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# taz.de -- Digitalisierung in China: Ein Code für alle Fälle
> Ein Taxi bestellen, den Aufzug rufen, Strafzettel bezahlen: Wer in China
> lebt, kommt an der App WeChat nicht vorbei. Da wird selbst Facebook
> neidisch.
Bild: Eine Frau bezahlt ihre U-Bahnfahrt in Shenzhen mit der App WeChat
Peking/Berlin taz | Die Kassiererin blickt genervt auf. „Kein Portemonnaie
dabei?“, fragt sie. Verlegen wühle ich in meiner Jackentasche herum,
fummele an meinem Smartphone. Apple-Pay funktioniert bei dieser
Edeka-Filiale noch nicht. Das weiß ich. Aber gibt es nicht irgendeine
andere App, mit der ich meinen Einkauf bezahlen kann? WhatsApp vielleicht?
Die Kassiererin schaut mich verdutzt an.
Es ist bereits das zweite Mal, dass ich mit vollen Tüten vor einer Kasse in
einem deutschen Supermarkt stehe und nicht bezahlen kann, weil ich mein
Portemonnaie vergessen habe. Sieben Jahre habe ich in China gelebt. Seit
einem Monat bin ich wieder in Berlin. Schwer gefallen ist mir die Rückkehr
nicht. Die Luft in Berlin ist sehr viel besser, ich kann wieder
unbedenklich das Wasser aus dem Hahn trinken und muss es nicht vorher
abkochen und zigfach filtern. Die Straßen in Berlin sind nicht ganz so voll
wie in Peking.
Andererseits vermisse ich die Maultauschen – „Drei Sorten“ mit Krabbe,
Schwein und Shiitake-Pilzen – von meinem Lieblingsimbiss um die Ecke. Und
auch an etwas anderes muss ich mich wieder gewöhnen: das Portemonnaie
einstecken. Denn in China brauchte ich für den Alltag nur mein Smartphone.
Und genau genommen auch nur eine App: WeChat.
Es ist noch nicht lange her, da haben viele auch in China noch über diese
App gelästert. Sie sei ja bloß ein Abklatsch von WhatsApp, das in der
Volksrepublik nur einen kurzen Auftritt hatte, dann von der Zensurbehörde
allerdings blockiert wurde, weil es eben keine chinesische App war.
Optisch gleichen sich die beiden Apps: Auf beiden Logos sind weiße
Sprechblasen zu sehen. Und so wie WhatsApp hatte auch WeChat als
Kurznachrichtendienst begonnen. Doch WeChat, das auf Chinesisch Weixin
heißt, ist längst mehr. Sehr viel mehr. Eine Art Super-App.
## Mit dem Barcode die Äpfel bezahlen
Außer Nachrichten und Emojis verschicken, Online-Telefonie mit und ohne
Videobild, lassen sich über WeChat auch Tickets im Hochgeschwindigkeitszug
buchen, Flüge, Fahrtdienste, Kinokarten.
Das funktioniert so: Der Nutzer erhält einen eigenen Barcode. Mit der
Kamera des Smartphones kann jeder andere WeChat-Nutzer diesen Barcode
innerhalb weniger Sekunden lesen. Daraus ergeben sich viele weitere
Funktionen: Der Barcode ersetzt die Visitenkarte, findet sich auf jeder
Firmenwebseite.
Vor allem aber lässt sich an jeder Ecke damit bezahlen. Denn die App ist
mit dem Bankkonto verbunden. Es genügt, den Barcode des Gegenübers zu
scannen und die Summe wird abgebucht.
In einem Land wie China ist das besonders von Vorteil. Gerade auf dem Land
haben die meisten Bauern und Händler keine teuren Kreditkartenlesegeräte
für Visa, Mastercard oder Union Pay, dem chinesischen Pendant. Das Bargeld
wiederum ist oft sehr dreckig, die Scheine angerissen, weil sie durch so
viele Hände gingen.
Mit WeChat muss selbst die Obsthändlerin an der Ecke bloß ihren Barcode
zeigen, und schon hat der Kunde seine Äpfel bezahlt. Ein Smartphone hat in
China inzwischen jeder.
## Auch Bettler nutzen die App
Selbst die Bettlerin. In meiner Nachbarschaft saß immer an der gleichen
Stelle eine behinderte Frau mit ihrem ebenfalls behinderten Sohn und
bettelte um Geld. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, alles
Kleingeld, was sich bei mir ansammelte, in ihren Korb zu werfen. Doch dann
wollte sie die vielen Münzen und Scheine nicht mehr. Sie zeigte stattdessen
auf einen Zettel vor ihr mit einem Barcode drauf. Sie bat mich, ihr das
Geld künftig auf ihr Konto zu überweisen. Natürlich mittels WeChat.
Andere Netzwerke, die im Rest der Welt verbreitet sind, spielen in China
keine Rolle. Facebook? Ist vielen zwar ein Begriff, in China aber gesperrt.
Twitter? Ebenso. Und auch YouTube, Snapchat, Instagram sowie die meisten
bekannten Google-Dienste sind nur schwer oder gar nicht abrufbar. WhatsApp
funktioniert sporadisch – meistens aber nicht. Die übergroße Mehrheit stört
das wenig. Schließlich haben sie ihre eigenen Dienste.
Mehr als eine Milliarde Chinesinnen und Chinesen nutzen WeChat inzwischen.
Wegen der vielen Funktionen. Oft sind sie spielerischer,
bedienerfreundlicher und meist auch schlicht besser in der Anwendung.
War China nicht eben noch ein Entwicklungsland? Jetzt ist es an den
Europäern vorbei ins digitale Zeitalter gesprungen. Was ist passiert?
## Die Great Firewall
Rückblick auf das Jahr 2009. Uigurische Aktivisten begehren gegen die
Autoritäten auf. Uiguren sind eine muslimische Minderheit im Nordwesten der
Volksrepublik. Seit Jahrzehnten fühlen sie sich unterdrückt. Und das werden
sie auch. Ihren Protest haben sie über Facebook organisiert. Weil Facebook
und Twitter sich zu der Zeit auf mehrfache Aufforderung der chinesischen
Behörden weigerten, die Einträge zu löschen, ließ das chinesische
Sicherheitsministerium kurzerhand die US-Dienste sperren. Die Great
Firewall war geboren – Chinas staatliche Internetzensur.
Ganz abgeschnitten ist das Land damit aber nicht vom Rest der Netzwelt.
Facebook und Co. sind mittels VPN-Tunnel erreichbar, wenn auch umständlich.
Offiziell ist das verboten, verfolgt werden Vergehen aber bislang nicht.
Die kommunistische Führung hatte die Great Firewall in erster Linie aus
politischen Gründen errichtet. Daraus ergab sich jedoch ein ökonomischer
Nebeneffekt: Die chinesischen Gegenstücke zu den US-Größen – bis dahin auch
in China nur von wenigen genutzt – konnten sich im Land rasch ausbreiten.
Sie heißen Baidu, Alibaba, Tencent – und sie gehören nach Facebook, Google
und Amazon heute zu den mächtigsten IT-Playern der Welt.
Doch die Zensur ist nicht der alleinige Grund für den Erfolg der
chinesischen Pendants zu den international bekannten Diensten. Denn Tencent
macht mit WeChat einiges anders als etwas Facebook mit WhatsApp.
Er ist 50 Jahre alt, trägt gerne Jeans und Kapuzenpullis und ist Erfinder
von WeChat. Zhang Xiaolong ist eine Legende: Zhang, der sich im
internationalen Kontext mit Vornamen auch Allen nennt, macht sich in der
Öffentlichkeit eher rar. Der gelernte Programmierer gilt als schüchtern,
introvertiert, und meidet große Veranstaltungen, ähnlich wie sein Boss,
Tencent-Chef Pony Ma. Wenn sich Zhang einmal blicken lässt, dann hat er
meist Wegweisendes zu verkünden.
## Eine App als eigene Plattform
So auch vor anderthalb Jahren in der Wirtschaftsmetropole Guangzhou, wo
WeChat seine Zentrale hat. 4.000 Softwareentwickler aus dem ganzen Land
hatte er zu einer Entwicklerkonferenz in ein Kongresszentrum geladen.
Die Entwickler waren aber nicht gekommen, um an WeChat zu arbeiten. Es
handelte sich um Mitarbeiter unabhängiger Firmen, die Mini-Programme
machen, die innerhalb von WeChat laufen. Denn auch das ist eine Stärke von
WeChat. Der Dienst ist nicht wie WhatsApp bloß ein Kurzmitteilungsdienst
mit Telefonfunktion und ein paar weiteren Gadgets.
Wie Apple beim iPhone externen Programmierern eine Plattform geboten hat,
damit sie sich bei der Entwicklung neuer Apps austoben können, geht Tencent
bei WeChat nun ähnlich vor. Im Unterschied zu anderen Apps müssen diese
Mini-Programme allerdings nicht extra heruntergeladen und installiert
werden – sie sind innerhalb von WeChat sofort einsatzbereit. Das Programm
hat sich binnen weniger Jahre auf diese Weise zu einer eigenen Plattform
entwickelt.
Ohne kann man kaum mehr ein Taxi rufen in Peking. Vor einiger Zeit stehe
ich an einer lauten Ausfallstraße irgendwo im Süden der Stadt und will weg.
Noch vor kurzem wäre das kein Problem gewesen. Ich musste bloß meine Hand
ausstrecken. Schon hätte ein Taxi gehalten. Doch das geht jetzt nicht mehr.
Denn das funktioniert fast nur noch mit WeChat. Ein paar Mal tippen, dann
über die Mikrofonfunktion sagen, wohin man möchte, schon gibt es eine
Benachrichtigung, dass ein Taxifahrer mich gleich abholen wird.
Der Vorteil für den Taxifahrer: Er muss nicht mehr durch die verstopften
Straßen gurken, bis er einen Kunden am Straßenrand findet, sondern kann den
Kunden direkt abholen. Der Nachteil für Touristen aus dem Ausland: Ohne
WeChat findet er kein Taxi mehr. Mir blieb also gar nichts übrig, mich mit
meinem Account ebenfalls für diese Funktion anzumelden.
## Über 600.000 Mini-Programme
Eine Plattform – das wollen heute alle sein. Auf Branchentreffen wie dem
Web Summit in Lissabon oder auf der republica in Berlin ist das derzeit ein
Modewort. Auch Jack Ma, der Gründer des E-Commerce-Giganten Alibaba, eine
Art chinesisches Amazon, bezeichnet seinen Dienst als Plattform. Ein
Unternehmen bietet den Rahmen an, in dem andere Geschäfte machen. Die
machen die eigentliche Arbeit und sind kreativ. Aber die Plattform verdient
mit.
Genau darin besteht die Leistung von WeChat: Eine App zur Verfügung zu
stellen, die ohnehin jeder hat, und darauf Tausende weitere Anwendungen zu
satteln, sodass sie zu einer Alles-App wird.
Über 600.000 so genannte Mini-Programme lassen sich in das Ökosystem WeChat
integrieren. Es ist nicht notwendig, immer wieder eine App herunterzuladen
oder sich den Namen der Marke zu merken. Es reicht völlig aus, dem Barcode
zu folgen, der auf Firmenwebsiten eingebaut, auf Broschüren, Visitenkarten
und in Chat-Gruppen zu finden ist. Die meisten Mini-Programme kommen von
Drittanbietern. Viele davon sind Spiele.
Allen Zhang lädt inzwischen regelmäßig zur Entwicklerkonferenz nach
Guangzhou ein – und tritt dann auch an die Öffentlichkeit. Er wolle nicht
zuletzt auch selbst erfahren, „welche neuen Trends die Programmierer
aufspüren.“ Doch Zhang will mehr. Geht es nach ihm soll WeChat so ziemlich
alle Internetangebote ersetzen, die der chinesische Bürger im Alltag
benötigt.
In China finden das alle praktisch. Bei einer Recherche traf ich die
fünfjährige Yu, die über ein Kuscheltier kommuniziert, in dem ein kleiner
Computerchip eingebaut ist. So kann sie mit ihren Eltern sprechen.Von Yu
bis zur Bettlerin – alle lieben WeChat.
Ich gehöre eigentlich zu den Skeptikern neuer Technologien – vor allem in
einem Land wie China, das seine Bewohner überwacht. Doch als ich an einem
lauen Sommerabend in Peking mit Freunden gemütlich in einem Restaurant saß
und bezahlen wollte, winkte meine Bekannte neben mir ab. Sie habe bereits
mit WeChat bezahlt. Ich wollte ihr meinen Anteil geben. Sie zeigte bloß auf
die App – überweise es doch. Da merkte ich: Ich muss diese Funktion auch
dringend aktivieren.
## Daten sind der Rohstoff unserer Zeit
Auf den Smartphones der westlichen Länder herrscht zumindest ein Minimum an
Konkurrenz. Bezahlt werden soll mit Paypal – oder Sparkassen-App. Für
Nachrichten ist WhatsApp zuständig. Das Taxi gibt es über MyTaxi. Fürs
Videophon bevorzugen viele immer noch Skype. Urlaubserlebnisse teilen sie
auf Facebook. News eher auf Twitter. In China übernimmt all das WeChat. Es
hat alle Nischen des Ökosystems besetzt.
Daten sind der Rohstoff unserer Zeit. Die Vernetzung von Daten potenziert
ihre Macht. Und Tencent weiß mit WeChat alles über seine Nutzer. Was sie
kaufen, welches Essen sie in Restaurants bevorzugen, wohin sie gehen,
worüber sie sich unterhalten, wen sie lieben und wen sie hassen.
Diese Konstellation ist nicht nur ein gewaltiger Pluspunkt für die
Konsumindustrie, die einen hemmungslos mit Werbung für Dinge und
Dienstleistungen bombardieren, die den jeweiligen Vorlieben entsprechen,
sondern auch bei der Entwicklung von Anwendungen für künstliche
Intelligenz. Die selbstlernenden Programme der Zukunft wie etwa beim
autonomen Fahren, brauchen Anschauungsmaterial. Und niemand weiß so viel
über die Menschen wie Tencent.
Als Nächstes soll die Integration von WeChat ins Berufsleben folgen.
Nachdem sich die Leute im Privaten daran gewöhnt haben, nutzen sie die App
auch im Job eifrig. Sie teilen Vertragsentwürfe, machen Termine aus und
schicken Fotos von Problemen am Fließband an die Ingenieure. Tencent geht
darauf ein.
Arbeitnehmer können bereits per WeChat Urlaubstage anmelden. Das Programm
weiß auch, wer in welchem Stockwerk eines Bürogebäudes arbeitet – und das
eröffnet den Zugang zu interessanten neuen Anwendungen.
## Das eigene Hauptquartier als Versuchslabor
Huang Xiaoding ist der Herr über 82 Fahrstühle. Er hat mich eingeladen, das
neue Tencent-Hauptquartier in der Zwölfmillionenmetropole Shenzhen zu
besuchen. Stolz zeigt er mir die Dachkonstruktion aus Stahl und Glas, die
sich über mir wie eine gigantische Kathedrale erhebt; rotes und blaues
Licht von den Riesenbildschirmen darunter scheinen auf sein Gesicht. Huang
hält seine Karte an das Lesegerät neben dem Aufzug – und der weiß daraufhin
genau, in welches Stockwerk er fahren muss. „Das geht demnächst auch mit
WeChat“, erklärt mir der Aufzug-Manager. „Dann wird die Karte überflüssi…
Es ist nur einer von vielen tausend Geschäftsbereichen, mit dem sich
Tencent beschäftigt: Der Verzahnung der Aufzugstechnik mit WeChat. Und das
neue Hauptquartier von Tencent ist selbst Versuchslabor für diese neue
Technik.
Vor knapp einem Jahr hat Tencent dieses Doppelhochhaus im Hightech-Viertel
von Shenzhen bezogen. Tencent Seafront Towers heißen die zwei Türme, der
eine hat 50 Stockwerke, der andere 39. Beide sind schräg einander zugeneigt
– das soll die Windlast mindern. In der Region wüten in den Sommermonaten
regelmäßig Taifune. Die beiden Türme sind mit drei gläsernen Brücken
verbunden. Die Mitarbeiter sollen sich über den Weg laufen, vernetzen und
Ideen austauschen können. Im Inneren des Gebäudes herrscht denn auch eher
Campus- als Büro-Atmosphäre. „Ein architektonisches Meisterwerk“, sagt
Huang. „Das ganze Land redet über das Gebäude.“
Doch auch die Verzahnung von WeChat mit dem Arbeitsleben ist
Chefprogrammierer und WeChat-Gründer Zhang nicht genug. Ebenfalls in
Shenzhen, aber auch in einer Reihe anderer südchinesische Städte kooperiert
Tencent mit den örtlichen Behörden. Sie probieren in mehreren
Pilotprojekten eine völlig neue Form des E-Government aus.
## Auch Polizisten scannen den Barcode
In der Shenzhen ist das bereits Realität. So sind Ausweis und
Sozialversicherungskarte in dem personalisierten WeChat-Barcode
gespeichert, ebenso Führer- und Fahrzeugschein. Bei einer Verkehrskontrolle
reicht es nun, wenn der Polizist mit seinem Smartphone über den Code des
Autofahrers scannt, schon hat er seine Daten beisammen. Auch das Bußgeld
wird sofort vom Konto des Verkehrssünders abgebucht.
Nicht mehr nur Bargeld soll obsolet werden, sondern alles, was derzeit bei
den meisten noch im Portemonnaie oder in der Brieftasche steckt:
Personalausweis, Führerschein, Fahrzeugpapiere? Das Smartphone in der
Hosentasche reicht.
Geht es nach Tencent, ist E-Government in China demnächst also sehr viel
mehr, als sich bloß beim Einwohnermeldeamt online registrieren zu können,
wie das derzeit in Deutschland angestrebt wird. Auch Ämter, in die der
Bürger noch persönlich erscheinen muss, sollen überflüssig werden. Und
Chinas Regierung hat Tencent den Zuschlag fürs E-Government gegeben.
Dabei ist Tencent ein Privatunternehmen. Im staatskapitalistischen China
mit seiner autoritären Führung ist es aber gar nicht möglich, mit der
Regierung nicht zu kooperieren – schon gar nicht ein Unternehmen wie
Tencent, das im Börsenwert zwischenzeitlich sogar Facebook überflügelt
hatte. Wie alle IT-Konzerne, die in China tätig sind, gibt auch die
Firmenleitung von Tencent unverhohlen zu: Die Sicherheitsbehörden haben
jederzeit Zugriff auf die Daten. In China gilt: Wer eine Chat-Gruppe
einrichtet, ist für deren Inhalt verantwortlich. Zahlreiche Nutzer sitzen
in China in Haft, wegen – aus Sicht der kommunistischen Führung – politisch
nicht korrekter Einträge, die der Nutzer selbst verfasste oder es zuließ,
dass andere sie in der Gruppe posteten.
## Datenschutz? In China kein Thema
Vor eineinhalb Jahren hatte mir jemand ein Bild auf WeChat geschickt.
Darauf ein chinesischer Künstler, der ein T-Shirt mit einem gelben
Regenschirm anhat. Dieser Regenschirm war das Symbol der
Demokratie-Proteste 2014 in Hongkong. Hunderttausende gingen in der
einstigen britischen Kronkolonie auf die Straße. In Hongkong ist das noch
erlaubt. Denn anders als in der Volksrepublik gibt es in der heutigen
chinesischen Sonderverwaltungszone noch so etwas wie Meinungsfreiheit. In
China aber werden solche Proteste staatlich verfolgt.
Bei dem Bild, das mir jemand auf den Gruppenchat zugeschickt hatte, hatte
ich gar nicht so sehr Angst um mich selbst. Als ausländischer Journalist
hatte ich schlimmstenfalls die Ausweisung zu befürchten. Doch die anderen
Mitglieder kann ein solches Bild in Gefahr bringen. Kurze Zeit später war
das Bild wieder gelöscht. Keine Ahnung, ob der Verfasser es gelöscht hatte
oder die Zensur.
Datenschutz? Das ist in China kein Thema, vielen nicht mal ein Begriff. Und
einem Land, in dem die Regierung in den kommenden Jahren landesweit ein
Social-Scoring-System einführen will, das das Verhalten jedes einzelnen
Bürgers sowohl im Netz als auch im realen Leben genau unter Beobachtung
stellen und entsprechend auswerten soll, kann von Datenschutzbewusstsein
nicht die Rede sein – zumal die Abhängigkeit von diesen Diensten groß ist.
Ob der Staat, die Konsumindustrie oder jeder erdenkliche Dienstleister –
alle Spuren, jegliches Verhalten, sämtliche Daten werden gespeichert. Das
ist sehr praktisch, wenn die entsprechenden Angebote auf dem Smartphone
erscheinen, auch wenn der Nutzer sie gar nicht mal aktiv abgefragt hat. Wer
am modernen Leben Chinas teilhaben will, kommt um WeChat gar nicht mehr
herum.
Mit der Einführung des Social-Scoring-Systems dürfte der Staat noch besser
über seine Bürger Bescheid wissen. Für die Betreiber, im Falle Chinas auch
der Staat, ist es ein Leichtes, herauszufinden, wer Initiator oder
Meinungsführer bei den Einträgen ist. Das lässt sich auch entsprechend
manipulieren.
## China setzt die Silicon-Valley-Giganten unter Druck
Wie weit sind die Deutschen von „chinesischen Verhältnissen“ entfernt?
Datenschutz hat in Deutschland einen hohen Stellenwert. Noch. Das
WeChat-Symbol findet sich in Berlin zwar auch an Kassen des Kadewe oder bei
dm oder Rossmann. In diesen Läden lässt sich also mit der App bezahlen.
Doch diese Dienstleistung richtet sich ausschließlich an chinesische
Touristen, die als spendierfreudig gelten. An einer weltweiten Expansion
ist Tencent mit seiner App nicht interessiert. Die chinesische Kundschaft
reicht dem Unternehmen aus.
Und doch setzen die Verhältnisse in China auch die großen IT-Unternehmen im
Silicon Valley unter Druck. Google, Amazon und Facebook beneiden die
chinesische Konkurrenz um die Milliarden Daten, die Tencent und Alibaba von
ihren Nutzern sammeln können. Auch Google und Facebook sammeln Daten – und
nutzen sie zuweilen ungefragt. Doch dafür müssen sie sich rechtfertigen und
Besserung geloben. Neue Datenschutzbestimmungen maßregeln sie. Tencent,
Alibaba und die chinesischen Tech-Giganten hingegen machen keinen Hehl aus
ihrer Sammelwut. Im Gegenteil: Sie werben damit und versprechen den Nutzern
noch „passgenaueren Service“.
In Europa macht sich die IT-Lobby angesichts der Möglichkeiten, die die
Unternehmen in Fernost haben, stark für eine Lockerung der
Datenschutzbestimmungen. Ob die Europäer künftig technisch überhaupt noch
mit dem autoritären Staatskapitalismus mithalten können, ist unklar.
Auch in Europa muss man in einigen Apps die Kreditkarte, den Führerschein
und den Personalausweis hinterlegen. Der Unterschied zu China: Die Daten
liegen bei unterschiedlichen Anbietern. Bei DriveNow, der Deutschen Bahn
oder Emmy. Der Nutzer profitiert von der Konkurrenz zwischen
unterschiedlichen Anbietern und dem Datenschutz der Demokratien.
## Kurzlebige IT-Trends
Schon heute können einzelne Marktführer wie Google auf ungeheure Daten
zugreifen: wohin wir gehen, was wir suchen, was wir uns anschauen, wann wir
aufstehen. Sollte sich googlepay im Westen durchsetzen, könnte auch Google
potentiell viele der Möglichkeiten haben, die WeChat heute hat.
Doch längst ist auch die Dominanz von WeChat in China schon wieder bedroht.
Denn auch das ist das Wesen von IT-Trends: Sie sind kurzlebig. Im Westen
wird Facebook unter Teenagern schon als Medium der Eltern verschmäht.
Und auch die junge Generation in China hat neue Favoriten. Eine davon ist
die Kurzvideo-App „Douyin“, im Ausland auch als TikTok bekannt. In jeder
U-Bahn in Peking trifft man auf Schülerinnen und Schülern, die auf ihr
Smartphone starren und Faxen vor der Kamera machen.
Auch beliebt unter jungen Chinesen: Toutiao, ein Newsfeed mit Inhalten
speziell für junge Leute. Beides sind Angebote der chinesischen Firma
Bytedance, der innerhalb kurzer Zeit zum größten Konkurrenten von Tencent
aufgestiegen ist. Bis August hatte Douyin bereits 225 Millionen aktive
Nutzer, Toutiao sogar über 250 Millionen, nach Angaben der
Forschungsgesellschaft QuestMobile ein Anstieg um mehr als das Vierfache
innerhalb eines Jahres. Tencent hat zwar mit der eigenen Kurzvideo-App
Weishi reagiert. Der zählte jedoch lediglich rund 50 Millionen aktive
Nutzer, also weniger als ein Viertel von Douyin.
Bislang war es so, dass jedes soziales Netzwerk einen Lebenszyklus hat. Das
scheint im Reich der Mitte nicht anders zu sein. Aus Sicht eines
chinesischen Teenagers ist WeChat steinalt. Und was ist mit dem Angebot der
unabhängigen Entwickler, die bei WeChat integriert sind? Und der Staat, der
mit E-Government ebenfalls dabei ist? Die würden wohl rasch auf die neuen
Angebote aufspringen. Chinesen sind flexibel.
12 May 2019
## AUTOREN
Felix Lee
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