# taz.de -- WDR-Doku über Digitalisierung: Wenn Kollegen Kollegen bewerten | |
> Die Dokumentation „Neuland“ widmet sich den Folgen der Digitalisierung in | |
> China und Deutschland. Ab Donnerstag ist sie in der ARD-Mediathek zu | |
> sehen. | |
Bild: Thomas Derksen, Protagonist in der Doku, zahlt sein Essen nur noch online | |
Wenn man auf ein Bild zurückgreifen möchte, das eindrucksvoll zeigt, wie | |
weit in der Gesellschaft [1][Chinas die Digitalisierung fortgeschritten | |
ist,] dann könnte das mittelfristig möglicherweise eine Szene sein, die die | |
Autor*innen der WDR-Dokumentation „Neuland“ zu Beginn ihres Films platziert | |
haben. Im Bild ist ein Obdachloser zu sehen, der einen QR-Code um den Hals | |
gehängt hat, den gebefreudige Passanten mit seinem Smartphone scannen | |
können. Sogar „die Ärmsten“ hätten „auf Mobile Payment umgestellt“, … | |
es im Film dazu. „Alipay“ heißt dieses Bezahlsystem, und man kann es | |
mittlerweile auch in sämtlichen Filialen einer Drogeriemarktkette in | |
München nutzen. | |
Die Dreharbeiten für den chinesischen Part von „Neuland“ (Untertitel: „W… | |
hat die Macht im Internet?“) fanden in der ersten Novemberwoche 2019 in | |
China statt, [2][vor Ausbruch der Corona-Pandemie.] Der Film regt nun an, | |
einen Blick auf jene Entwicklungen in China zu werfen, für die im Moment | |
die Aufmerksamkeit geringer ist. So soll dort bis Ende 2020 ein sogenanntes | |
Social Credit System System installiert werden, das über verschiedene | |
Kanäle das Sozialverhalten der Bürger überwacht, unter anderem mit Hilfe | |
von 600 Millionen „intelligenten Kameras“, die in der Öffentlichkeit | |
angebracht sind. In einem Werbespot droht eine Frau damit, dass die | |
Geächteten zum Beispiel keine Versicherungen mehr abschließen dürften | |
Wann bekommt der digitale Fortschritt totalitäre Züge? Wie kann eine | |
demokratische Gesellschaft wie die bundesrepublikanische ihren | |
technologischen Rückstand „aufholen“, ohne dabei Bürgerrechte über Bord … | |
werfen? Das sind Fragen, die Julia Friedrichs, Fabienne Hurst und Andreas | |
Spinrath in ihrem Film aufwerfen. | |
Zur Hoffnung, dass darauf jene, die man gemeinhin unter „die Politik“ | |
subsumiert, eine Antwort finden, gibt der Film wenig Anlass. Die | |
Zuständigkeit ist zersplittert: In verschiedenen Ministerien beschäftigen | |
sich 244 Teams in 76 Abteilungen „mit digitalen Fragen“. Und die | |
ausführlich vorgestellte Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales im | |
Kanzleramt, habe „kein Budget“, wie mehrere Politikerkollegen hier | |
monieren. Ihre Äußerungen wirken realsatirisch („Bei mir ist nicht nur | |
mobile first, sondern mobile only“) oder hilflos („Ich finde, wir machen | |
viel, viel mehr, als man nach außen sieht“). | |
## Zalando in der Kritik | |
Neben China und dem Arbeitsalltag Bärs ist der dritte Hauptthemenstrang in | |
„Neuland“: die Politik des Unternehmens Zalando. Der Film macht deutlich: | |
Zalando ist nicht bloß ein sehr, sehr großer Onlinehändler, sondern | |
kooperiert auch mit 1.300 Offlineläden zusammen, etwa dem Schillerkaufhaus | |
in Weimar, das eine Gebühr dafür zahlt, dass es seine Klamotten über | |
Zalando verschicken kann. | |
In der Kritik steht Zalando, weil es die Software Zonar nutzt, um | |
Mitarbeiter*innen die Leistungen anderer Mitarbeiter*innen bewerten zu | |
lassen. Während der Techkonzern-Kritiker und Buchautor Jamie Bartlett von | |
Firmen spricht, die von „Mitarbeiter-Feedback besessen“ sind, wartet | |
Zalando-Vorstandsmitglied Ruben Ritter mit dem Begriff „Bewertungskultur“ | |
auf. Ritter gäbe sonst kaum Interviews, sagen die Filmemacher*innen, und | |
wenn man hört, was er in „Neuland“ sagt, ist das vielleicht auch gut so. | |
Der Begriff „Kultur“ ist ja schon für die kulturfremdesten Zwecke | |
instrumentalisiert worden, aber im Zusammenhang mit zumindest | |
repressionsähnlichen Maßnahmen klingt das besonders perfide. | |
„Neuland“ ist das dritte Projekt, das der WDR und die Bildundtonfabrik | |
(„Neo Magazin Royale“) unter dem Obertitel „Docupy“ präsentieren. | |
[3][„Ungleichland“, mit dem Grimme-Preis] ausgezeichnet, und | |
[4][„Heimatland“] hießen die beide Vorgängerprojekte. | |
„Neuland“ liegt handwerklich weit über dem Doku-TV-Standard. Der Film ist | |
sehr kunstvoll gebaut, die einzelnen Themenabschnitte bergen Überraschungen | |
und Brüche – ganz anders als bei vielen Dokumentationen, bei denen von | |
Anfang klar ist, was man im Laufe des Films erfahren wird. Bemerkenswert | |
ist auch der geschickt akzentuierte Einsatz der Musik. Die subtilen wie | |
prägnanten elektronischen Sounds stammen von Lorenz Rhode. In einem anderen | |
Leben leitet er das Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld. | |
26 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
René Martens | |
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