# taz.de -- Die Wahrheit: Das Glück Stück für Stück zurück | |
> Recycling mal etwas anders: Die Stadt Berlin geht immer neue Wege bei der | |
> Müllbeseitigung und Wertstoffverwertung. | |
Bild: Überquellende Wertstofftonne, Berlin 2019 | |
Breitgetretene Kaugummiflatschen auf dem Pflaster, achtlos weggeworfene | |
Kippenstummel, Papierfetzen aller Art, Plastiktüten voller Fäkalien, als | |
Geschenke getarnter Sperrmüll. Öffentlich ausgestellter Schrott gehört zum | |
Berliner Stadtbild wie Shisha-Bars und zugeparkte Fahrradwege. | |
Gegen dieses Schmuddel-Image geht der Senat nun mit dem Modellversuch | |
„Berliner Wertstoffzuweisung“ vor. Wir begleiten eines von fünf | |
Wertstoffmobilen bei seinem Einsatz. | |
An einem frühen Vormittag steuern die Mitarbeiter der Berliner | |
Stadtreinigung (BSR) in ihren orangefarbenen Overalls das Kreuzberger | |
Mietshaus an. Teamleiterin Rosalie Ranke drückt mit beiden Unterarmen auf | |
sämtliche Klingelknöpfe des Hauses. Dann öffnet sie die Tür für ihre vier | |
Kollegen. Sie sind schwer bepackt mit allerlei Tüten, riesigen Kisten, | |
einer Waschmaschine, mehreren unvollständigen Fahrrädern, drei fleckigen | |
Matratzen, einer Mikrowelle und zwei Röhrenfernsehern. Bevor die Haustür | |
ins Schloss fällt, schnappt sich Ranke ein paar auf dem Bürgersteig | |
herumgammelnde Europaletten. | |
Im ersten Stock steht ein verschlafen wirkender Schlaks in sportlichen | |
Shorts vor seiner Wohnung und reibt sich die Augen, während er die ihm | |
kredenzten Dinge betrachtet. „Das hab ich nicht bestellt“, sagt er | |
irritiert. „Ich warte auf neue Sneakers.“ | |
## Wo ist Zuhause, Mama? | |
„Heute kriegen Sie von der Stadt Berlin Geschenke“, erklärt Ranke. „Hier, | |
die müssten Ihnen passen.“ Sie drückt ihm ein ausgetretenes Paar | |
schmuddlig-grauer Sportschuhe an die Brust. Zudem bekommt er die Mikrowelle | |
aufgeladen. „Ist der Retrolook nicht stylisch?“, fragt Ranke fröhlich. | |
„Was soll das?“ Ächzend stellt der junge Mann die Dinge in seinem Flur ab. | |
„Das sind Geschenke, die Ihre Mitberlinerinnen und Mitberliner zur | |
Weitergabe auf die Bürgersteige gestellt haben. Wir haben das alles vorhin | |
eingesammelt und verteilen es nun in ihrer Nachbarschaft. Schönen Tag | |
noch!“ | |
Ohne auf etwaige Einwände einzugehen, wendet sich Ranke der Nebentür zu. | |
Die ist verschlossen und bleibt es auch nach energischem Klingeln und | |
Klopfen. „Wer nicht zu Hause ist, muss nicht traurig sein“, erklärt die | |
BSR-Frau. „Bei Heimkehr erwartet ihn ein Überraschungsbeutel mit gemischten | |
Kleinteilen.“ Sie stellt eine prallgefüllte Plastiktüte vor die Tür, oben | |
drauf ein Faltblatt, das die „Berliner Wertstoffzuweisung“ erläutert. | |
## Lasst uns eilen, dem Müll eine Abfuhr erteilen | |
„Oft fehlt in Charlottenburg das, was die Weddinger im Überfluss besitzen“, | |
heißt es dort. „Weil Berlinerinnen und Berliner selten ihren angestammten | |
Kiez verlassen, sind unsere Teams bemüht, die eingesammelten Wertstoffe | |
über die Bezirksgrenzen hinaus umzuverteilen.“ | |
Nach einer halben Stunde ist das gesamte Haus mit den in diesem Fall aus | |
dem südlichen Stadtteil Britz stammenden Gaben versorgt. Ein missgelaunter | |
Mieter aus dem Seitenflügel, zwischen dessen Beinen eine nicht besser | |
gestimmte Dogge knurrt, darf sich über einen gut gefüllten Eimer | |
Mischexkremente freuen, dessen Inhalt aus dem Tank eines mobilen | |
Hundekotsaugers der Stadtreinigung stammen. Bevor der verdutzte Empfänger | |
protestieren kann, konfrontiert ihn Ranke mit der entwaffnenden Frage: | |
„Oder haben Sie etwa immer Tütchen dabei?“ | |
Der für Wertstofffragen zuständige Staatssekretär Sigmar Vegarth verspricht | |
sich viel von dem Modellversuch. „Was am Straßenrand noch oll und | |
unbrauchbar wirkt, sorgt im heimischen Umfeld rasch für eine kreative | |
Dynamik. Wenn’s schon mal bei einem rumsteht, kann man’s vielleicht doch | |
gebrauchen.“ Bewusst mache die Stadt sich die Unflexibilität der meisten | |
Berliner zu eigen. „Viele sind schlichtweg zu träge, das ihnen von unseren | |
Wertstoffteams in den Flur Gestellte wegzubringen“, sagt Vegarth. „Und nach | |
ein paar Monaten haben sie es als zu ihrem Wohnumfeld gehörend akzeptiert.“ | |
## Reiseresterampe | |
Selbst Touristen müssen nicht leer ausgehen. Die Taskforce „Reisereste“ | |
versorgt Berlinbesucher mit den Hinterlassenschaften ihrer Vorgänger. „Wer | |
wohnt schon gerne in einer sterilen Hotelkabine?“, fragt Staatssekretär | |
Vegarth. „Gerade in Berlin suchen die Touristen nach Authentizität“, | |
erklärt er. „Eine Ferienwohnung ohne Blutspritzer an der Tapete und | |
suppenden Biomüll unter der Spüle ist so München. Das können wir uns hier | |
wirklich nicht erlauben.“ | |
Besonders junges Easyjetset-Partyvolk aus Spanien, Moskau oder Peine käme | |
nur für wenige Nächte in die Stadt und habe gar keine Zeit, den rechten | |
Flair selbst herzustellen. „Die freuen sich über ein halbes Döner im | |
Kühlschrank oder kalte Pommes neben dem Kopfkissen“, ist Vegarth überzeugt. | |
Und wenn sie Glück haben, können die Kurzzeitgäste endlich auch hautnah, | |
also Wand an Wand, miterleben, wie Berliner feiern. In trendigen Gegenden | |
mit hoher Airbnb-Dichte hat der Senat Feierwohnungen angemietet, die jeder | |
Einwohnerin, jedem Einwohner der Stadt einmal im Jahr kostenfrei zur | |
Verfügung gestellt werden. Bei Geburtstagen über 75 und Goldenen Hochzeiten | |
werden zudem Tischfeuerwerke und Alleinunterhalter gestellt. Entsprechende | |
Soundanlagen und Heimorgeln sind in jeder dieser Wohnung vorhanden. | |
Verstärkeranlagen übertragen Gespräche und Gesänge in alle Flure und | |
Treppenhäuser. Vorsorglich wurde sogar der Trittschallschutz unterm Laminat | |
entfernt, damit kein Besucher Berlins hinterher sagen muss, die Stadt sei | |
ihm zu leise und zu langweilig bei dem Schallmüll. | |
## Baltische EU-Befürworter? Europaletten | |
So gibt sich auch ein übernächtigt wirkender Jungtourist, den das | |
Rückgabeteam Kreuzberger Mietshaus antrifft, euphorisch erregt, als ihm | |
eine prall gefüllte Tüte übergeben wird. Zumindest deutet BSR-Lady Ranke | |
sein wildes Gestikulieren entsprechend. Zu einem Gespräch kommt es nicht. | |
Fehlende Fremdsprachkenntnisse sind ein Haupteinstellungsmerkmal für das | |
Wertstoffteam um Rosalie Ranke, dessen Arbeitszeiten nicht unnötig durch | |
Diskussionen verlängert werden sollen. | |
„Diese unbändige Freude rührt mich immer wieder“, sagt Ranke. Viele | |
Touristen würden sich nicht trauen, den am Straßenrand abgestellten Krempel | |
anzurühren. Drücke man ihnen diesen jedoch in die Hand, wirkten viele | |
mitunter ganz beseelt. Berliner Vintage-Waren seien die besten Mitbringsel | |
für daheimgebliebene Freunde und Verwandte. Auch Stadtrat Sigmar Vegarth | |
ist überzeugt: „Bessere Imageträger als den Müll dieser Stadt kann ich mir | |
wahrlich nicht vorstellen.“ | |
24 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Thilo Bock | |
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