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# taz.de -- Insekten essen: Nicht die Nahrung der Zukunft
> Sechs Beine, schmackhaft und gesund: Die UN findet, Insekten sind ein
> gutes und klimafreundliches Mittel gegen den Welthunger. Aber stimmt das?
Bild: Auch nicht viel umweltfreundlicher als Hühnchen? In Myanmar werden Grill…
Berlin taz | Zu Insekten hatte ich schon immer ein gutes Verhältnis.
Deswegen war ich begeistert, als ich das erste Mal davon hörte: Sie zu
essen könne das Welternährungsproblem lösen und den Klimawandel eindämmen.
So heißt es etwa in einem Aufsehen erregenden Bericht der
UN-Welternährungsorganisation FAO von 2013. Als gesunde und CO2-arme
Nährstoffquellen sollen sie nämlich deutlich weniger Wasser, Land und
Futter verbrauchen als Vieh.
Grillen, heißt es, setzen Futter doppelt so effizient in Körpermasse um wie
Hühner und zwölfmal so gut wie Rinder. Schließlich sind sie wechselwarm und
brauchen keine Energie zur Erhaltung ihrer Körpertemperatur. Zudem sind
Insekten sehr nahrhaft und enthalten teils viel Protein. Daher, so die
These, könnten sie konventionelles Fleisch auf nachhaltige Weise ersetzen.
Laut FAO verursacht die aktuelle Nutztierhaltung nämlich fast 15 Prozent
der globalen Treibhausgasemissionen; andere Berechnungen kommen auf teils
noch deutlich höhere Werte.
Ich beschloss, mich des Themas Entomophagie, so der Fachbegriff für den
Insektenverzehr, anzunehmen. Mein Interesse führte mich nach Südostasien –
ich wollte wissen, wie man dort Insekten isst. Ich forschte jahrelang,
führte viele Interviews, probierte unzählige Insekten und vernetzte mich in
der internationalen Szene. Inzwischen muss ich sagen: Die Idee von der
Insektenlösung war zu gut, um wahr zu sein.
Aber sie wirkt: Medien stürzen sich aufs Thema, Wissenschaftler*innen
haben extra eine neue Fachzeitschrift gegründet, staatliche Institutionen
passen ihre Lebensmittelvorschriften an. Und nicht zuletzt schießen seit
einigen Jahren Insektenfirmen wie Pilze aus dem Boden. Über 200 sind es
schon, und immer öfter tauchen Grillen, Mehlwürmer und Heuschrecken in den
Verkaufsregalen auf. „Wir repräsentieren eine wachsende
Ernährungsrevolution […] für unsere Kinder und den Planeten“, heißt es a…
der Website von US-Insektensnackanbieter Chapul.
## Eigentlich ist auch so schon genug für alle da
Noch handelt es sich um eine ausgesprochene Nische, aber manche
Marktforschungsinstitute schätzen den Umsatz des Sektors für 2023 auf über
1 Milliarde US-Dollar, 2030 sollen es bereits 8 Milliarden sein. Konzerne
wie Nestlé, Cargill und PepsiCo halten ein Auge auf den wachsenden Markt.
Auch die Bill and Melinda Gates Stiftung hat sich an der Finanzierung von
Pionierunternehmen beteiligt.
Was hierzulande [1][verrückt und neu] wirkt, ist es in Wirklichkeit gar
nicht. Das vor allem im Westen verbreitete Nahrungstabu ist geschichtlich
gesehen eine Ausnahme, Insektengenuss die Regel. Auf den Festen der alten
Griechen und Römer reichte man regelmäßig fette Larven, und Aristoteles
höchstpersönlich hat Rezepte für die Zubereitung von Zikaden hinterlassen.
In Deutschland, Luxemburg und Frankreich wurden Maikäfer sogar bis ins 20.
Jahrhundert verspeist. Und nicht zuletzt isst man anderswo bis heute
Insekten, und zwar bei über 3.000 Ethnien in 130 zumeist tropischen
Ländern, wie die Forscherin Julieta Ramos-Elorduy ermittelte. Die FAO
schätzt, allerdings ohne solide Datengrundlage, dass es weltweit 2
Milliarden Menschen sind. Gesichert hingegen ist, dass inzwischen rund
2.000 essbare Arten bekannt sind, darunter Heuschrecken in Mexiko,
Mopane-Raupen in Botswana und Wasserkäfer in China.
Anders als im Diskurs oft impliziert, bilden Insekten aber keine homogene
Masse von Proteinlieferanten. Vielmehr repräsentieren sie eine unglaubliche
Vielfalt: Je nach Art, Lebensraum, Futter, Entwicklungsstadium und
Zubereitungsweise besitzen sie ganz unterschiedliche Nährwerte und auch
geschmackliche Eigenschaften. Dasselbe gilt für die Auswirkungen auf die
Umwelt. So ist die in Südostasien besonders beliebte Riesenwasserwanze ein
Karnivore und ihr Verzehr damit wohl nicht so nachhaltig, wie man meinen
könnte.
Die ersten zwei Sätze des FAO-Reports lauten: „Es gilt als unstrittig, dass
die Erde bis 2050 neun Milliarden Menschen beherbergen wird. Um sie
versorgen zu können, muss sich die aktuelle Nahrungsproduktion fast
verdoppeln.“ Damit wird unterschlagen, dass eigentlich genug Nahrung für
alle da ist. Zu dieser Einschätzung kommt selbst eine andere
UN-Institution, das Welternährungsprogramm, das die [2][weltweite Zahl der
Hungernden] auf aktuell 821 Millionen schätzt. „Über 90 Prozent von ihnen
sind schlicht zu arm, um genug Nahrung zu kaufen“, erläutert Eric Holt
Giménez, Agrarökonom und Geschäftsführer der NGO Food First. An solchen
strukturellen Ungleichheiten können auch Insekten, so lecker und
vielversprechend sie ernährungsphysiologisch sein mögen, nichts ändern.
## Ein Blick in die Zukunft: Thailand
Das wurde mir zum ersten Mal in Thailand klar, einem Land mit reicher
Insektenesskultur und gleichzeitig Vorreiter ihrer modernen
Kommerzialisierung. Es gilt deswegen in der internationalen
Entomophagie-Szene oft als Vorbild. Ich stand auf einem großen Markt an der
Grenze zu Kambodscha und beobachtete, wie Kinderarbeit im dortigen
Insektenbusiness ganz normal ist. Von da an begann ich, kritischere Fragen
zu stellen, und erfuhr immer mehr über die Widersprüche.
Viele wild gesammelte Arten sind in landwirtschaftlich intensiv genutzten
Gegenden Thailands selten geworden. Das führt im Zusammenspiel mit der vor
allem in den Städten steigenden Nachfrage zu immer höheren Preisen, die
arme Menschen nicht zahlen können. Hochwertige und auch vor Ort geschätzte
Insekten werden aus ärmeren Nachbarländern wie Laos und Kambodscha in die
urbanen Zentren Thailands exportiert. Der lukrative und weiter wachsende
Insektenmarkt bietet zwar neue Einnahmequellen und hat einigen armen Leuten
Aufstiegsmöglichkeiten eröffnet – zunächst. Zunehmend aber setzt sich eine
kleine Zahl von Profiteuren deutlich ab, darunter millionenschwere
Geschäftsleute.
Eine ältere Insektensammlerin im Nordosten Thailands formulierte es so:
„Wenn Unternehmen massenweise Insekten von uns aufkaufen, hat die nächste
Generation hier nicht mehr genug zu essen. Heutzutage werden alle möglichen
natürlichen Ressourcen immer knapper, weil sie für den Verkauf eingesammelt
werden.“
Laut der Studie „Entomophagy and Power“ profitieren vom wachsenden
Insektenhandel auch international zunehmend privilegierte Menschen. Online
vertriebene Insektenprodukte kosten zudem durchschnittlich 25 US-Dollar pro
30-Gramm-Portion und sind somit für einen Großteil der Weltbevölkerung
unerschwinglich.
## Kein großer Unterschied zur Hühnerhaltung
Thailand ist auch Pionier bei der Zucht von Insekten. Es gibt nach
Schätzungen der Universität Khon Kaen und des Landwirtschaftsministeriums
etwa 20.000 Grillenfarmen, allesamt in den letzten gut zwei Jahrzehnten
entstanden. Die dort produzierten Tiere sind zwar deutlich günstiger als
wild gesammelten Insekten, aber immer noch teurer als Fleisch. Höchster
Kostenfaktor ist das Futter. Es wird industriell gefertigt und muss
proteinreich sein, wenn die Grillen schnell wachsen sollen. Daher enthält
es neben importiertem Soja auch Fischmehl – ein ökologisch
hochproblematischer Zusatz.
Eine 2017 veröffentlichte Messung des ökologischen Fußabdrucks
thailändischer Grillenfarmen ergab dennoch, dass dieser etwas kleiner ist
als der konventioneller Hühnerzuchten. Der Unterschied sei zwar gering,
könne jedoch durch eine Intensivierung erhöht werden. Das wiederum aber,
schreibt das internationale Forscherinnenteam, „könnte Kleinbäuer*innen
marginalisieren und weniger sozio-ökonomische Vorteile aufweisen, da
größere Zuchtanlagen viel mehr Startkapital erfordern“. Dass die
Insektenzucht kein Allheilmittel ist, zeigte auch 2015 die Studie „Crickets
Are Not a Free Lunch“. Die Nachhaltigkeitswerte der dabei analysierten
Grillenzuchten waren nicht besser als die von Hühnerfarmen.
Hinzu kommt, dass die Grillen nicht nur vor Ort verzehrt, sondern zunehmend
auch – wohl recht energieaufwendig – zu Mehl verarbeitet und anschließend
durch die halbe Welt transportiert werden. Das lohnt sich wegen der
niedrigeren Lohnkosten: Im Vergleich zu kanadischem ist Grillenmehl aus
Thailand bis zu dreimal so günstig. Im Westen wird es dann zur Zutat etwa
von Energieriegeln. Die zumeist von Menschen gegessen werden, die eher mit
Übergewicht zu kämpfen haben als mit Proteinmangel. Häufig ersetzen
Insekten in der Praxis also überhaupt kein Fleisch.
Es kommt deswegen darauf an, wie sich der Sektor weiter entwickelt. Noch
weiß niemand, ob die Massenzucht von Insekten ähnliche Probleme mit sich
bringt wie die konventionelle Viehzucht: Krankheiten, Antibiotika,
Tierquälerei. Viele Firmen setzen zunehmend auf lokale, nachhaltige
Produktion. Durch die Snacks, sagen sie, wollten sie die Kundschaft
lediglich ans Insektenessen gewöhnen und ihr dann zunehmend auch Fleisch
ersetzende Hauptnahrungsmittel anbieten.
## Keine wundersamen Eigenschaften
Auch die Preise sollen durch Automatisierung sinken – und die Produkte so
aus ihrem teuren Nischendasein holen. Während manche glauben, dass der
Markt die Dinge so regeln wird, sehen andere genau im Wirtschaftssystem das
eigentliche Problem.
Ich bin mir inzwischen sicher: Selbst die effizientesten Lebensmittel –
noch nachhaltiger als Insekten sind ohnehin pflanzliche – können auf
unsoziale und ökologisch destruktive Weise hergestellt und konsumiert
werden. Das heißt nicht, dass es eine schlechte Idee wäre, Insekten zu
essen. Aber sie besitzen keine wundersamen Eigenschaften, die unsere
globalen Krisen wegzaubern.
Transparenzhinweis: Andrew Müller ist Erstautor der im Artikel genannten
Studie „Entomophagy and Power“.
29 Jul 2019
## LINKS
[1] /Wofuer-man-Quallen-nutzen-kann/!5610405
[2] /UN-Bericht-zur-weltweiten-Ernaehrung/!5612096
## AUTOREN
Andrew Müller
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