| # taz.de -- Hans Georg Calmeyer: Retter und Täter zugleich | |
| > Während der deutschen Besatzung der Niederlande hat Hans Georg Calmeyer | |
| > Tausende von Juden gerettet. Glorifizieren muss man ihn deshalb aber | |
| > nicht. | |
| Bild: Vor seiner Zeit in der „Entscheidungsstelle“: Hans Georg Calmeyer in … | |
| Osnabrück taz | Um Hans Georg Calmeyer ranken sich Legenden. Er sei der | |
| Oskar Schindler von Osnabrück, heißt es in Anspielung auf den | |
| Fabrikbesitzer, der rund 1.200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung | |
| bewahrte. Ein ethisch über jeden Zweifel erhabener Retter, ein selbstloser | |
| Heroe, ein mutiger Kämpfer für Selbstbestimmung und Gerechtigkeit. | |
| Tausenden Juden habe der Rechtsanwalt Calmeyer während der deutschen | |
| Besatzung der Niederlande das Leben gerettet, indem er sie vor der | |
| Deportierung in die Vernichtungslager bewahrt habe. Calmeyer selbst sprach | |
| nach Kriegsende von 17.000 Menschenleben. Aber mit Legenden ist es so eine | |
| Sache, und Calmeyer bildet da keine Ausnahme: Dass er vielen Juden geholfen | |
| hat, steht außer Frage. Doch von 17.000 geretteten Leben war er weit | |
| entfernt – und eine Lichtgestalt war er nicht. | |
| Die Geschichte begann im Frühjahr 1941. Der Osnabrücker Calmeyer, der am | |
| deutschen Einmarsch in die Niederlande als Wehrmachtssoldat teilgenommen | |
| hatte, wurde auf eigenen Antrag an das „Reichskommissariat für die | |
| besetzten niederländischen Gebiete“ abgeordnet, in die Besatzungsverwaltung | |
| nach Den Haag. Dort leitete er die Abteilung „Innere Verwaltung“ und damit | |
| die „Entscheidungsstelle über die Meldepflicht aus Verordnung 6/41“ – das | |
| „Judenreferat“. Die Abteilung war bis Herbst 1944 aktiv und zuständig für | |
| „rassische Zweifelsfälle“ der Gesamterfassung der jüdischen Bevölkerung … | |
| Landes. Ergaben sich Zweifel, ob jemand als „ganz oder teilweise jüdischen | |
| Blutes anzusehen ist“, konnte das die Rettung bedeuten. In Calmeyers | |
| Dienststelle ergaben sich oft Zweifel – mit Absicht. Wissentlich | |
| akzeptierte sie gefälschte Taufbescheinigungen und Verlustanzeigen für | |
| Personalausweise. | |
| Was den Anschein der Echtheit erweckte, wirkte. Anwälte waren daran | |
| beteiligt, Ärzte, Standesbeamte, Gutachter, Kirchengemeinden. Ein | |
| „ausgeprägtes Empfinden der Rechtlichkeit“ sei sein „Erbgut“ gewesen, | |
| schrieb Calmeyer in seiner autobiografischen Lebensbilanz von 1946/47, der | |
| auch die Zahl 17.000 entstammt. Seine Zweifelsfall-Entscheidungen habe er | |
| als „grundsätzlicher und erbitterter Gegner der deutschen | |
| Judengesetzgebung“ getroffen. In der NS-Zeit habe er sich ein | |
| „ungebrochenes Rückgrat“ erhalten. | |
| Yad Vashem, die Jerusalemer „Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des | |
| Staates Israel im Holocaust“ hat Calmeyer 1992 für „beeindruckendes | |
| Einschreiten“ den Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen, so | |
| wie Oskar Schindler. Und das ist nicht Calmeyers einzige Ehrung: Die Stadt | |
| Osnabrück hat einen Platz nach ihm benannt und ihm die | |
| Justus-Möser-Medaille verliehen, ihre höchste Auszeichnung. | |
| ## Treibstoff für die Legende | |
| Dabei war über die Person Calmeyer lange nur wenig bekannt. Ein Osnabrücker | |
| Lehrer, der mittlerweile verstorbene [1][Peter Niebaum], entriss ihn Ende | |
| der 1980er dem Vergessen. Er besuchte Archive, sprach mit Zeitzeugen, | |
| schrieb Bücher und wurde dabei durch die örtliche | |
| „Hans-Calmeyer-Initiative“ (HCI) unterstützt. | |
| Das Problem: Niebaum verklärte und vereinfachte, idealisierte und | |
| glorifizierte Calmeyer. Der Lehrer betonte das Positive, lieferte | |
| Treibstoff für die Legende. In einem Vortrag sagte er: „Dieser meditative, | |
| spirituelle, hochgradig empathiefähige, der emotiv richtig gepolte, | |
| emotional intelligente C. könnte zum Leuchtturm werden für Menschen seiner | |
| Zeit und für Nachgeborene.“ | |
| Die Widersprüche in Calmeyers Biografie wurden erst durch nüchternere, | |
| wissenschaftlichere Forschung aufgezeigt. Durch die niederländische | |
| Historikerin und Juristin Petra van den Boomgaard zum Beispiel: Ihre erst | |
| gut drei Monate alte Dissertation – „Kein Jude an die Nazis. Wie gut 2.500 | |
| Juden durch die Umgehung von Rassenvorschriften der Deportation entgangen | |
| sind“ – listet Zahlen, Zahlen, Zahlen auf. Die Zahl 17.000 ist allerdings | |
| nicht darunter. Es seien 2.866 Menschen gewesen, rechnet van den Boomgaard | |
| vor, die durch Calmeyer und seine Abteilung der Deportation entgangen seien | |
| und überlebt hätten. 65 Prozent der Anträge seien positiv beschieden | |
| worden, 25 Prozent aber auch abgelehnt worden, oft mit tödlichen Folgen. In | |
| den übrigen zehn Prozent der Fälle ist nicht klar, was passiert ist. Zudem | |
| sind Akten verloren gegangen oder wurden zerstört. | |
| Wer es auf die „Calmeyer-Liste“ schaffte, hatte gute Chancen. Das Ganze | |
| fiel natürlich auf die Dauer auf – auch der SS. Aber zu einer Revision | |
| durch das Reichssicherheitshauptamt kam es nicht mehr: Im Herbst 1944 | |
| rückten die Alliierten, nach der Luftlande-Operation Market Garden, an Den | |
| Haag heran. Die „Aktion Schmidt“, die Beschlagnahme seiner Akten, | |
| unterblieb. | |
| Petra van den Boomgaard hält Calmeyer für „eine höchst ambivalente | |
| Persönlichkeit“. Sie resümiert: „Es stimmt, er hat Juden geholfen. Aber | |
| zugleich hat er als loyaler Repräsentant eines Okkupationsregimes | |
| funktioniert, und als solcher war er zugleich auch Täter.“ Denn nicht alle | |
| Anträge hat Calmeyer bewilligt – längst nicht alle. Wer abgelehnt wurde, | |
| ging in die Vernichtungslager. Hunderte waren das. Calmeyer hat niemanden | |
| aktiv auf die Todeslistes der Nazis gesetzt, aber er hat eben auch nicht | |
| alle von ihnen gestrichen. „Sollte das Ziel nicht in Gefahr gebracht | |
| werden“, sagte er 1946 selbst dazu, habe er „auch einmal nein sagen“ | |
| müssen. Er habe „den leidenschaftlichen guten Willen“ nur „in den Grenzen | |
| des Möglichen“ einsetzen können. | |
| Petra van den Boomgaard plädiert deshalb für eine „kritische Hinterfragung�… | |
| Calmeyers, „neutral und transparent“. Und dann sagt sie: „Leider sehe ich | |
| Tendenzen in Osnabrück, ihn zum Helden zu stilisieren. Aber das wäre völlig | |
| falsch. Das würde Calmeyer in keiner Weise gerecht.“ Zudem müssten die | |
| Osnabrücker mit internationaler Kritik rechnen: „Nicht wenige Historiker | |
| sehen Calmeyer ja eher skeptisch, zumal hier in den Niederlanden.“ | |
| Dafür gibt es gute Gründe. Etwa die Kosten, die für Juden angefallen sind, | |
| die sich auf die Calmeyer-Liste setzen ließen. Zwar stellte die | |
| Entscheidungsstelle selbst nichts in Rechnung, aber die Umgehung der | |
| Meldeverordnung VO 6/41 war teuer. Anwälte, Ärzte und Gutachter erhoben | |
| teils extrem hohe Honorare, auch die Urkundenfälschungen waren nicht | |
| umsonst. „Das war in erster Linie eine Rettungsaktion für das wohlhabende | |
| Bürgertum“, sagt van den Boomgaard. „Diese Seite von Calmeyers Tätigkeit | |
| darf man nicht ignorieren.“ | |
| Kritikwürdig ist auch Calmeyers Stellung zum Mischehenverbot: „Es nützt | |
| nichts, Juden zu zählen“, schreibt er im September 1941 in einem Vermerk | |
| für seinen Vorgesetzten, „wenn man es nicht verbietet, Mischlinge in die | |
| Welt zu setzen.“ Menschenfreundlichkeit sieht anders aus. | |
| Dass die Stadt Osnabrück derzeit darüber nachdenkt, Calmeyer zum Anlass | |
| einer neuen Dauerpräsentation in der Villa Schlikker des Museumsquartiers | |
| Osnabrück zu machen, eines „Friedenslabors“, findet van den Boomgaard gut. | |
| „Aber das darf sich dann nicht auf Calmeyer beschränken. Da sollte es um | |
| das gesamte Unrechts- und Terror-System gehen, für und gegen das er | |
| gearbeitet hat. Und um eine Perspektivierung auf das Hier und Heute.“ | |
| Van den Boomgaard sitzt im Beirat, den das Osnabrücker Kultusdezernat dafür | |
| eingerichtet hat und sie wurde von der HCI zum Ehrenmitglied ernannt. Aber | |
| ihren kritischen Blick verliert sie nicht: „Ich bin Wissenschaftlerin, ich | |
| liefere Fakten. Daher frustriert es mich ein bisschen, dass es in dieser | |
| ganzen Diskussion manchmal gar nicht um die Fakten geht, sondern um | |
| Überhöhung, Profilierung.“ | |
| In der Tat ist Calmeyer ein Mann der Ambivalenzen. Im Herbst 1933, zum | |
| Beispiel, wurde dem Strafverteidiger die Anwaltszulassung entzogen, denn er | |
| verteidigte auch Kommunisten – und er beschäftigte jüdisches Personal. Um | |
| die Zulassung zurückzuerhalten, machte Calmeyer geltend, er habe den | |
| Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 als Paramilitär der Schwarzen Reichswehr | |
| erlebt, eines rechtsnationalen Freikorps. | |
| Es glückte: Ab Mitte 1934 konnte Calmeyer wieder als Anwalt arbeiten. | |
| Später trat er dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund bei. | |
| Widersprüche. Sie begleiten Calmeyer bis zum Ende. Er sei, schreibt der | |
| Osnabrücker 1965 an den niederländischen Historiker Jacques Presser, „mit | |
| unser aller Schuld und unser aller Versagen bis heute nicht fertig | |
| geworden“. | |
| Vor dem Krieg war Calmeyer Rechtsanwalt, nach dem Krieg war er es wieder. | |
| „Man muss Mut haben.“, schrieb er am 7. Oktober 1947 in einem Brief an | |
| seine Frau Ruth. „Es gibt Dinge, die sein sollen.“ Und: „Man kann den | |
| Dingen immer nur entgegengehen, nicht ausweichen.“ Wer will, liest das als | |
| Erklärung seiner Arbeit in Den Haag. Wer will, sieht darin eine | |
| Selbstinszenierung. Vielleicht ist es nichts davon. Vielleicht ist es | |
| beides. | |
| 22 Jul 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.calmeyer.de/fileadmin/user_upload/479/Calmeyer%20-%20Der%20Mensc… | |
| ## AUTOREN | |
| Harff-Peter Schönherr | |
| ## TAGS | |
| NS-Straftäter | |
| NS-Forschung | |
| NS-Widerstand | |
| Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
| NS-Opfer | |
| NS-Verbrechen | |
| Holocaust | |
| Osnabrück | |
| Hans Georg Calmeyer | |
| Antisemitismus | |
| NS-Straftäter | |
| Niederlande | |
| KZ | |
| Yad Vashem | |
| Holocaust | |
| Hans Georg Calmeyer | |
| Osnabrück | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neues Holocaust-Museum in Amsterdam: Eröffnung in gespaltenen Zeiten | |
| Das Nationale Holocaust-Museum in Amsterdam wird in Zeiten des sichtbaren | |
| Antisemitismus eröffnet. Es ist das erste, das nach dem 7. Oktober öffnete. | |
| Diskussion um NS-Jurist als Namensgeber: Ein Held und Schreibtischtäter | |
| Die CDU in Osnabrück will das „Friedenslabor“ des Museumsquartiers nach | |
| Hans Georg Calmeyer benennen. Nun wurde eine Chance vertan, das zu | |
| verhindern. | |
| Holocaust-Mahnmal in den Niederlanden: 102.162 Lebensgeschichten | |
| Jahrelang gab es Streit über den Standort. Jetzt wurde in Amsterdam das | |
| Nationale Holocaust-Denkmal der Niederlande eingeweiht. | |
| Umgang mit der Shoa: Keine Lichtgestalt | |
| Heißt die Villa Schlikker in Osnabrück bald “Calmeyer-Haus“? Es wäre die | |
| Weißwaschung eines Mittäters des Holocaust. Eine Petition dagegen läuft. | |
| Gerechter unter den Völkern: „Einer der schönsten Tage“ | |
| Josef Königsberg musste 95 Jahre alt werden, um die Ehrung seines Retters | |
| Helmut Kleinicke zu erleben. Yad Vashem zeichnet den Mann jetzt aus. | |
| Bloggerin Marie Sophie Hingst gestorben: Der Mensch hinter der Story | |
| Die Historikerin fälschte Holocaust-Schicksale. Nun ist sie gestorben. Und | |
| am „Spiegel“, der ihren Betrug aufdeckte, regt sich Kritik. Zu Recht? | |
| NS-Bürokrat und Lebensretter: Held oder keiner | |
| Osnabrücks Oskar Schindler? Als Bürokrat in den besetzten Niederlanden | |
| rettete Hans Calmeyer Tausende Juden – aber das ist nicht die ganze | |
| Geschichte. | |
| NS-„Rassereferent“ rettete Tausende Juden: Calmeyers Tricks | |
| Ein neues Buch zeigt, wie der Osnabrücker Hans Calmeyer Tausende Juden vor | |
| der Deportation bewahrte. Idealisert wird er dabei nicht. |