# taz.de -- Die Wahrheit: Der gemeinsame grüne Gefährte | |
> Wenn zwei Menschen einen imaginären Freund teilen, müssen nicht nur die | |
> realen Parteien Rücksicht aufeinander nehmen. | |
Bild: Eingebildete Partner oder Freunde fühlen sich manchmal von der Gesellsch… | |
Lothar und Silke kennen sich über ihren gemeinsamen Freund Karl. Soweit so | |
normal, wäre Karl nicht ein großer grüner Tiger. „Karl kenne ich mein | |
ganzes Leben“, erzählt Lothar. „Lange war er mein einziger Freund. Meine | |
Eltern haben nie in Frage gestellt, dass er bei uns wohnt. Allerdings | |
musste ich ihn vor Besuchern verstecken.“ Und ging Lothar in die Schule, | |
blieb der Tiger daheim. Abends hat er ihm dann bei den Hausaufgaben | |
geholfen. „Karl wusste eigentlich alles“, sagt Lothar mit seligem Gesicht. | |
„Nur Rechnen ist nicht so seine Stärke.“ | |
An dieser Stelle wird Lothar jäh unterbrochen. Von dem grünen Tiger, der | |
neben ihm sitzt oder liegt. Genaueres wissen wir nicht. Karl ist nämlich | |
unsichtbar und nicht zu hören, jedenfalls für uns. Lothar dagegen führt ein | |
reges Gespräch mit dem Tiger, der offenbar bestreitet, nicht rechnen zu | |
können. Im Addieren und Subtrahieren scheint er sehr gut zu sein, das | |
bestätigt Lothar, während Karl Fähigkeiten wie Multiplizieren und | |
Dividieren für deutlich überschätzt halte. | |
## Ein großer Bruch | |
Leicht ist es nicht, mit den beiden ein Gespräch zu führen. Das weiß | |
Lothar, weshalb er das Reden übernimmt. Er erzählt auch, wie es zum Bruch | |
zwischen ihm und Karl gekommen sei. Der ist lange überwunden. Damals jedoch | |
war es die große Katastrophe, ausgelöst von der ersten richtigen Liebe. Sie | |
hieß Yvonne und Junge wie Tiger waren hoffnungslos verknallt in sie. | |
„Das war nicht einfach“, sagt Lothar. „Klar, hatte ich Angst, Karl könnte | |
mir Yvonne wegnehmen. Er sagt ja, er war nicht interessiert. Trotzdem | |
wollte Yvonne nichts von mir wissen. Den Rest hat die Eifersucht gemacht. | |
Ich habe Karl dann rausgeschmissen.“ | |
Lothar wischt sich die Augenwinkel. Obwohl die Episode weit über zwanzig | |
Jahre her ist, berührt sie ihn nach wie vor. Doch schnell wird er wieder | |
fröhlich. Womöglich legt ihm der Tiger eine Pfote auf die Schulter. Er | |
seufzt. „Zum Glück war unsere Trennung nicht für alle Zeit.“ Jahrelang | |
hatten die beiden keinerlei Kontakt zueinander. Bis sie sich mitten in der | |
Nacht auf der Straße begegnet sind. „Ich kam von einer Feier“, sagt Lothar. | |
„Öde wie immer. Also habe ich mich mit einer Flasche Schnaps angefreundet.“ | |
## Weihnachten bei den Eltern | |
Auf dem Heimweg sei er über etwas gestolpert. „Als ich so auf dem Gehweg | |
lag und mich aufregen wollte, welcher Penner da so rumliegt, erkenne ich | |
meinen alten Freund Karl! Der war auch nicht mehr nüchtern.“ Er lacht. „Und | |
ob!“, fügt er dem Tiger zugewandt hinzu. „Du warst deutlich besoffener als | |
ich. Du wusstest ja nicht mal mehr, wo du wohnst.“ | |
Seitdem leben die beiden wieder zusammen. Zu Partys sind sie danach kaum | |
gegangen. „Da hat sich nicht viel geändert“, sagt Lothar. „Mit einem Tig… | |
in der Öffentlichkeit wirst du immer seltsam angeschaut. Als Kind hab ich | |
das gar nicht so wahrgenommen.“ Bloß zu seinen Eltern nimmt er Karl | |
regelmäßig mit. „Die kennen ihn nun mal.“ Lothar zuckt mit der Schulter. | |
„Richtig begeistert waren sie nicht, dass Karl wieder Teil meines Lebens | |
war. Erst als ich gedroht habe, Weihnachten ohne sie zu feiern, haben sie | |
klein beigegeben.“ | |
## Ziemliche Überraschung | |
Ob Lothar und Karl jedoch auch das nächste Christfest mit den Eltern | |
verbringen werden, steht noch in den Sternen. Die beiden haben nämlich | |
Silke getroffen. Genau genommen hat Lothar sie erst kürzlich kennengelernt, | |
während Karl schon länger mit ihr bekannt zu sein scheint. „Das war ’ne | |
ziemliche Überraschung!“ Lothar lacht. „Ich hab mich durchaus gewundert, | |
dass Karl manchmal weg ist, also auch, wenn ich nicht gerade arbeite.“ | |
Zu seiner Arbeitsstelle nehme Lothar Karl ohnehin nicht mit. „Was sollen | |
die Schüler von mir denken? Ich erzähl denen was von Infinitesimalrechnung | |
und an meiner Seite steht ein Tiger, der Multiplikation für eine | |
überschätzte Rechenart hält.“ Grinsend knufft Lothar in die vermeintliche | |
Leere neben sich. „Aber mal im Ernst: Meine Kollegen bringen ja auch keine | |
Freunde und Partner mit in die Schule, höchstens zum Sommerfest. Selbst da | |
wollte Karl früher nie mit.“ | |
## Bekannte seit der Kindheit | |
Das ist nun anders. Zum letzten Hoffest begleitete bereits Silke die | |
beiden. „Viele halten Silke ja für meine Lebensgefährtin“, sagt Lothar. | |
„Karl hat damit kein Problem. Anfangs dachte ich natürlich, das wäre ganz | |
anders.“ Eines Nachmittags sah Lothar auf dem Nachhauseweg nämlich seinen | |
Freund auf einer Parkbank sitzen. „Er ist doch sonst nie allein spazieren | |
gegangen“, sagt Lothar. „Und plötzlich sitzt er da so. Bei ihm eine Frau. | |
Ich wollte mich schon heimlich fortschleichen.“ | |
Doch der Tiger hat ihn zu sich gewunken und ihm die Frau vorgestellt. „Das | |
war ein eigenartiger Moment“, übernimmt Silke an dieser Stelle die | |
Erzählung, nachdem sie dem Gespräch bisher stumm vom Sofakissen aus | |
gelauscht hat. „Ich kenne Karl seit meiner Kindheit. Nur waren meine Eltern | |
nicht so verständig wie die von Lothar.“ Sie seufzt. Es fällt ihr schwer, | |
von den, einem kleinen Mädchen endlos vorkommenden Therapiestunden zu | |
erzählen, zumal der sie bis dahin überallhin begleitende Tiger irgendwann | |
keinen Nerv mehr für derlei hatte und sich aus ihrem Leben verabschiedete. | |
Erst Jahrzehnte später habe sie ihn zufällig wieder getroffen. „Aber | |
denkste, Karl sagt von selbst, dass er noch einen anderen Freund hat?“ | |
Vorwurfsvoll blickt sie auf den freien Platz zwischen sich und Lothar. | |
## Imaginäres Glück zu dritt | |
„Er hatte halt Angst, dass wieder das gleiche passiert wie damals mit | |
Yvonne“, versucht Lothar Karl in Schutz zu nehmen. | |
„Ja, natürlich!“, sagt Silke. „Doch das war einmal. Heute sind wir | |
erwachsen.“ Sie und Lothar lächeln versonnen. Und der grüne Tiger in ihrer | |
Mitte vermutlich auch. Freuen wir uns für die drei! Nicht viele haben das | |
Glück, ihren imaginären Freund mit einem anderen Menschen teilen zu dürfen. | |
24 Oct 2018 | |
## AUTOREN | |
Thilo Bock | |
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