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# taz.de -- Die Wahrheit: Stammgermanen, Schlammgeburten
> Neben den berüchtigten Reichsbürgern lehnen auch weitaus
> traditionsreichere und ältere Barbarenhorden die Bundesrepublik ab.
Bild: Die Stammgermanen behaupten, niemals einen Friedensvertrag mit Rom geschl…
Sie sind mitten unter uns. Kaum einer bemerkt sie, und wenn doch, tut man
sie vorschnell als Spinner ab. Das stört sie nicht im Geringsten, denn sie
lehnen unser Wertesystem ohnehin ab. Die Stammgermanen – sie leben
unbemerkt in deutschen Wäldern.
Zu ihren Anführern zählt Ingwar der Schiefe. Gerade hatte er alle Hände
voll zu tun mit den Begräbnisfeierlichkeiten für seinen Vater und ist zu
allem Unglück liegengeblieben mit einem alten Unimog. Die Hinterachse war
gebrochen. Weil der Rest seiner Sippe beim Jagen war, kam Ingwar auf die
Idee, bei der ADAC-Pannenhilfe anzurufen.
Eine dumme Idee, wie er im Nachhinein findet. Ingwar der Schiefe schüttelt
das zottelige Haar. „Da fragt mich der Hotline-Flachkopp, ob ich Steine
geladen hätte! Ich mein, ich stand mit ’nem Achsbruch im Hohlweg und jeden
Moment konnte der einäugige Gantfred mit seiner Mufflonherde vorbeiziehen.“
## Letzte Ruhe im Hünengrab
Ingwar ist immer noch ziemlich geladen. Dabei war sein Wagen lediglich mit
einem einzigen Stein beladen, einem großen Stein. Einem sehr großen Stein.
Dem größten Stein, den Ingwar hatte auftreiben können. Das Grab für
Wendelbert den Schmächtigen ist ein Hünengrab. Diese hierzulande untypische
Art der Beisetzung wird von den wenigstens Bestattungsinstituten angeboten.
In der Familie Ingwar des Schiefen ist sie dennoch üblich.
„Bei uns finden alle Männer ihre letzte Ruhe in einem Hünengrab und das
seit Jahrhunderten“, bestätigt Ingwars Bruder Rodewin der Geruchslose. Die
Familie blickt zurück auf eine lange Tradition, die sie bewahren konnte
dank einer Parallelexistenz zu den jeweils politischen Verhältnissen.
„Dieses Deutschland interessiert uns einen feuchten Wurmschiss!“,
konstatiert Rodewin trotzig. Die Bundesrepublik ist für ihn kein souveräner
Staat, sondern eine Behelfseinrichtung für – wie er sich ausdrückt –
„Menschen, die den Vogelflug nicht richtig deuten können“.
Stammgermanen wie Ingwar der Schiefe und Rodewin der Geruchslose behaupten,
seit der Vertreibung der Römer ohne Friedensvertrag zu leben. Den
entscheidenden Schritt haben ihre Vorfahren jedoch unternommen, als die
Karolinger kamen, um ihr Fränkisches Reich zu vergrößern und die
Unterworfenen zwangszutaufen. „Das wollten wir nicht mitmachen“, sagt
Ingwar. „Da haben wir uns einfach im Wald versteckt. Offiziell sind wir nie
unterworfen worden.“
## Frei und ungebunden
Ihrer Auffassung nach sind die Stammgermanen frei und ungebunden ohne
Papiere, aber mit eigener Rechtsprechung am Fuß einer mächtigen Eiche. Und
trotzdem gehen sie mit der Zeit. Ganz selbstverständlich benutzen sie
Computer und Smartphones, auch wenn der Empfang in ihrem Wald nicht gerade
optimal ist. Das empört Rodewin sehr. „Diese Schlammgeburten geben sich
größte Mühe, unser Siedlungsgebiet in ein Funkloch zu tauchen.“
Derartige Vorwürfe weisen die zuständigen Behörden weit von sich. Vielmehr
hätten die Waldbewohner die mit dem Bau eines Sendemastes beauftragte Firma
mit Äxten und Steinen vertrieben. „Die wollten unsere Odinseiche fällen“,
sagt Rodewin. „Es hat nicht viel gefehlt, und die Telekom hätte einen
Märtyrer gehabt wie damals die Kirche mit ihrem ignoranten Bonifazius.“
Der Kleinkrieg mit Netzbetreibern, das Problem mit dem ADAC, der keine
Plakette für Germanien anbietet – allenfalls Beiwerk eines grundsätzlichen
Konflikts mit dem deutschen Staat, den die Stammgermanen nicht anerkennen.
Ihrer Auffassung nach besteht Deutschland aus einer Vielzahl voneinander
unabhängiger Stammesgebiete mit jeweils eigenständigen Verwaltungen, die
sogenannten Gaufürsten unterstehen. Einer von ihnen war Wendelbert der
Schmächtige, Ingwars und Rodewins jüngst leider verstorbener Vater.
## Immerwährende Völkerwanderung
Aus Sicht der Stammgermanen sind Finanzforderungen des Staates illegal.
„Kackt mein Hund in den Wald, kackt er in Stammesgebiet. Da muss mir keiner
mit einem Tütchen kommen“, schimpft Rodewin. Jüngst war es zur
Auseinandersetzung zwischen ihm und einer Mitarbeiterin des Ordnungsamts
gekommen, nachdem Rodewins Dogge Hampfwahn in den Kasseler Stadtpark
gekotet hatte.
„Für die Stammgermanen ist quasi jeder Flecken Deutschlands Stammesgebiet“,
erklärt Kriminalpsychologe Klaus Hansen. Er befasst sich seit Jahren mit
dem Phänomen. „Wenn ein Stammgermane umzieht, ist das Teil einer
immerwährenden Völkerwanderung.“ Die Stammgermanen sind keine homogene
Gruppe und sogar teilweise seit Generationen verfeindet. Das äußert sich
mitunter in kämpferischen Auseinandersetzungen, denen die Behörden machtlos
zusehen. Auch ist man bemüht, nicht zwischen die Fronten zu geraten.
Unlängst wurde ein Mannschaftswagen der Thüringischen Polizei von mehreren
riesigen Felsbrocken getroffen, abgefeuert von einem mächtigen Katapult.
Der TÜV hat dieses Gerät nach einer anschließenden Prüfung sofort aus dem
Verkehr gezogen.
Die Stammgermanen haben eigene Währungen, jeder Stamm eine andere, für die
es selbst untereinander keine Wechselkurse gibt. Das führt zwangsläufig zu
Konflikten mit dem deutschen Fiskus. So wurde der Familie von Ingwar und
Rodewin gerade eine Steuernachzahlung für die letzten 1.500 Jahre
zugestellt. Die Brüder halten sie für unerfüllbar. „Selbst wenn wir zahlen
wollten: Wo sollen wir denn die ganzen Eicheln herkriegen, die wir dieser
BRD da schulden?“
## Reichsbürger sind Weicheier
Wie viele Stammgermanen es in Deutschland gibt, weiß niemand. Die meisten
verstecken sich dauerhaft im Wald. Doch viel schlimmer als die Konflikte
mit öffentlichen Stellen ist für die Stammgermanen, dass sie in letzter
Zeit häufig mit der in Mode gekommenen Bewegung der Reichsbürger
verwechselt werden. Ingwar der Schiefe kann darüber nur seine blonden Zöpfe
schütteln. Reichsbürger sind für ihn die allergrößten Weicheier. „Die
berufen sich auf das Deutsche Reich, das nicht einmal läppische 100 Jahre
gehalten hat. Nicht einen einzigen Krieg haben die gewonnen!“, echauffiert
er sich. „Germanien dagegen gab es schon, da war Rom noch nicht mal zu Ende
gebaut.“
Das Hünengrab von Wendelbert dem Schmächtigen ist rechtzeitig fertig
geworden. So konnte der Vater von Ingwar und Rodewin mit allen erdenklichen
stammgermanischen Ehren mitten im Wald unter einem riesigen Stein bestattet
werden, an der Seite seines geliebten Pferdes Donnerpfuhl.
14 Dec 2016
## AUTOREN
Thilo Bock
## TAGS
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taz-Serie: Die Reichsbürger
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