sich | |
herum haben?“ | |
Tatsächlich ist diese Praxis längst verbreitet, in Hessen beispielsweise. | |
Allerdings ist die Teilnahme an den Vorlaufkursen dort freiwillig. Der | |
Berliner Senat hingegen hat vor Jahren die Vorschulklassen abgeschafft und | |
stattdessen eine flexible Schuleingangsphase eingeführt. An der | |
Möwensee-Grundschule lernen Erst- und ZweitklässlerInnen zusammen; wer | |
nicht weit genug ist, bleibt noch ein drittes Jahr. | |
Zwar hat die Berliner SPD zuletzt ins Spiel gebracht, das letzte Kitajahr | |
vor der Schule zur Pflicht zu machen, um auch die letzten 5 bis 7 Prozent | |
Abstinenzler an die Kitas zu bringen. Auf taz-Anfrage äußert sich der | |
Berliner Senat aber ablehnend zu den Vorschlägen Linnemanns: „Natürlich ist | |
es wünschenswert, dass Kinder vor der Einschulung Deutsch lernen und so gut | |
in die Schule starten können.“ Das aber sei kein Grund, Kinder, die nicht | |
gut Deutsch können, länger von der Schule auszuschließen. | |
Stattdessen setzt Berlin wie fast alle anderen Bundesländer auf frühzeitige | |
Sprachförderung schon im Kita-Alter. Acht Bundesländer testen sämtliche | |
Kinder mit vier oder fünf Jahren, also bis zu zwei Jahre vor dem | |
Schuleintritt. Woanders werden nur nichtdeutsche Kinder getestet (Bayern), | |
oder solche, die keine Kita besuchen (Nordrhein-Westfalen). In Hessen ist | |
der Test freiwillig. Nur Schleswig-Holstein und Thüringen prüfendie | |
Deutschkenntnisse gar nicht. | |
Insgesamt setzen die 16 Bundesländer 21 zum Teil sehr verschiedene Tests, | |
Beobachtungen oder Screenings ein. Eine bundesweite Aussage über die | |
Sprachkenntnisse im Vorschulalter lässt sich damit nicht treffen. Eines | |
lässt sich anhand der Testergebnisse jedoch mit Sicherheit sagen: Das | |
Problem, das Linnemann angesprochen hat, exisitiert. Und zwar seit vielen | |
Jahren. Teilweise liegt der Anteil der Vorschulkinder mit | |
Sprachförderbedarf bei fast 40 Prozent. In Berlin ist er mit 15 bis 17 | |
Prozent in den vergangenen Jahren noch vergleichsweise niedrig. Wer | |
Förderbedarf hat, bekommt bis zu 18 Monate Sprachförderung – und bis zu 25 | |
Stunden pro Woche. Länger und mehr als in den meisten anderen | |
Bundesländern. Also alles gut in den Hauptstadt-Kitas? | |
## Viel Sprechen | |
Mitnichten, findet Susanne Sachse. Sachse arbeitet seit 2011 bei dem | |
Berliner Kita-Träger „Kindergärten City“, erst als Zusatzfachkraft für | |
Sprache, mittlerweile koordiniert Sachse alle sogenannten Sprachkitas ihres | |
Trägers, immerhin 44 der insgesamt 56 Einrichtungen. Sprachkitas sind durch | |
Bundesgelder geförderte Kitas, die mindestens 40 Prozent der Plätze an | |
Kinder mit „nichtdeutscher Herkunftssprache“ vergeben und neben der | |
„alltagsintegrierten“ Spracharbeit die inklusive Pädagogik als ihren | |
Schwerpunkt sehen und bewusst die Eltern einbeziehen. Dafür gibt es Geld | |
für – je nach Größe – ein bis zwei halbe Zusatzstellen für die | |
Sprachbildung. | |
„Das Konzept der Sprachkitas ist wirklich gut“, sagt Sachse. „Allerdings | |
ist es schwer, dafür qualifiziertes Personal zu bekommen.“ Das liegt auch | |
daran, dass die Stellen der Zusatzfachkräfte, die über das Bundesprogramm | |
finanziert sind, im Dezember 2020 auslaufen. Allein beim Träger | |
„Kindergärten City“ würden 36 Stellen wegfallen, sollte das | |
Familienministerium das Programm nicht verlängern. | |
Dabei ist der Fachkräftemangel jetzt schon gravierend. Nach Angaben der | |
Bildungsgewerkschaft GEW fehlen derzeit bundesweit rund 100.000 | |
ErzieherInnen. Bis 2025 werde die Lücke sogar auf über 500.000 anwachsen. | |
Und weil es sehr viele Kita-Träger gibt – allein in Berlin 1200 –, ist der | |
Austausch zwischen Grundschulen und Kitas über mögliche Lerndefizite | |
einzelner Kinder nicht leicht. Auch, weil viele GrundschullehrerInnen zu | |
große Klassen haben, um mit vielen verschiedenen Kitas im Kontakt zu sein. | |
Die Äußerungen des CDU-Politikers Linnemann hält Sachse für „nicht | |
hilfreich“. Erstens, weil Zurückstellungen um ein Jahr aus Gründen | |
mangelnder Sprachkenntnisse zwar selten, aber in begründeten Fällen | |
durchaus gemacht würden. Und zweitens, weil ihr wie vielen die | |
Stigmatisierung nichtdeutscher Familien aufstößt. „Wenn ein Kind in der | |
Kita noch nicht gut Deutsch spricht, schließt das den Schuleintritt nicht | |
per se aus.“ | |
Vor allem Kinder, die ihre Muttersprache fließend sprechen, könnten eine | |
Fremdsprache in sechs Monaten lernen, wenn sie gute Bedingungen dafür | |
finden.“ Natürlich wäre es aber wünschenswert, wenn alle Kinder frühzeitig | |
eine Kita mit ausreichend geschultem Personal besuchen – und dort mit den | |
MuttersprachlerInnen zusammen Deutsch lernen. | |
An der Möwensee-Grundschule zeigen sich Manuel Honisch und Anna Brinkmann | |
einigermaßen optimistisch. „Wir sehen, dass wir was etwas mit unserer | |
Arbeit erreichen“, sagt Honisch. Etwa die Hälfte der „Intensivfälle“ | |
könnten sie in den ersten beiden Schuljahren an das Sprachniveau des Restes | |
annähern. „Mehr geht einfach nicht“. Eigentlich stehen der Schule vier | |
volle Stellen für SonderpädagogInnen zu. Honisch und Brinkmann haben | |
zusammen 1,5 Stellen. Den Rest hat der Schulleiter bisher nicht besetzen | |
können. „Wir arbeiten hier nur mit den Supernotfällen“, sagt Honisch. | |
Dieses Jahr können er und seine Kollegin nur mehr 5 Sprachfördergruppen | |
anbieten, letztes Jahr waren es noch 7. Für die 73 neuen Schülerinnen und | |
Schüler der Möwensee-Grundschule heißt das: Wer so einigermaßen mitkommt, | |
wird nicht speziell gefördert, geht aber immerhin in die Schule – und kann | |
Deutsch lernen. | |
10 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Grundschul-Forderung-aus-der-CDU/!5611031 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
## TAGS | |
Carsten Linnemann | |
Deutschland | |
Schule | |
Grundschule | |
Kitas | |
Diversity | |
Kolumne Nachsitzen | |
Einschulung | |
Bildungspolitik | |
Bildungspolitik | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Psychologe Bernhard Kalicki über Kitas: „Viele Fachkräfte verlieren wir“ | |
Die Arbeit in Kitas muss attraktiver werden, fordert Bernhard Kalicki vom | |
Deutschen Jugendinstitut. Sonst lässt sich Personalmangel nicht beheben. | |
Sozialer Aufstieg in Deutschland: Wie ein klebriger Kaugummi | |
Die Idee, sozialer Aufstieg sei jeder und jedem selbst überlassen, ist ein | |
Mythos. Privilegiert ist, wer die rechte soziale Herkunft vorweist. | |
Sprachbarrieren an Schulen: Sprechen und zuhören lernen | |
Über mangelnde Deutschkenntnisse von Schüler*innen wird wieder debattiert. | |
Dabei ist die Dimension des Problems vielen nicht bewusst. | |
Streit um Linnemann-Äußerungen: Alle Vierjährigen testen | |
Eine Kita- und Vorschulpflicht für Kinder mit unzureichenden | |
Deutschkenntnissen ist dringend nötig, sagt der Grünen-Politiker Cem | |
Özdemir. | |
Einschulung in Berlin: „Schule verteilt Lebenschancen“ | |
Der ehemalige Schulleiter Wolfgang Harnischfeger plädiert für eine | |
Kita-Pflicht und mehr ausgebildete Lehrkräfte. | |
Grundschul-Forderung aus der CDU: Profilierung auf Kosten der Kinder | |
Ein CDU-Politiker will Kinder, die kein Deutsch sprechen, nicht in den | |
Grundschulen. Das ist falsch. Immerhin reden wir wieder über | |
Bildungspolitik. | |
Linnemanns Grundschulaussage: Setzen, Sechs! | |
Der Unionsfraktionsvize Carsten Linnemann möchte, dass Kinder erst zur | |
Grundschule gehen, wenn sie genug Deutsch sprechen. Das ist purer | |
Populismus. |