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# taz.de -- Eine Radreise zum Nordkap: Zielstrebig nordwärts
> Ein Fahrrad, ein Mensch darauf – was ist das schon? Nicht mehr als ein
> Rentierschiss. Unterwegs von der Ostseeküste bis nach Nordnorwegen.
Bild: In der nördlichen Finnmark scheint einen die spröde Natur zu absorbieren
Wo ist bloß die Edelstahltasse? Zunehmend nervös zwischen Campingküche und
der Zeltwiese am Südende des gewaltigen Porsangerfjordes hin und her zu
tigern, hilft herzlich wenig. Über 3.400 Fahrradkilometer lang war die
Tasse dabei, von der holsteinischen Ostseeküste bis hierher nach Lakselv in
Nordnorwegen. Auf Rastplätzen an Seen und Flüssen, vor ernüchternd hohen
Bergen hat der heiße Kaffee darin neue Energie eingeflößt. Es kann nicht
sein, dass das gute Stück, 193 Kilometer vom Nordkap entfernt, mir nichts,
dir nichts verloren geht.
Als heavy loaded bezeichnen routinierte Nordkap-Radler ein Fahrrad mit rund
30 Kilogramm schwerem Gepäck daran. Spöttisches Senken der Mundwinkel
seitens der Velo-Kollegen bleibt nicht aus. Allerdings, mit ein bisschen
Luxus in den Radtaschen reist es sich doch angenehmer durch den hohen
Norden, oder etwa nicht? Die geliebte, allerdings schwere Kamera. Ein
Fernglas, ein flaumweiches Duschtuch, ein Bestimmungsbuch für Vögel. Der
Weg ist schließlich das Ziel.
Verständnislos folgen die Blicke eines Schweizers der hektischen Suchaktion
nach der vermissten Tasse, er kaut bereits am Küchentisch rhythmisch sein
Morgenmüsli. In nur 35 Tagen ist er von zu Hause bis zur Nordspitze Europas
geradelt. Mit bewährter Routine hat der Mittdreißiger nun den Rückweg in
Angriff genommen. Bis gestern schleppte er einen Ersatzfahrradmantel mit,
den er in einem der dünn gesäten Geschäfte mit Fahrradzubehör ergattert
hatte. Es war keine Zeit zum Wechseln. Und keine Zeit, am avisierten Hotel
zu stoppen, sagt er, da war er nur so daran vorbei gerauscht.
Aber das macht ihm nichts, er freut sich über die sportliche
Rekordleistung. In Kürze wird er wieder im Sattel sein. „Warum willst du
nicht durch den Tunnel fahren?“, fragt er mit fischigem Gesichtsausdruck. –
Eine Fähre gibt es längst nicht mehr, stattdessen verbindet seit 1999 ein
knapp sieben Kilometer langer Unterseetunnel das Festland mit der
Nordkap-Insel Magerøya. Die Röhre ist, wie nordnorwegische Tunnel
allgemein, nur spärlich beleuchtet.
## Reisen statt rasen
212 Meter tief unter den Meeresspiegel senkt sich die Straße, entsprechend
beträgt die Steigung bis zu zehn Prozent. „Also, ich fand das wirklich
nicht so schlimm.“ Es steht dem Mann mit Maulwurf-Ambitionen quasi auf die
Stirn geschrieben, dass er Radwanderinnen ohne diesen Ehrgeiz keine Lizenz
für das Nordkap erteilen würde. Verträumt über den Fjord gucken, sich wegen
einer Tasse verrückt machen – und obendrein den gruseligen Tunnel per Bus
statt auf dem Velo durchfahren zu wollen – was ist das bloß für eine
Nordkap-Radlerin, scheint er zu denken.
Der Schweizer hat mich durchschaut. Von Tag zu Tag zu reisen, einfach mal
zu gucken, wie weit ich mit dem Fahrrad komme, das war meine Devise, als
ich vor zwei Monaten am heimischen Gartentor aufgebrochen bin. Ein Tag
Pause an der Marienburg, der mittelalterlichen Festung des Deutschen Ordens
im heute polnischen Malbork, zwei volle Ruhetage in Masuren am Darginer
See, einer in Litauen, im Regionalpark Kurtuvėnai, drei Nächte in Lettlands
Hauptstadt Riga, zwei weitere im estnischen Tallinn, um von dort per Fähre
über den Meerbusen der Ostsee nach Finnland überzusetzen. Mit Bus oder Zug
in die großen Städte hinein und wieder heraus, nachdem es laut Auskünften
von Stettinern nur möglich war, die siebtgrößte Stadt Polens über eine
Autobahn zu verlassen.
Reisen statt rasen, Geduld haben, wo die Kraft fehlt – die flexible
Messlatte bewährt sich. Erst in den schier unendlichen Wäldern Finnlands
geht diese Achtsamkeit nach und nach verloren. Die tiefblauen Seen mit
grünen Inseln, wie hingetupft, die Tundra, Lappland jenseits des
Polarkreises – immer liegt der spannendste Teil des Landes der Elfen und
Feen noch weiter nördlich. Blutrünstige Horden von Mücken treiben zur
Rastlosigkeit, denn nur im Fahrtwind erwischen sie einen nicht. Später, bei
teilweise vier Grad sind sie zwar weniger aktiv, allerdings wird dann nur
warm, wer sich bewegt.
Also, warum nicht endlich zielstrebig nordwärts bis auf 71° 10’ 21’’ ?
Schließlich sammeln sich, mangels Alternativrouten, zunehmend
Nordkap-Radler, eine vorwiegend aus sehnigen Männern vom Studenten- bis zum
Rentenalter bestehende Spezies. Fast ist es ein Hype, alle wollen hin oder
waren schon da. Das steckt an.
Essen, radeln, ankommen, Zelt aufbauen, duschen, kochen, schlafen. Jeden
Spätnachmittag an einem neuen Ort heimisch werden, sich auf neue Nachbarn
einlassen. Permanentes Hungergefühl trotz reichlich Nudeln und Schokolade.
Sorge, die nächste Etappe nicht zu schaffen – geht das nicht auch anders?
Aber die Entfernungen zwischen möglichen Übernachtungsorten nehmen zu,
ebenso die Ungeduld vor dem Ziel, die Sehnsucht, sich nicht mehr anstrengen
zu müssen. Landstriche werden im Reisetagebuch dokumentiert, anstatt sie
tief ins Herz aufzunehmen, denn das ist bereits übervoll gesättigt mit
Eindrücken.
Schroffe, beinahe schwarze Felsmassive erheben sich hinter dem
2140-Seelenort Lakselv, dem Hauptsitz der Gemeinde Porsangerfjord. Er ist
förmlich in den Wald gestampft, mit zwei Supermärkten, einer Tankstelle und
dem Flugplatz mit regelmäßigen Verbindungen nach Tromsø und Oslo. Man kann
sogar einen Flug nach Madrid chartern, bevor man von der kargen
Eintönigkeit, dem kalten, leicht metallischen Geruch nach Schlick und Tang
bei Ebbe im Fjord oder dem gnadenlosen Krakeelen aus den roten Schnäbeln
der Austernfischer einen Koller bekommt.
## Entspannte Fröhlichkeit
Ein junger Mann aus Polen, ganz leger noch im Pyjama, frühstückt an einem
primitiven Holztisch. Er hat nur zwei Wochen Zeit und sich deshalb für eine
kombinierte Bus- und Fahrradreise zum Nordkap entschieden. Genüsslich
schweift sein Blick über die arktischen Felsbuckel, nackt oder mit
Grasmatten, und die flauschigen Wölkchen, die sich im Wasser widerspiegeln.
Überhaupt scheint seine ganze Radfahrgruppe mehr in Ferien-, denn in
Expeditionsstimmung zu sein. Allerdings haben sie das Nordkap samt
Gepäcktransport gebucht. Ihre Fröhlichkeit wirkt entspannend.
Jenseits des Ortes stürzt der Rappa-Wasserfall über eine Felskante hinab,
zu sehen ist er noch tief unten am Fjord. Der wilden Gischt da oben in den
Bergen muss ein ungeheures Dröhnen des fallenden Stromes folgen. Zu hören
ist – nichts. Der Schall verpufft in der unermesslichen Weite.
70 Kilometer sind es bis zum nächsten Campingplatz in Olderfjord, die
Straße verläuft meistens am Wasser. Immer ferner rückt die Skyline der
Bergkuppen auf der anderen Seite, bis zu 20 Kilometer wird der Fjord breit.
Hier, in der nördlichen Finnmark, mit durchschnittlich einem Einwohner pro
Quadratkilometer, haben sich Einheimische statt bunter Blumen Flamingos aus
Stahl in den Garten „gepflanzt“.
Die Sommer sind kurz, auf den Hochflächen duckt sich die Vegetation vor Eis
und Kälte, manche Schneeflecken schmelzen das ganze Jahr über nicht. Birken
wachsen zaghaft, oft nur in Buschform oder von Stürmen schief gedrückt, am
Ufer. Hölzerne Gestelle für Stockfisch weisen auf ein Wirtschaftsleben, die
Schottertrasse um eine Fjordzunge auf Verwaltung der Wildnis,
vorbeiziehende Wohnmobile auf Tourismus hin.
## In Olderfjord gibt es keine Götter
Zumindest bei Sonne wirkt die raue Gegend wie ein Spielfeld für Krieger des
nordischen Göttergeschlechts der Asen. – Ein Fahrrad, Ausrüstung daran, ein
Mensch darauf, was ist das schon? Nicht mehr als ein Rentierschiss. Die
spröde, abweisende Natur scheint einen mal so eben zu absorbieren. Bloß
nicht aus der Welt fallen, besser einen Schlag schneller in die Pedale
treten. Irgendetwas Nettes muss doch bald mal kommen.
Es ist ein Briefkasten an einem Holzständer, daneben eine Mülltonne. Eines
neuen Anstriches bedürftige Fischkutter, vereinzelte Häuser am Ufer sind
Farbkleckse in der Ödnis. Das Dorf Kistrand ist erreicht. Ein Café wäre
hier zu viel erwartet. Wie ein Fremdkörper ragt die Kirche zwischen den
schlichten Holzhäusern heraus.
1856 erbaut, musste das Gotteshaus während der Besatzungszeit durch die
Deutschen als Kommandoquartier der Nazis herhalten. Zusammen mit nur vier
anderen Gebäuden überstand die Kirche 1944 die Aktion „Nordlicht“, bei der
die Bevölkerung der Finnmark deportiert und ganze Ortschaften zerstört
wurden. Rentiere lümmeln neben einem maroden Schuppen am Fjord, um die
letzte Mahlzeit wiederzukäuen. Halbwild streifen diese Tiere in weitem
Umkreis um den Hof ihres Eigentümers, von denen die meisten dem indigenen
Volk der Samen angehören. An Fahrzeuge gewöhnt, grasen die mit den Hirschen
verwandten Rens gern an der Straße, flüchten allerdings vor Radlern.
Später, in Olderfjord gibt es keine Götter, keine mümmelnden Rens und kein
überwältigendes Gefühl im Bauch. Der Ort ist ein Sammelpunkt für
Nordkap-Reisende, hier treffen die Straßen von Lakselv und Alta zusammen.
Der Souvenirshop, in dem sich Bustouristen drängen, ist deutlich größer als
das Lebensmittelgeschäft. Nachts um drei leuchtet Sonne das Innenzelt weiß
aus, erst vor einer Woche war Sommersonnenwende. Die Edelstahltasse hat
sich wieder angefunden, es herrschen sommerliche Temperaturen, ideal zum
Weiterradeln.
Bis zu dem berüchtigten Nordkap-Tunnel, den mir der schnelle Schweizer
schmackhaft machen wollte, ist es nicht mehr weit. Trotzdem fällt die
Entscheidung leicht: Als der Bus in das dunkle Grau des Tunnels eintaucht,
und ich bald darauf, vom Fenster aus, eine kleine, scheinbar debattierend
zusammenstehende Gruppe Radler sehe, weiß ich, es war, zumindest für mich,
die richtige.
Das Nordkap selber präsentiert sich als ein Felsplateau voller Wohnmobile,
sich mit asketischen Radlerjungs verbrüdernden Japanerinnen und
extravaganter Preise für das kleinste Stück Gebäck. Aber der Weg war ja das
Ziel.
12 May 2019
## AUTOREN
Angelika Wilke
## TAGS
Fahrrad
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Schwerpunkt Europawahl
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