# taz.de -- Nachtfalter in Kultur und Wissenschaft: Todesbote des Klimawandels | |
> Viele kennen den Totenkopfschwärmer aus „Das Schweigen der Lämmer“. Dur… | |
> steigende Temperaturen könnte er bald häufiger bei uns auftreten. | |
Bild: Ist schon lange als mysteriöses Unglückswesen Teil unserer Kultur: Ache… | |
Jeden Sommer treibt es diesen ungewöhnlichen Schmetterling mit Totenkopf | |
auf dem Rücken aus Afrika nach Norden. Dank seiner schnittigen Flügel kann | |
er sehr gut fliegen und brummt dabei wie ein kleines Kraftwerk. Nördlich | |
der Alpen ist der Totenkopfschwärmer ein seltener Gast, taucht aber in | |
manchen Jahren überraschend häufig auf – sogar in Island und Nordfinnland | |
wurde er schon gesichtet. | |
Das könnte künftig öfter passieren. [1][Eine Studie unter der Leitung des | |
Engländers Tim Sparks] ergab, dass neben Pestiziden und dem Anbau von | |
Kartoffeln oder Tabak (Futterpflanzen der Raupen) auch der Klimawandel | |
einen Einfluss auf die Häufigkeit des Falters in Europa hat. Marcus Byrne, | |
Entomologieprofessor im südafrikanischen Johannesburg, schätzt, dass | |
[2][Acherontia atropos], so sein wissenschaftlicher Name, zunächst eher zu | |
den Gewinnern des Klimawandels gehört. Denn er liebt es warm, ist | |
anpassungsfähig und könnte sein Verbreitungsgebiet, das schon heute auch | |
den Mittelmeerraum umfasst, weiter nach Norden erweitern. | |
Vielleicht verfluchen ihn dann die Imker. Denn er dringt, sehr | |
falteruntypisch, in Bienenstöcke ein und ernährt sich mithilfe seines | |
stachelartigen Rüssels von gestohlenem Honig. Überhaupt führt der | |
Nachtfalter ein geheimnisvolles Leben und es umranken ihn teils abgründige | |
Rätsel und obskure Geschichten. Vor allem im christlichen Europa des 18. | |
und 19. Jahrhunderts galt er als Verkörperung des Bösen und Gefährlichen: | |
ein Omen, das den Tod verkündet. Auch mit Wahn, Krankheit, Krieg und | |
Unglück wurde er assoziiert. Heute kennt man ihn aus der Romanverfilmung | |
„Das Schweigen der Lämmer“. Hier züchtet ihn der Mörder und legt seinen | |
weiblichen gehäuteten Opfern jeweils eine Puppe des Insekts in den Rachen. | |
Das inspirierte weitere Filmauftritte des Falters wie den in der 2014 | |
ausgestrahlten „Tatort“-Folge „Im Schmerz geboren“, in der es die meist… | |
Toten der Krimiserie gab. Auch in der Musikszene, als Modeaccessoire und | |
in Form düsterer Tätowierungen taucht der Totenkopfschwärmer bis heute | |
immer wieder auf. | |
## „Für Horrorszenarien missbraucht“ | |
Der deutsche Schmetterlingsforscher Rolf Reinhardt hat „Das Schweigen der | |
Lämmer“ nie gesehen. Aber er bedauert, dass der Falter immer noch für die | |
„Darstellung von Horrorszenarien missbraucht“ wird, während kaum jemand | |
etwas über das Insekt selbst weiß. | |
Ich gehöre zu denen, die die eigenwillige Biologie des Totenkopfschwärmers | |
gut kennen. Denn ich habe ihn früher gezüchtet – man muss dafür kein Mörd… | |
sein. Ich weiß, er ist harmlos, und halte mich nicht für abergläubisch. | |
Aber auch mich beeindruckt sein Charisma, das immer wieder die Grenze | |
zwischen Wissenschaft und Mythos zu verwischen scheint. | |
Einen lebendigen Falter in der Hand zu halten ist eine respekteinflößende | |
Erfahrung. Er ist mit einer Flügelspannweite von bis zu 13 Zentimetern | |
eines der größten Insekten Europas, sein robuster Körper ist dicht | |
beschuppt, und die Ähnlichkeit der Zeichnung auf seinem pelzigen Rücken mit | |
einem menschlichen Totenschädel ist frappierend. Und plötzlich beginnt er | |
fast wie eine Maus zu quieken! Wenn er sich bedroht fühlt, erzeugt er im | |
Schlund ein erstaunlich lautes Geräusch. Zusätzlich streckt er die | |
bedornten Vorderbeine aus und hebt seinen Körper ruckartig hoch, wodurch | |
kurz der auffällig gelb-schwarz gestreifte Hinterleib sichtbar wird. | |
Dieses wehrhafte Verhalten runden die Männchen ab, indem sie pinselförmige | |
Drüsen ausstülpen, die einen intensiven moschusartigen Geruch verströmen. | |
Als wäre all das nicht schon genug, fressen die imposanten Raupen giftige | |
Nachtschattengewächse. Wen wundern da die unzähligen Mythen, | |
abergläubischen Erzählungen und finsteren Fantasien über den | |
Totenkopfschwärmer? | |
Sicher war zuweilen die Lust am Gruseln im Spiel, aber oft hatte man | |
tatsächlich Angst. Alte Bücher wimmeln von Berichten darüber, wie | |
Totenkopfschwärmer in Häuser eindrangen und die Bewohnenden zutiefst | |
beunruhigten. Wenn der „Totenvogel“, wie er genannt wurde, dann noch eine | |
Kerze auslöschte und mysteriös zu „kreischen“ begann, brach oft Panik aus. | |
So sollen bei einer solchen Begegnung im 18. Jahrhundert mehrere Nonnen | |
eines französischen Klosters vor Schreck in Ohnmacht gefallen sein, wie der | |
Naturforscher René-Antoine Ferchault de Réaumur berichtet. | |
## Vom Totenvogel zu Tode erschreckt | |
1719 erschrak der ehemalige Bürgermeister von Gotha offenbar wirklich zu | |
Tode: Zumindest starb er Überlieferungen zufolge, nachdem er einen | |
Totenkopfschwärmer gesehen hatte. Diese wohl früheste bekannte Geschichte | |
über den Falter als expliziten Todesboten wurde unter dem Titel | |
[3][„Eigentliche Abbildung, und glaubwürdige Nachricht von einem sehr | |
abenteuerlichen Vogel“] veröffentlicht. Auf seinem Hinterleib glaubte man | |
„ein weißes Kreuz / wie auf einem Toden-Sarg“ zu sehen. Die kunstvolle, | |
aber irrwitzige Abbildung zeigt ein umgedrehtes Kreuz – der | |
Totenkopfschwärmer als teuflischer Antichrist? Solche Geschichten sagen | |
gewiss mehr über die Ängste und Fantasien der Menschen jener Zeit aus als | |
über ihr insektoides Gegenüber. | |
In Frankreich war laut Réaumur der Glaube verbreitet, man würde erblinden, | |
wenn man die Flügelschuppen in die Augen bekäme, weshalb man ihn dort aíe | |
nannte. Im ebenfalls katholischen Polen soll man im „Schrei“ des Falters | |
die Stimme der Verzweifelten und jammerndes Klagen schmerzerfüllter Kinder | |
gehört haben. In Großbritannien besuchten 1801 angeblich gleich zwei Falter | |
den an einer geheimnisvollen Geisteskrankheit leidenden König George III. | |
Im Zoologischen Museum Cambridge kann man reale Präparate bewundern, die | |
das bezeugen sollen. | |
„Selbst wenn die Geschichte nicht stimmt, ist sie wunderschön erfunden“, | |
sagt Marcel Robischon, Professor für Fachdidaktik der Agrar- und | |
Gartenbauwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Er hat sich wie | |
kein Zweiter mit der Kulturgeschichte des Totenkopfschwärmers beschäftigt | |
und über Jahre hinweg Belege für dessen beachtliche Spuren in allen | |
möglichen naturhistorischen, philosophischen und künstlerischen Werken | |
gesammelt. | |
Bram Stoker ließ in seinem Gruselklassiker „Dracula“ den | |
Psychiatrieinsassen Renfield „dicke Schmetterlinge in der Nacht, mit | |
Totenschädel und Totengebein auf dem Rücken“ essen. Auch Jean Paul, Honoré | |
de Balzac, Virginia Woolf, Franz Werfel, H. G. Wells, Guido Gozzano und | |
Gerhart Hauptmann ließen ihn in ihren Werken auftreten. Gottfried Benn | |
schrieb in einem 1920 erschienenen Gedicht: „Nur tückisch durch das | |
Ding-Gewerde / Taumelt der Schädel Flederwisch“. | |
## Falter mit Hakenkreuz und Hitler-Kopf | |
Salvador Dalí und Luis Buñuel schenkten dem Totenkopf 1929 einen | |
Gastauftritt in ihrem Film „Ein andalusischer Hund“. Auch in der bildenden | |
Kunst taucht er auf: Auf dem Gemälde „The Hireling Shepherd“ von William | |
Holman Hunt ist zu sehen, wie der Hirte einer jungen Frau mit Lamm den | |
Falter zeigt. In John Heartfields Karikaturcollage „Deutsche | |
Naturgeschichte“ von 1934 trägt das unheilvoll adulte Tier ein Hakenkreuz | |
und den Kopf Hitlers. Vincent van Gogh malte 1889 in einer südfranzösischen | |
Nervenheilanstalt das Bild ‚Doodshoofdvlinder‘, niederländisch für | |
„Totenkopfschwärmer“. Darauf ist jedoch ein anderer Nachtfalter, | |
wahrscheinlich das Wiener Nachtpfauenauge zu sehen. | |
Marcel Robischon merkt an: „War dies nur ein Fall entomologischer | |
Unkenntnis, oder hatte van Gogh in seinem seelischen Zustand […] | |
tatsächlich den Totenkopf gesehen?“ Ein Jahr später starb van Gogh, | |
wahrscheinlich durch Suizid – wie übrigens einige der teils kaum bekannten | |
Künstler, die am Schrecken des Falters Gefallen gefunden hatten. | |
Manchmal versuchten sich entomologisch eher unbedarfte Schöngeister sogar | |
an wissenschaftlichen Theorien. So war der schwedische Schriftsteller | |
August Strindberg von Assoziationen – Totenkopfzeichnung, Moschusgeruch, | |
„Begräbniszeremonien“ verpuppungsreifer Raupen und „Grabgesang“ des Fa… | |
– so berauscht, dass er in einem Essay abenteuerlich überlegte, ob der | |
Falter nicht tatsächlich von Leichengeruch angelockt würde und die Raupen | |
an Kadavern fräßen. | |
Weiter fantasierte er, ob die Art entstanden sei, indem sich der heimische | |
Ligusterschwärmer im Futter vertat und versehentlich düstere psychoaktive | |
Substanzen zu sich nahm. Und der Philosoph Slavoj Žižek argumentierte im | |
Kontext einer Hitchcockfilmanalyse in Anlehnung an den Psychoanalytiker | |
Lacan, es könne kein Zufall sein, dass wir in der Rückenzeichnung des | |
Falters einen Totenkopf erblicken. | |
Naturwissenschaftlern – bisher sind es fast ausnahmslos Männer, die ihn | |
erforschen – kann man mit solchem Geschwurbel natürlich nicht kommen. Sie | |
halten den Falter trotz seiner Eigenarten einfach für einen Schmetterling. | |
So schrieb der deutsche Naturforscher August Johann Rösel von Rosenhof | |
bereits 1755 gegen die Totenkopfschwärmer-Mystik an. | |
## „Insecten-Belustigungen“ gegen Totenkopf-Mystik | |
In seinen [4][wissenschaftlich durchaus wertvollen | |
„Insecten-Belustigungen“] heißt es: „Die Furcht für dem Tod; das thöri… | |
Verlangen Sein künfftiges Schicksal zu wissen; die schlechte Achtung so man | |
auf die natürlichen Zufälle insgemein zu haben pfleget etc. machen daß der | |
größte Teil derer Menschen gar viele Dinge für Vorbothen eines grossen | |
Unglückes hält, für welchen ein geseztes und durch reiffes Nachdencken | |
aufgeheitertes Gemüth nicht im geringsten erschrickt.“ | |
Über vieles, was früher Anlass zu wilden Spekulationen gab, weiß man heute | |
mehr. Dass die Zeichnung auf dem Rücken in unseren Augen die Form eines | |
Totenschädels hat, sehen viele Insektenforscher als Zufall. „Ob man eine | |
spezielle Funktion zuordnen kann, ist nach jetzigem Kenntnisstand reine | |
Spekulation“, sagt Entomologe Rolf Reinhardt. | |
Eine farblich abgehobene Rückenzeichnung haben viele Schwärmerarten – das | |
ist vermutlich evolutionär sinnvoll, sei es zur Tarnung oder Abschreckung. | |
Das gelte auch für den Totenkopf, meint der Schwärmerexperte Ian Kitching | |
vom Natural History Museum London. Er glaubt nicht an Zufall, dreht aber | |
den Spieß um: „Der menschliche Geist ist evolutionär darauf trainiert, | |
auch dort Gesichter möglicher Feinde zu sehen, wo sie gar nicht | |
existieren.“ | |
Auch Marcus Byrne bleibt ganz Wissenschaftler: „Die meisten Menschen, die | |
den Falter nicht kennen, sehen den ‚Schädel‘ erst, wenn man sie darauf | |
hinweist, und viele Exemplare haben eher unscharfe Totenkopfmuster.“ | |
Interessanterweise zeichnete und beschrieb der deutsche Naturforscher Lucas | |
Schroeck den Falter 1688, ohne die Totenkopfzeichnung zu erwähnen. Erkannte | |
man sie damals vielleicht noch gar nicht als solche? | |
## Auch Entomologen verfallen seinem dunklen Charme | |
Doch verfielen immer wieder auch Entomologen dem Charme des Falters. Und | |
bisweilen schien es, als wollte man ihm menschliche Irrationalität | |
unterstellen. So hieß es lange, dass seine Honigleidenschaft und der | |
Wandertrieb einen systematischen Suizid darstellen. Ein sich selbst | |
opfernder Totenkopf – das passt natürlich zum morbiden Gesamtbild des | |
Falters. | |
Es sind jedenfalls noch lange nicht alle Rätsel um den Falter gelöst. Die | |
Erforschung des Totenkopfschwärmers wird kaum gefördert, weil die Art als | |
Schädling in Mitteleuropa irrelevant ist. Wenn er durch den Klimawandel | |
tatsächlich häufiger wird, könnte sich das ändern. | |
Die [5][britische Zeitung Guardian] berichtete kürzlich, dass der Falter im | |
heißen Sommer 2019 relativ oft anzutreffen war. Heutzutage stirbt wohl | |
keiner mehr vor Schreck bei seinem Anblick. Aber vielleicht gilt es bald | |
wieder als gar nicht so irrational, seine übers Mittelmeer wehende | |
Erscheinung als Todesbotschaft zu verstehen. | |
19 Jan 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1365-2486.2005.00910.x | |
[2] http://tpittaway.tripod.com/sphinx/a_atr.htm | |
[3] https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10231056_000… | |
[4] https://gdz.sub.uni-goettingen.de/id/PPN369101308 | |
[5] https://www.theguardian.com/environment/2020/jan/02/a-warm-welcome-the-wild… | |
## AUTOREN | |
Andrew Müller | |
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