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# taz.de -- Die Wahrheit: Berliner Verschwindibusse
> Nicht nur Warnstreiks, auch geisterhaft verwehende Züge und Wagen stören
> den Nahverkehr in der Hauptstadt.
Bild: Fotografische Beweise für die bloß schemenhaften Phantomzüge sind äu�…
Wer kennt das nicht? Ein überfüllter Bahnsteig, eine windumwehte
Haltestelle – und alles starrt erwartungsvoll auf „Daisy“. Jenes Dynamisc…
Auskunfts- und Informationssystem, das mit orange leuchtenden Buchstaben
verheißt: Die nächste Bahn, der nächste Bus kommt bald.
Erst sind es acht Minuten, irgendwann vier, dann drei, zwei und schließlich
liegt zwischen Warten und Weiterfahrt nur eine einzige Minute. Über die
Besonderheit dieser letzten Minute hat die Göttinger Verkehrsforscherin
Franziska Schwink kürzlich eine kaum beachtete Studie vorgelegt. Am
Beispiel der Berliner Verkehrsbetriebe beschreibt sie das Verschwinden der
Zeit in der modernen Mobilität: „Die BVG-Minute. Reisende zwischen Bangen
und Hoffen“.
## Spirituelles Blinken
„Die BVG-Minute ist stets etwas länger als die entsprechende Zeiteinheit
auf einer Normaluhr“, erklärt Franziska Schwink. „Jedenfalls, wenn sie
wartend erlebt wird. Ist man selber verspätet, passiert es oft, dass die
BVG-Minute ersatzlos und aus Gründen wegfällt.“ Meist seien das ganz
menschliche Gründe: „Der Fahrer befindet sich persönlich in einer
Überstunde, hat kein Zeitgefühl oder sieht einfach gern Menschen, die
Verkehrsmitteln hinterherhetzen.“
In der Regel aber will solch eine BVG-Minute nicht enden. Sie verdickt sich
gallertartig, so wie die Luft an dem Ort, an dem sie verbracht wird. Die
Hauptstadt gilt längst nicht nur verkehrstechnisch als „dysfunktionaler
Teil Deutschlands“. Auf Berliner Straßen, Trassen und im Untergrund aber
offenbaren sich geradezu spirituelle Ereignisse. So ist Franziska Schwink
im Rahmen ihrer Forschungen auf ein ganz neues Phänomen gestoßen. „Früher
verging selbst die längste Ewigkeit, und die Auskunftsanzeige begann
irgendwann zu blinken“, sagt sie. „So wurde die Einfahrt eines Zuges oder
die Ankunft eines Busses begleitet.“ Neuerdings blinke „Daisy“ häufiger
ohne zugehöriges Verkehrsmittel, bis die Ankündigung ganz von der Anzeige
verschwinde. „Da kann man dann lange warten.“
## Verstörende Wahrheit
Was aber ist mit dem nicht eingetroffenen Zug geschehen? Längst wird in den
sozialen Netzwerken darüber diskutiert. YouTuber „Fairverkehr“ spricht von
„virtuelle[n] Phantomfahrten, die allein auf den Displays der BVG
existieren, um den elendig Ausharrenden zu suggerieren, dass doch noch mehr
fährt als ihre Hoffnung, selbst wenn sich beides aktuell verspätet.“
Derartige Gerüchte werden offenbar gezielt verbreitet, um die Bevölkerung
nicht unnötig zu beunruhigen. Die Wahrheit hingegen ist so schlicht wie
verstörend: Niemand weiß, wo diese Busse und Bahnen abgeblieben sind. Die
BVG-Chefin Sigrid Nikutta gibt sich zerknirscht: „Nicht nur, dass uns die
Fahrzeuge fehlen, unsere besten Fahrerinnen und Fahrer sind ja auch weg!“
Der Berliner Volksmund nennt die vermissten Verkehrsmittel mittlerweile
„Verschwindibusse“. Die Werbeabteilung der BVG hat bereits eine Kampagne
gestartet, die verspricht, dass für die Fahrt im Verschwindibus kein
Aufpreis gezahlt werden müsse – falls sie nicht länger als zwei Stunden
dauert.
## Rückfahrt in andere Dimensionen
Nun wird zeitnah nach Lösungen für das Probleme gesucht – auch außerhalb
der bekannten und realen Welt: Die zuständige Senatsverwaltung hat den
indischen Verkehrsspiritisten Sharukh Jaadoo beauftragt, der Sache auf den
Grund zu gehen. Unterstützt von mehreren Wünschelrutengängern richtet der
Mobilitätsguru an neuralgischen Stationen der deutschen Hauptstadt einen
Auspendelverkehr ein, so auch am Gleisdreieck, wo sich die Fälle
unauffindbarer Züge zuletzt häuften.
Auf Twitter wird der Kreuzberger U-Bahnhof bereits das Bermudadreieck
Berlins genannt. Der Inder Jaadoo, der sonst Metropolen seines Heimatlandes
bei der Stauvermeidung auf dem Pfad des Dharma berät, vermutet, dass es
längst ein Parallelberlin gibt: „Wie in Mumbai und Kolkata trifft man hier
tagtäglich auf Menschen und Dinge, die nicht mit der Realität in Einklang
zu bringen sind, weil sie einem Paralleluniversum entstammen, da müssen wir
zumindest Zügen und Bussen eine möglichst barrierefreie Rückfahrt aus einer
anderen Dimension bahnen“, erklärt er in erstaunlich fehlerfreiem Deutsch.
## Ersatzverkehr aus dem Jenseits
Erste Erfolge konnte das Team um Sharukh Jaadoo jetzt erzielen. Dank
intensiver Beschwörungen ließen sich Sitzteile eines Busses der Linie M29
und mehrere Nothammer aus den Zügen der Tramlinien M10 und M13 aus dem
Nirwana zurückholen. Und gestern dann die Sensation: Ein kompletter
Verschwindibus der Linie 100 ist wieder aufgetaucht – auf den Gleisen
zwischen Kottbusser Tor und Prinzenstraße. Ihn von der Hochbahntrasse zu
heben, wird nicht ganz einfach. Sharukh Jaadoo ist dennoch zuversichtlich:
„Trotz des knappen Fahrzeugkontingents werden wir zeitnah einen
Schienenersatzverkehr aus dem Jenseits einrichten können.“
3 Apr 2019
## AUTOREN
Thilo Bock
## TAGS
BVG
Verkehrspolitik
Spiritualität
Schwerpunkt Coronavirus
Müll
Berlin
Beziehung
Reichsbürger
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