# taz.de -- Warum der Öko-Kollaps droht: Arten sterben | |
> Die Diskussion über die Erderwärmung hat ein anderes Thema überdeckt, das | |
> ebenso brisant ist für das Überleben der Menschheit: die biologische | |
> Vielfalt. | |
Bild: Ausgestorben: die Tobias-Köcherfliege | |
Hamburg taz | Zum Beispiel der Stint: Der kleine Fisch von Sardinengröße | |
landet jedes Frühjahr als Spezialität auf der Speisekarte der Hamburger | |
Restaurants. Doch damit könnte es bald vorbei sein: Seit einigen Jahren | |
sind die Mengen, die die Fischer aus der Elbe holen, dramatisch kleiner | |
geworden. Dass die Teller leer bleiben, ist dabei das geringste Problem. | |
Das Fischchen illustriert ein Menschheitsproblem. Auf der Weltkonferenz für | |
Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro wurde es neben der | |
Erderwärmung als zweites großes Thema mit einem internationalen | |
Vertragswerk bedacht: der Rückgang der biologischen Vielfalt, sprich: das | |
Artensterben. | |
Das Thema segelte lange im Schatten der Erderwärmung, ist aber noch | |
brisanter. Vor anderthalb Wochen wurde es mit einem Paukenschlag ins | |
öffentliche Bewusstsein geholt, als der Weltbiodiversitätsrat in Paris | |
seinen jüngsten Bericht vorlegte. Die erste umfassende Bestandsaufnahme | |
seit 14 Jahren fußt auf 15.000 Studien und kommt zu einem erschreckenden | |
Fazit: | |
Noch nie in der Geschichte der Menschheit sei die Natur in diesem Ausmaß | |
auf dem Rückzug gewesen. Eine Million Arten seien vom Aussterben bedroht, | |
stellten die Delegierten aus 132 Mitgliedstaaten fest. Und die Tiere | |
verschwänden immer schneller. Dabei seien „schwer wiegende Folgen für | |
Menschen rund um die Welt jetzt wahrscheinlich“. | |
## Die Gefahr ist schon lange bekannt | |
Biodiversitätsforscher kennen diese Gefahr schon lange. „Dass wir uns auf | |
einen gemeinsamen Sachstandsbericht geeinigt haben, ist ein wichtiger | |
Schritt“, sagt Matthias Glaubrecht, der Direktor des Centrums für | |
Naturkunde der Universität Hamburg (Cenak). Jeder Einzelne müsse jetzt | |
handeln und die Politik müsse erkennen, „dass wir mit dem Klimawandel und | |
dem Artenschwund die größten Herausforderungen haben“. | |
Das Problem dabei sei nicht so sehr, dass Arten komplett verschwänden, sagt | |
der Professor. Das beträfe nur sehr wenige. Das eigentliche Problem bestehe | |
darin, „dass wir bei unendlich vielen Arten die Population unendlich | |
ausdünnen“. | |
Die Masse macht es auch beim Stint. Denn der Fisch ist zwar klein, aber der | |
zahlreichste in der Elbe und damit ein zentrales Glied in der | |
Nahrungskette. Er frisst vor allem Ruderfußkrebse und Schwebegarnelen, | |
speichert die aufgenommenen Kalorien in seinem Körper und stellt sie dann – | |
in Gestalt seiner selbst – wieder Raubfischen sowie Vögeln zur Verfügung. | |
Dass der Stint verschwindet, zeige sich nicht nur in den Netzen der | |
Fischer, sondern auch daran, dass seine Fressfeinde Aal, Seeschwalbe oder | |
Kormoran weniger würden, sagt der Zoologe Ralf Thiel, der das Institut für | |
Fischkunde am Cenak leitet. Der Professor sieht im Stint eine Schlüsselart | |
im Ökosystem der Elbe. „Ich wüsste im Moment nicht, wer die Lücke für die… | |
Art ausfüllen sollte“, sagt Thiel. | |
Dass die Bemühungen des Naturschutzes vielfach ins Leere gelaufen sind, hat | |
in jüngerer Zeit eine Langzeitzählung in Nordrhein-Westfalen sichtbar | |
gemacht. Demnach hat die Biomasse an Insekten in Naturschutzgebieten um 80 | |
Prozent abgenommen. Beim Publikum hatte dieses Ergebnis einen | |
Hallo-wach-Effekt: So manchem wurde plötzlich bewusst, warum er keinen | |
Hartplastik-Schwamm mehr im Handschuhfach hat, um Insekten von Autoscheiben | |
und Scheinwerfern zu kratzen. | |
## Die Natur stellt keine Rechnung | |
Was vordergründig den Menschen so womöglich angenehm erscheint, bedroht | |
seine Lebensgrundlagen. Vögel und kleine Tiere wie Igel finden nicht mehr | |
genug Nahrung. Mit den Insekten gerät auch die Landwirtschaft in Gefahr, | |
die wie selbstverständlich davon ausgeht, dass Wildbienen und Hummeln ihre | |
Nutzpflanzen bestäuben. | |
„Eine einzige Art der Insekten hat profitiert“, sagt der Zoologe | |
Glaubrecht. „Das ist die Honigbiene.“ Deren drohendes Verschwinden habe | |
viele zu Hobby-Imkern werden lassen. Dabei seien es die 500 | |
Wildbienen-Arten, die das Gros der Bestäubung leisteten. „Das ist eine | |
Ökosystem-Dienstleistung, die uns geschenkt wird“, sagt Glaubrecht. | |
Dabei ist bei den allermeisten Organismen gar nicht bekannt, was Nützliches | |
in ihnen steckt. „In 250 Jahren haben wir 1,9 Millionen Arten beschrieben“, | |
sagt Glaubrecht. Schätzungen gingen von acht bis neun Millionen Tierarten | |
aus. | |
Zu den Millionen an Tierarten auf der Welt kommen Hunderttausende Pilze und | |
Pflanzen. „Im Grunde tappen wir seit 250 Jahren in einem großen dunklen | |
Raum herum“, sagt der Hamburg Zoologe Glaubrecht. | |
## Der verborgene Schatz | |
Und selbst bei den Organismen, die wir kennen, haben wir keinen blassen | |
Schimmer, was sie alles können. Pharmakonzerne sind dazu übergangen, | |
Expeditionen in besonders artenreiche Lebensräume wie den tropischen | |
Regenwald zu entsenden. Bioprospektion nennt sich dieser Versuch, es diesen | |
Völkern gleich zu tun, die über Jahrtausende gelernt haben, wie sich aus | |
Pflanzen und Tieren Wirkstoffe gegen Amöbenruhr, Pilzinfektionen oder | |
Zahnschmerzen gewinnen lassen. | |
1991 schloss das Pharmaunternehmen Merck mit dem Nationalen Institut für | |
Biodiversität Costa Ricas einen Vertrag, der es der Firma erlaubte, in den | |
natürlichen Lebensräumen des artenreichen Landes nach Wirkstoffen für | |
Medikamente zu suchen. Merck zahlte dafür mehrere Millionen Dollar an das | |
mittelamerikanische Land. | |
Die Natur synthetisiert Moleküle, die sich Chemiker nicht einmal träumen | |
lassen. Das gilt etwa für Bakterien, die in den kochend heißen | |
Thermalquellen des amerikanischen Yellowstone-Nationalparks leben. Wie der | |
amerikanische Evolutionsforscher Edward O. Wilson berichtet, gelang es | |
Bio-Technikern mit Hilfe dieses Organismus, ein hitzeresistentes Enzym zu | |
erzeugen, mit dem sich die Erbsubstanz DNA vermehren lässt – was einen | |
Quantensprung in der Molekularbiologie auslöste. | |
Wildpflanzen stellen darüber hinaus ein wichtiges genetisches Reservoir für | |
unsere Kulturpflanzen dar – eine Reserve für den Fall, dass diese von bis | |
dato unbekannten Krankheiten oder Umweltbedingungen bedroht werden. Denn | |
die Menschheit ernährt sich im Wesentlichen von drei Getreidearten: Reis, | |
Weizen und Mais. | |
## Drei Arten ernähren die Welt | |
„Die Nahrungsmittelversorgung der Welt hängt an einem seidenen Faden, was | |
die biologische Vielfalt betrifft“, schreibt Wilson, der eine Art Veteran | |
des Themas „biologische Vielfalt“ ist und eine Reihe populärer Bücher | |
darüber verfasst hat. | |
Längst gibt es die Vorstellung, diese Vielfalt an Tieren und Pflanzen ließe | |
sich notfalls im Labor nachbauen. „Das alles künstlich zu machen, kann man | |
sich nicht vorstellen“, sagt Glaubrecht. Die Vorstellung, Schwärme von | |
Drohnen könnten die Bestäubung der Apfelblüten im Alten Land übernehmen, | |
hält der Zoologe für absurd. Solche Ökosystemdienstleistungen technisch zu | |
erbringen, sei teurer, als die Natur zu erhalten. | |
Ganz abgesehen davon, dass auch der unscheinbarste Fadenwurm ein Wunder ist | |
– eines, das im Wechselspiel mit anderen Arten durch die Rekombination von | |
Genen und natürliche Auslese in Äonen entstanden ist. „Jede Art erweist | |
sich bei näherer Betrachtung als ein unerschöpflicher Quell des Wissens und | |
des ästhetischen Genusses“, schreibt Wilson. „Sie ist gleichsam eine | |
lebendige Bibliothek.“ | |
## Das Ende der Evolution | |
Wer Arten und Ökosysteme um kurzfristiger Vorteile willen opfere, sagt | |
Wilson, der könne ebenso gut Kunstgalerien verbrennen. „Wollen wir | |
tatsächlich die lebendige Geschichte der Erde auslöschen?“, fragt der | |
Forscher. | |
Das Fatale sei, dass sich das Artensterben nicht zurückdrehen lasse, sagt | |
sein Kollege Glaubrecht. Denn die Menschheit rottet die Arten in einem | |
vielfach höheren Tempo aus als neue entstehen können. „Wir provozieren hier | |
das Ende der Evolution“, warnt Glaubrecht. | |
17 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Gernot Knödler | |
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