| # taz.de -- Reise durch Europa: One-Way-Ticket nach Lissabon | |
| > Fast 4.000 Kilometer sind es von Vilnius nach Lissabon. Unsere Autorin | |
| > ist die Strecke mit dem Zug gefahren. Was erfährt sie dabei über Europa? | |
| Bild: Eine Reise quer durch Europa: was denken die Menschen vor Ort? | |
| In Vilnius trägt die Moderne den Namen Europa. Während in der | |
| pastellfarbenen Altstadt Touristinnen Kirchen besichtigen, Senioren unter | |
| Weiden Tauben füttern und ein klappriger Bus mit Oberleitung die Straßen | |
| entlangrattert, ragen jenseits des Flusses Neris verspiegelte Hochhäuser | |
| in die Luft. Bürogebäude, ein Shoppingcenter, dazwischen ein | |
| zugepflasterter Platz, über den an diesem Vormittag nur eine Frau in Kostüm | |
| auf ihrem Elektroroller flitzt. | |
| Laut Straßenschild heißt dieser Ort „Europos aikštė“ – Europaplatz. �… | |
| passt gut“, wird die junge Litauerin Ada Abromaityte später sagen. „Für | |
| viele Menschen in Litauen ist die Sowjetunion die böse Vergangenheit und | |
| Europa die Zukunft.“ | |
| 2004 ist Litauen der EU beigetreten. Wenn am 26. Mai das neue Europäische | |
| Parlament gewählt wird, könnte ein Rechtsruck das Wesen der Union | |
| verändern. Doch was macht Europa heute überhaupt aus? Wie steht es um das | |
| Versprechen auf Bewegungsfreiheit? Und wie fühlt sich Europa im Osten, wie | |
| im Westen an? | |
| Um Antworten darauf zu finden, reise ich acht Tage lang mit dem Zug quer | |
| durch Europa, fast 4.000 Kilometer, vom litauischen Vilnius ins | |
| portugiesische Lissabon. Zwischenstationen werden nicht nur die bekannten | |
| Metropolen sein, sondern kleinere Städte und Grenzorte, um zu verstehen, | |
| wie sich das Leben dort heute anfühlt. | |
| Die Sonne scheint Ende April in Vilnius zum ersten Mal in diesem Jahr | |
| richtig warm. Ada Abromaityte sitzt im Garten eines hippen Cafés, Berliner | |
| Preisniveau. Wir haben uns über Couchsurfing verabredet, auch andere | |
| Begegnungen dieser Reise werden durch die Onlineplattform angebahnt. Die | |
| 21-Jährige mit Dreadlocks studiert Grafikdesign. Erst vor Kurzem ist sie | |
| von einer Reise durch Israel zurückgekehrt. „Danach war ich so dankbar, | |
| dass ich in Frieden auf diesem Kontinent leben darf“, sagt sie. „Hier kann | |
| ich studieren und einfach kreativ sein.“ | |
| Es ist fast 30 Jahre her, dass Litauen Teil der Sowjetunion war, doch die | |
| Furcht vor Russland ist noch immer spürbar. Auch bei jungen Leuten wie Ada. | |
| Mit Weißrussland und der russischen Enklave Kaliningrad als direkte | |
| Nachbarn sind die meisten Litauer*innen froh, zur EU zu gehören. Von den | |
| anstehenden EU-Wahlen ist trotzdem wenig zu spüren, nicht ein einziges | |
| Plakat hängt in den Straßen. [1][Die Stichwahl zur litauischen | |
| Präsidentschaftswahl] findet am gleichen Tag statt und dominiert die | |
| aktuelle Diskussion. | |
| ## Eine Zugreise entschleunigt | |
| Zu Sowjetzeiten gab es noch eine regelmäßige Direktverbindung zwischen | |
| Vilnius und Warschau. Später wurde sie gekappt, nun verkehrt wieder ein Zug | |
| zwischen dem litauischen Kaunas und dem polnischen Białystok – aber nur am | |
| Wochenende. Heute ist Freitag, es ist also unmöglich, mit der Bahn zwischen | |
| den beiden EU-Ländern zu verkehren. Schon bevor die Reise richtig beginnen | |
| kann, spüre ich die Grenzen – und strande nach nur 100 Kilometern im | |
| litauischen Kaunas. | |
| Durch Europa zu reisen ist für viele Europäer*innen selbstverständlich, | |
| [2][meist wählen sie dafür Easyjet oder Ryanair]. Innerhalb von zwei | |
| Stunden Flugzeit können sie so fast jede Ecke des Kontinents erreichen. | |
| Doch wer nur von Hauptstadt zu Hauptstadt jettet, verliert das Gefühl für | |
| das, was dazwischenliegt. Dafür, wie sich die Landschaft schleichend | |
| verändert, wie die Menschen unterschiedlich sprechen, gestikulieren und | |
| miteinander umgehen. Und dass die kleinen Orte, in die sich sonst niemand | |
| zufällig verirrt, auch Teil des großen Ganzen namens Europa sind. Eine | |
| Zugreise entschleunigt, aber sie lässt auch neue Assoziationen zu. | |
| Nach anderthalb Stunden Fahrt passiert der Zug einen Tunnel. Am Eingang | |
| prangt die EU-Flagge. Wir sind in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens. | |
| Zwischen Kirchen, Plätzen und der Fußgängerzone mit niedrigen Häusern | |
| stehen monumentale Bauten aus der Sowjetzeit. [3][2022 wird Kaunas | |
| Europäische Kulturhauptstadt], die Vorbereitungen laufen: Jedes zweite Haus | |
| bekommt eine neue Fassade, die Hauptflaniermeile liegt staubig und | |
| aufgerissen da. | |
| In einem Park sitzt Paulina Kozlovskytė, ein Buch auf dem Schoß. Die | |
| 19-Jährige, blond, Vintage-Klamotten, freut sich, dass mit dem neuen Status | |
| Leben in die Stadt kommt. „Früher war hier nichts los, junge Leute sind | |
| lieber nach Vilnius gezogen.“ Sie ist Teil der jungen, gebildeten | |
| Generation, die mit Europa aufgewachsen ist. Gerade hat sie die Schule | |
| abgeschlossen, seitdem hat Paulina an Erasmus-Workshops in ganz Europa | |
| teilgenommen und in London gejobbt. „Egal wohin ich jetzt in Europa reise, | |
| ich habe Freunde in fast jeder Hauptstadt“, sagt sie stolz. | |
| Die Nacht verbringe ich in einem der typischen Holzhäuser am Stadtrand bei | |
| einer alten Frau. Beim Eintreten drückt sie mir Hausschuhe in die Hand, wir | |
| kommunizieren durch Lächeln oder entschuldigendes Schulterzucken. Über | |
| meinem Bett wacht ein riesiges Jesus-Bild. Am nächsten Morgen besteht die | |
| Gastgeberin darauf, dass ich mich in die kleine holzvertäfelte Küche setze, | |
| während sie auf dem Gasherd einen Kaffee aufbrüht. Hier gilt wie in vielen | |
| postsozialistischen Ländern: Wer eine große Reise antritt, setzt und stärkt | |
| sich davor nochmal. | |
| Gut zwei Stunden später fährt der Regionalzug durch ein Waldstück, so | |
| unscheinbar, dass ich den Moment verpasse, als wir die Grenze zu Polen | |
| passieren. Beim nächsten Halt steigen zwei breitschultrige Männer ein: | |
| „Straz Graniczna“ steht auf ihren Warnwesten, auf den kahlgeschorenen | |
| Köpfen tragen sie Kappen in Tarnmuster. Auf meinen deutschen Pass werfen | |
| die Grenzbeamten nur einen flüchtigen Blick, ein kaum merkliches Nicken, | |
| dann gehen sie weiter. Das ist also das Europa der Freizügigkeit? Ich darf | |
| mich glücklich schätzen: Auf Reisen merke ich immer wieder, was für ein | |
| Privileg ein deutscher Pass ist. | |
| Białystok ist eine mittelgroße Stadt in Ostpolen, wo viele Weißruss*innen | |
| leben. Polen wird die einzige Station der Reise sein, wo es keinen Euro | |
| gibt. Um Złoty zu tauschen, suche ich eine Wechselstube, die sich auf dem | |
| Areal eines stillgelegten Marktes befindet. In dem dunklen Raum des | |
| „Kantor“ trinken zwei Männer Kaffee, einer springt auf, um den | |
| 20-Euro-Schein anzunehmen. Hier ist bestimmt schon länger niemand zum | |
| Geldwechseln vorbeigekommen. | |
| ## Männer in Uniform | |
| Draußen ist eine Bühne aufgebaut, Menschen essen Eis und trinken Bier. Ein | |
| ohrenbetäubendes Dröhnen und Abgasgestank legen sich über den Platz. Ein | |
| Mann in Lederkluft hockt auf einem fest installierten Motorrad und gibt | |
| Vollgas. Während das Hinterrad auf einem Laufband durchdreht, hebt er das | |
| vordere in die Luft. Begeistert filmt ihn die Menge. Ein paar Stände weiter | |
| werben Männer in Uniform und mit Gewehren für ihre Organisation. Für ein | |
| Foto posieren sie mit Kindern, denen sie dafür Handschellen anlegen. | |
| Kein ungewöhnliches Bild in dieser Gegend, Männer in Uniform sieht man hier | |
| ständig. Zuvor hatte der Zug die „Suwałki-Lücke“ passiert, einen | |
| Landstreifen an der litauischen Grenze, der als Nato-Schwachpunkt gilt. | |
| Seit 2017 sind hier rund 800 US-Soldaten stationiert. Den Rest übernehmen | |
| private Militärorganisationen. | |
| Am nächsten Tag jagt der Intercity quer durch Polen Richtung Jelenia Góra | |
| nahe der tschechischen Grenze. Draußen regnet es – endlich, die Felder sind | |
| ausgetrocknet. Die ältere Frau mir gegenüber spricht etwas Deutsch, ihre | |
| Tochter lebt in Wien. „Sechs Stunden“, wiederholt sie immer wieder. Die | |
| Dauer der Fahrt scheint sie zu beunruhigen. Ihr Proviant, der sich auf | |
| mehrere Tüten verteilt, hätte auch für sechs Tage gereicht. Die anderen | |
| Reisenden schlafen fast alle oder sind in ihre Laptops vertieft. Es ist das | |
| gleiche Bild wie in jedem deutschen ICE auch. Ich beginne, die Bummelzüge | |
| zu vermissen – da passiert mehr. | |
| Der Zug nach Görlitz ist dann wieder ein Regio. Eigentlich mehr ein | |
| fahrendes Abteil, so klein ist er. Die Strecke scheint nur wenig genutzt. | |
| Die hügelige Landschaft Niederschlesiens schleicht vorbei – ein Gebiet, das | |
| seine Erfahrungen gemacht hat mit Grenzen, deren Verschiebung oft Leid und | |
| Vertreibung bedeuteten. Je näher wir uns an die deutsche Grenze tasten, | |
| desto verwahrloster sehen die Bahnhofsgebäude aus. Doch die meisten werden | |
| tatsächlich benutzt, hier und da steigt jemand aus oder ein. | |
| Wir passieren Zgorzelec, die polnische Seite von Görlitz. Schrebergärten, | |
| Bäume, ein Fluss, dann wieder Deutschland, diesmal ohne Grenzkontrollen. In | |
| Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, befinden sich auf der | |
| Hauptgeschäftsstraße frisch sanierte Altbauten neben leerstehenden | |
| Geschäften. An einem Sonntagabend durch die ausgestorbene Innenstadt zu | |
| spazieren fühlt sich komisch an: fremd gewordene Heimat. Nur eine Frau | |
| steht auf der Straße, die Worte ihres Telefonats hallen glasklar an den | |
| Häusern wider: „Ey, das war voll die Fangfrage von dem, er hat mir doch als | |
| Erster geschrieben!“ | |
| Nach einem Spaziergang durch die Altstadt und über die Brücke stehe ich | |
| plötzlich wieder in Polen. Tabakläden werben auf Deutsch mit Zigaretten. | |
| Die Häuser in der ersten Reihe sehen frisch gestrichen aus. Sie können | |
| nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf der polnischen Seite deutlich | |
| weniger Geld vorhanden ist als auf der deutschen. Dort konnte die in der | |
| DDR vernachlässigte Bausubstanz saniert werden, weil ein anonymer Spender | |
| zwischen 1995 und 2016 zehn Millionen Euro zur Verfügung stellte. | |
| [4][Am 26. Mai wählen die Sachsen nicht nur das EU-Parlament], sondern auch | |
| ihre kommunalen Vertretungen. Der AfD-Kandidat Sebastian Wüppel bewirbt | |
| sich in Görlitz als Oberbürgermeister mit dem Motto „Mit Grenzen lebt’s | |
| sich besser“. | |
| ## Nächstes Ziel: Lyon | |
| Im Regionalzug nach Dresden verdrücken die Reisenden morgens schweigend ihr | |
| Frühstück. Der Regen lässt die sächsische Landschaft vor dem Fenster | |
| deprimierender erscheinen, als sie in Wirklichkeit ist. „Na, da haben Sie | |
| heute aber noch ganz schön was vor sich“, sagt die Schaffnerin, als sie das | |
| Ticket entgegennimmt. 1.200 Kilometer und drei Umstiege bis zum nächsten | |
| Ziel: Lyon. | |
| Als ich in Leipzig auf den Zug nach Frankfurt am Main warte, denke ich, | |
| dass es vielleicht stimmt, was Paulina in Kaunas gesagt hat: dass es vor | |
| allem die Deutschen seien, die für Europa brennen. Hier sehe ich wieder die | |
| vertrauten Wahlplakate, auf denen die SPD-Kandidatin Katarina Barley | |
| lächelt, und das Bahn-Magazin Mobil wirbt mit Europa. Ich denke an | |
| Freundinnen, die unbedingt in Brüssel arbeiten wollen und privat | |
| Kapuzenpullis mit EU-Sternen tragen. Liegt das tatsächlich daran, dass | |
| Deutschland in der EU das Sagen hat, wie auf dieser Reise viele Menschen | |
| sagen werden? | |
| Im ICE nach Frankfurt rauschen die Hügel und Wälder am Fenster vorbei. | |
| Umstieg in den TGV, wo die Durchsagen auf drei Sprachen aus dem | |
| Lautsprecher tönen, deutsche Passagiere mit dem Reservierungssystem heillos | |
| überfordert sind und eine Schulklasse aus Mannheim eine Klassenfahrt nach | |
| Avignon unternimmt. | |
| Kurz nach Straßburg läuft die französische Polizei kritischen Blicks die | |
| Gänge entlang. Draußen klart der Himmel auf, das Terrain wird hügeliger, | |
| Schafe grasen. [5][Die Strecke bis Lyon bringe ich wie im Flug], ohne Halt | |
| hinter mich. Einen Tag später arbeitet sich der Regio Richtung spanische | |
| Grenze vor, links das dunkelblaue Meer, rechts Zypressen und Wildblüten. | |
| Ich würde gern aussteigen, um sie auch riechen zu können. | |
| Das Abteil leert sich, und am französischen Grenzort Cerbère sitze ich | |
| allein im Waggon. Auch hier Passkontrolle. Eine Tunneldurchquerung später | |
| steige ich an einem Bahnhof aus, der für den kleinen Küstenort Portbou viel | |
| zu groß erscheint. Einst war er ein wichtiger Grenzbahnhof, an dem Reisende | |
| von Frankreich wegen der spanischen Breitspur-Schienen Züge wechseln | |
| mussten. Heute verläuft weiter westlich eine Schnellzugstrecke. | |
| Eingekeilt zwischen Bergen und Meer, plätschert das Leben in Portbou leise | |
| vor sich hin. Von irgendwo her ist Gitarrenmusik zu hören, ein paar | |
| Wanderer, die in den Pyrenäen unterwegs waren, streifen hungrig umher. Doch | |
| um 20 Uhr hat außer einer Tapas-Bar alles geschlossen. Es ist ein Ort, der | |
| sich nur im Sommer füllt, an dem man eher zufällig landet, weit weg von den | |
| großen Fragen Europas. | |
| 1940 nahm sich hier der deutsche Schriftsteller Walter Benjamin auf der | |
| Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben. Eine Gedenkstätte auf einem | |
| Hügel über dem Meer erinnert an ihn. Daneben klammert sich ein Friedhof an | |
| den Hang. Die Särge liegen wie in Schächten in den Wänden, davor | |
| Steinplatten mit Plastikblumen. Portbou war ein Sammelpunkt für Menschen, | |
| die über die Berge flüchteten. Heute fliehen sie über das Mittelmeer nach | |
| Europa. | |
| ## Mehr eine wirtschaftliche als politische Union? | |
| Am nächsten Tag muss auch der Regionalzug die umliegenden Berge überwinden, | |
| doch für ihn gibt es Tunnel und Brücken. Dann wieder flache Felder und | |
| mittelgroße Städte, die die Bahnstrecke mit Plattenbauten südeuropäischen | |
| Typs bis Barcelona säumen. An den Haltestellen steigen Jugendliche ein und | |
| bald wieder aus, ihre Unterhaltungen lärmen durch das ganze Abteil, genau | |
| wie ihre Musik aus den Lautsprechern. | |
| Draußen weht überall die gelb-rot-blaue Flagge Kataloniens. Gelbe Schleifen | |
| an Fenstern und Geländern bekunden Solidarität mit inhaftierten | |
| Politiker*innen und Aktivist*innen der Unabhängigkeitsbewegung. | |
| EU-Wahlplakate sind nicht zu sehen. Das Partikulare scheint hier gerade | |
| wichtiger zu sein als das Verbindende, für das auch die EU steht. | |
| Umstieg in Barcelona. Zugfahren fühlt sich hier wie Fliegen an: Es gibt | |
| Sicherheitskontrollen und einen Check-in, Mitarbeiter*innen im | |
| Stewardessen-Look verteilen Gratis-Kopfhörer. Die dunklen Kunstledersitze | |
| verströmen Plastikgeruch, ansonsten das gleiche Bild wie in jedem Intercity | |
| dieser Zugreise: Die meisten Reisenden fokussieren ihren Blick auf Laptop | |
| oder Smartphone. Nur Tourist*innen schauen aus dem Fenster. Der | |
| Sonnenuntergang taucht die trockene Hügellandschaft in lilafarbenes Licht. | |
| Marco, Mitte 40, stammt aus dem italienischen Turin. Seinen Nachnamen | |
| erfahre ich nicht, im Zug unterhält man sich ungezwungen. Er reist für zwei | |
| Wochen durch Spanien und redet viel, auch über Europa. „Die Menschen in | |
| Italien beschweren sich gerne und meistens sagen sie, dass es die Schuld | |
| der EU ist“, sagt er. Und damit würden sie vor allem Deutschland meinen. | |
| „Früher funktionierte es so: Die EU gab Italien Geld, und wir kamen dann | |
| irgendwie mit den Flüchtlingen klar.“ Marco reist geschäftlich viel nach | |
| Deutschland, sagt er, und auf den Rückflügen befänden sich oft Geflüchtete | |
| an Bord – auf dem Weg dorthin, wo sie ursprünglich registriert worden sind | |
| – meist Italien. Er bedauert, dass die EU mehr eine wirtschaftliche als | |
| politische Union ist. „In einem Europa, wie ich es mir wünsche, gibt es ein | |
| starkes Parlament, und jedes Land schickt seine besten Leute, vielleicht | |
| wie in den USA“, schlägt er vor. „Es sollte um Europa als Ganzes gehen, | |
| nicht um die nationalen Interessen.“ | |
| Madrid ist in Feststimmung. Es ist der 2. Mai, nur in der Stadt ein | |
| Feiertag. Die Parlamentswahlen sind gerade vorbei, und die rechtsextreme | |
| Vox-Partei wird zwar ins Parlament einziehen, erhielt aber nicht so viele | |
| Stimmen wie befürchtet. Die Straßen des Viertels Malasaña mit seinen vielen | |
| Bars und Vintage-Shops schmücken bunte Fähnchen. | |
| ## Was ist Europa heute und was soll es werden? | |
| Wie viele trinken Nicki, Kate und Thaína schon mittags Bier. Sie kommen aus | |
| Australien, Schottland und Brasilien und unterrichten in Madrid seit über | |
| einem Jahr Englisch. Das Thema Nummer eins: Dating. „Letzte Nacht war ich | |
| in Indien“, erzählt Nicki, die einiges älter ist als die anderen beiden und | |
| ihre grauen Haare schulterlang trägt. Thaína weiß genau, wovon sie spricht, | |
| und fügt hinzu: „Ja, er hat dir seinen Taj Mahal gezeigt.“ | |
| Dann zückt Nicki ihr Handy und zeigt die Liste an Männern, mit denen sie | |
| geschlafen hat. Mit Flaggen-Emojis hat sie auch deren Nationalität | |
| gekennzeichnet. Sie nutzt die App „Bumble“ – die feministischen Version v… | |
| Tinder, „weil nur Frauen die Typen anschreiben können“. Europa bedeutet | |
| auch grenzüberschreitend leben, feiern, daten, lieben. | |
| Lissabon ist die letzte Station der Reise. Mittlerweile hat sich eine | |
| gewisse Routine eingestellt. Ich hetze nicht mehr zum Bahnhof, nervös, ich | |
| könnte den Zug verpassen. Diesmal sind es neun Stunden Fahrt. Ganz so | |
| komfortabel ist sie nicht, wie der Name des Zuges „Trenhotel“ – Zughotel … | |
| vermuten lässt. Die verschlissenen Sitze sind nur halb gefüllt, alle | |
| versuchen, die Fahrt im Schlaf hinter sich zu bringen. Um sieben Uhr | |
| morgens hält der Zug ohne Vorwarnung, die Sonne scheint ins Abteil. | |
| Lissabon ist noch ganz verschlafen. Drei Senioren trainieren an den | |
| Fitnessgeräten des Jardim da Alameda wie in Zeitlupe. Im Café nehmen die | |
| Menschen ihr Frühstück stehend am Tresen ein. Der Sound von Lissabon ist | |
| abseits des touristischen Zentrums der einer gedämpften Plauderei mit | |
| klimpernden Espressotassen. | |
| João Matos, Dreitagebart und buschige Augenbrauen, treffe ich in einer Bar | |
| mit zusammengewürfelten Sofas. „Die Portugiesen sind stolz, in der EU zu | |
| sein“, sagt er. „Aber für die Wahl interessiert sich hier niemand.“ Es g… | |
| andere Probleme. Der sozialistische Ministerpräsident Antonio Costa hat | |
| kürzlich mit seinem Rücktritt gedroht. Lehrer*innen forderten einen | |
| Ausgleich für die Jahre der Wirtschaftskrise, in denen ihre | |
| Gehaltserhöhungen ausgesetzt wurden. | |
| „So eine Krise hat es noch nie gegeben, die Leute sind entsetzt“, sagt | |
| João. Drama mögen sie nicht so. Bisher hat die Minderheitsregierung gut | |
| funktioniert, die sozialistische Partei hat es sogar geschafft, die | |
| Staatsverschuldung zu minimieren – ein Grund, warum es in Portugal bis | |
| heute keine nennenswerte rechtspopulistische Partei gibt. | |
| In Lissabon geht die Reise zu Ende. Acht Tage lang bin ich jeden Morgen an | |
| einem anderen Ort in Europa aufgewacht. Und jedes Mal hat sich Europa ganz | |
| unterschiedlich angefühlt. Mal sehr europäisch, alles durchdringend, sodass | |
| die Gewissheit bleibt, dieser Moment oder jene Begegnung wären ohne die EU | |
| nicht möglich gewesen. Mal fern und fragil, obwohl man sich mittendrin | |
| befindet. | |
| Die zufälligen Begegnungen, Gespräche dieser Reise zeugen von Unsicherheit, | |
| was Europa heute ist und werden soll. Vielen, aber längst nicht allen | |
| erscheint die Union selbstverständlich, denn sie reisen, arbeiten, kaufen | |
| oder lieben täglich über Grenzen hinweg. Dass das nicht immer so war, | |
| vergisst man schnell. | |
| 25 May 2019 | |
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