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# taz.de -- Bloggerin Marie Sophie Hingst gestorben: Der Mensch hinter der Story
> Die Historikerin fälschte Holocaust-Schicksale. Nun ist sie gestorben.
> Und am „Spiegel“, der ihren Betrug aufdeckte, regt sich Kritik. Zu Recht?
Bild: Marie Sophie Hingst bei der Preisverleihung des „Goldenen Blogger“, 2…
Um es gleich vorweg zu unterstreichen: Wie [1][Marie Sophie Hingst] zu Tode
gekommen ist, ist ungeklärt. Die Information über ihr Ableben kommt von
einem Reporter der Irish Times, der in Berlin lebt und regelmäßig Kontakt
zu ihrer Mutter pflegte. Über diesen Weg wissen wir auch, dass es offenbar
zu keinen äußeren Einwirkungen gekommen ist. Wer die Geschichte um die
Hochstaplerin verfolgt hat, mag da Selbsttötung vermuten. Aber geklärt ist
da nichts.
Die Historikerin und Bloggerin, die jahrelang Holocaust-Schicksale erfand
und auch selbst fälschlich als Jüdin und Enkelin einer Überlebenden
auftrat, litt offenbar unter psychischen Problemen. Spiegel-Journalist
Martin Doerry hatte den Betrug schonungslos aufgedeckt. Hätte der Spiegel
sensibler mit einer erkrankten Person umgehen sollen?
Die irische Zeitung berichtete am Samstag vom Tod Hingsts in Dublin. Autor
Derek Scally, der im Fall Hingst offenbar länger intensiv recherchiert und
auch nach der Spiegel-Enthüllung mit Hingst gesprochen hat, beleuchtet den
Fall. Scally zitiert auch die Mutter der verstorbenen mit einem schweren
Vorwurf gegen Spiegel-Autor Doerry. Doerry habe versäumt, die Person hinter
den Fakten zu sehen.
Marie Sophie Hingst, eine in Dublin am renommierten Trinity College
promovierte deutsche Historikerin, hatte über Jahre gefälschte
Gedenkblätter an die [2][Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem] geschickt, wie
Doerry im Mai im Spiegel überzeugend dargelegt hat. Insgesamt 22 Schicksale
hatte sie erfunden. Auch ihre eigene Herkunft hatte Hingst konstruiert,
eine Überlebende als Großmutter erschwindelt. Ihre Storys wurden unter
anderem in ARD-Sendern als Fakten berichtet. Hingst betrieb mit ihren
Geschichten ein erfolgreiches Blog, erhielt dafür einen
Blogger*innen-Preis, der ihr nach der Spiegel-Recherche aberkannt wurde.
## Der Mensch hinter der Hochstaplerin
Hingst drohte im Anschluss mit rechtlichen Schritten, versuchte zeitweise
die Echtheit ihrer Geschichten zu belegen, behauptete dann wieder, jemand
gebe sich als sie aus und berief sich schließlich auf den literarischen
Charakter ihres Blogs. Irish Times-Reporter Scally zitiert sie mit den
Worten, sie habe sich gefühlt, als würde sie vom Spiegel „lebendig
gehäutet“.
Der Spiegel-Verlag will [3][den Doerry-Text] nicht weiter kommentieren und
„bedauert“ Hingsts Tod. In der eigenen Nachricht über ihr Ableben schreibt
das Hamburger Magazin knapp: „Die sachliche Richtigkeit der in dem
Spiegel-Artikel beschriebenen Tatsachen ist unumstritten.“ Redakteur Felix
Bohr verteidigte seinen Kollegen derweil auf Twitter gegen Kritik. Es sei
„infam“, Doerry verantwortungsloses Verhalten vorzuwerfen.
Richtig ist, dass Journalist*innen bei der Möglichkeit einer guten Story
gelegentlich zu reflektieren vergessen, was sie im Leben derer auslösen,
über die sie berichten. Hat Doerry also versäumt sich zu fragen, ob eine
schwerwiegende psychische Erkrankung mit den Erfindungen der Marie Sophie
Hingst zu tun haben könnte? Hat er, wie die Mutter sagt, den Mensch hinter
der Geschichte nicht mehr gesehen?
Viel eher ist es genau andersherum. Viel eher gibt es ein Zu-Viel von dem
Mensch Sophie Hingst in dem Spiegel-Text, im Report der Irish Times und in
der Debatte um den Fall. Doerry versucht – obgleich wohldosiert zwischen
der sachlichen Recherchearbeit – der Person Sophie Hingst auf den Grund zu
gehen. Da heißt es im typischen Beschau-Absatz, sie wirke „mädchenhaft“,
und: „Eitelkeit scheint ihr fremd“. Irish Times-Autor Scally geht noch
weiter und fertigt [4][in seinem Text], verfasst nach Hingsts Tod, beinahe
ein Psychogramm an. Da changiert ihre Stimme zwischen „mädchenhaftem,
spielerischem“ Ton und dem Modus „wütende Erwachsene“, da flattern die
Hände im Schoß „wie zwei rastlose Vögel“.
## Der Skandal spielt woanders
Klar, Hingst, die Holocaust-Hochstaplerin, ist ein Faszinosum. Wie konnte
sie? Und nun: Was hatte sie? Aber der Skandal spielt eigentlich ganz
woanders. Er liegt in der erschütternden Erkenntnis, dass sich
Holocaust-Geschichte recht einfach fälschen lässt. Dass die fabrizierten
Erinnerungen bei allen beteiligten Institutionen jahrelang unhinterfragt
durchgekommen sind. Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, bei der
Bloggerszene und bis hin zur Gedenkstätte Yad Vashem, die Einsendungen im
guten Glauben annimmt. All diese Institutionen schaffen Wahrheit. In diesem
Fall stützten sie gegenseitig eine Lüge. Für die Erinnerungskultur ist das
eine Katastrophe.
Es wäre keine Option gewesen, weder für Doerry noch für irgendwen, eine
Berichterstattung über all das einfach zu unterlassen. Die Hauptverdächtige
dabei aus Rücksicht aus dieser Geschichte herauszuhalten, war wiederum auch
nicht möglich. Sie stand ja mit ihren Geschichten in der Öffentlichkeit.
Was hingegen Marie Sophie Hingst psychisch gequält hat, und auf welche
Weise sie nun ums Leben gekommen ist, das geht uns nichts mehr an. Die
Geschichte muss ab sofort woanders spielen. Marie Sophie Hingst soll in
Frieden ruhen können.
Hinweis: Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie darüber mit jemandem.
Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0
111 oder 08 00/111 0 222) oder [5][telefonseelsorge.de] besuchen.
28 Jul 2019
## LINKS
[1] /Faelschungen-einer-Bloggerin/!5596689
[2] /Erinnerungskultur-bei-Instagram/!5592218
[3] https://www.spiegel.de/plus/marie-sophie-hingst-die-historikerin-die-22-hol…
[4] https://www.irishtimes.com/news/world/europe/the-life-and-tragic-death-of-t…
[5] https://www.telefonseelsorge.de/
## AUTOREN
Peter Weissenburger
## TAGS
Holocaust
Erinnerungskultur
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Der Spiegel
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