# taz.de -- Pro und Contra kostenloser ÖPNV: Sollte der Nahverkehr kostenlos s… | |
> Autos tragen maßgeblich zum Klimawandel bei. Wäre ein kostenloser | |
> Nahverkehr ein gutes Mittel, um Menschen zum Umsteigen zu bewegen? | |
Bild: Auto oder Bahn: Wird die Entscheidung leichter, wenn die Bahn nichts mehr… | |
JA sagt Leonie Theiding | |
Wenn es darum geht, die Umwelt zu retten und damit unser Überleben zu | |
sichern, sollte das keine Autolobby, kein Papierkram und vor allem keine | |
Kostenscheu aufhalten können. Ein Schritt in diese Richtung wäre ein | |
klimafreundlicher Verkehr, was wiederum voraussetzt: attraktivere, | |
kostenlose öffentliche Verkehrsmittel. | |
Jahrzehntelang wurden die Städte autofreundlich gestaltet: Riesige | |
Parkplätze wurden errichtet, Verkehrsschneisen durch die Quartiere | |
geschlagen, Fußgänger und Radfahrer an den Rand gedrängt. Nun ist es an der | |
Zeit, die Städte bus-und bahnfreundlich zu gestalten. | |
Das bedeutet: Die Infrastruktur in den Städten muss so umgemodelt werden, | |
dass der „Öffentlicher Personennahverkehr“ (ÖPNV) Menschen genauso | |
flexibel, gemütlich und zudem verlässlich transportieren kann, wie das | |
Auto. Wären öffentliche Verkehrsmittel zuverlässig, praktisch und | |
zusätzlich umsonst, würden sie bei einer individuellen | |
Kosten-Nutzen-Rechnung am besten abschneiden. | |
Wer jetzt laut aufschreit und fragt, woher das Geld zur Finanzierung eines | |
solchen Projektes stammen solle, der muss sich zuerst fragen, wie viel das | |
Autofahren die Allgemeinheit kostet. 180 Euro kosten die Schäden, die bei | |
jeder Tonne ausgestoßenem Kohlendioxid entstehen. 164 Milliarden Euro | |
Schaden verursachte der Kohlendioxidausstoß alleine 2016 in Deutschland. | |
Das Umweltbundesamt rechnet auch die Kosten ein, die durch gesundheitliche | |
Schäden entstehen: Gehörschäden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck | |
und Herzinfarkte sind mögliche Langzeitfolgen chronischer Lärmbelastung. In | |
der Verkehrsökologie nennt man dies „externe Effekte“ – Kosten einer | |
individuellen Handlung werden auf die Allgemeinheit, andere Räume oder | |
Zeiten abgewälzt. | |
Außerdem wird auch der Autoverkehr intensiv subventioniert: durch | |
Diesel-Förderung, Polizeieinsätze, um beispielsweise Falschparker | |
aufzuspüren, Blitzer-Anlagen, die Erneuerung und den Bau von Straßen. | |
Wenn mehr Menschen auf den öffentlichen Nahverkehr statt auf das Auto | |
zurückgreifen, verringert sich der Ausstoß an Stickstoffdioxid, das wegen | |
des Diesel-Skandals in aller Munde ist und Herz-Kreislauf-Erkrankungen | |
begünstigt. 40 Prozent der in Deutschland emittierten Stickoxide werden | |
laut Umweltbundesamt durch den Verkehr verursacht. | |
Hier schneiden Busse und Bahnen aber wesentlich besser ab als der PKW: Nach | |
Angaben des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) verbraucht eine | |
Fahrt mit Bus und Bahnen nur halb so viel Energie pro Passagier als eine | |
Fahrt mit dem Auto. | |
Und nicht zuletzt: Mit kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln bliebe | |
Mobilität kein Luxusgut. Ergo, würde ein kostenloser öffentlicher | |
Nahverkehr auch zur Verringerung der Spaltung zwischen Arm und Reich | |
beitragen. | |
NEIN sagt Edgar Langwald | |
Die Idee, den Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) kostenlos zu machen, | |
klingt auf den ersten Blick recht verlockend. Dann könnte jeder ihn | |
benutzen, ob arm oder reich. Mehr Leute würden ihr Auto stehen lassen und | |
damit die Umwelt entlasten: Es gäbe weniger Lärm, weniger Stickoxide, einen | |
geringeren Kohlendioxid(CO2)-Ausstoß und weniger Verkehrstote. Und keiner | |
müsste mehr wegen Schwarzfahrens einsitzen. – Jeder würde davon | |
profitieren. | |
Doch dieses Modell ist in Großstädten wie Hamburg Geldverschwendung. | |
Versuche in vielen Städten, in denen diese Idee ausprobiert wurde, haben | |
nämlich gezeigt, dass Autofahrer nicht einfach auf öffentliche | |
Verkehrsmittel umstiegen, nur weil diese kostenlos waren. Die Kriterien | |
Komfort, Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit waren den meisten Autofahrern | |
wichtiger als der Preis. | |
Ein eigenes Auto zu halten, ist ohnehin schon deutlich teurer als eine | |
Monatskarte des Hamburger Verkehrsverbundes (HVV). Und gerade an der | |
Zuverlässigkeit des öffentlichen Nahverkehrs in Hamburg ist noch viel | |
auszusetzen. In anderen Worten: Hamburg hätte immer noch überfüllte | |
Straßen. Ein Ziel für Großstädte sollte aber gerade sein, dass Autofahrer | |
ihren Wagen stehen lassen, und nicht etwa, die Stadt touristisch | |
attraktiver zu machen. | |
## Zu Stoßzeiten überfüllt | |
Die zusätzlichen Fahrgäste, die ein kostenloser Nahverkehr anzöge, wären | |
wohl hauptsächlich Fahrradfahrer und Fußgänger. Das würde den HVV aber noch | |
unattraktiver machen, da Busse und Bahnen zu manchen Zeiten sowieso schon | |
überfüllt sind. | |
Dazu kommt, dass der Begriff, „Kostenloser ÖPNV“ in die Irre führt, denn | |
mit „kostenlos“ hat das nichts zu tun. Die Kosten würde der Steuerzahler | |
übernehmen. In Hamburg werden jährlich 825,5 Millionen Euro durch den | |
Verkauf von Fahrkarten erlöst. Bei 3.458.000 Einwohnern im Verbundgebiet | |
des HVV hätte also Stand 2016 jeder Bürger 238 Euro bezahlen müssen, um die | |
verlorenen Einnahmen zu decken. Das ist unfair gegenüber denjenigen, die | |
den HVV überhaupt nicht nutzen, zum Beispiel, weil sie schlecht an das | |
HVV-Netz angeschlossen sind. | |
Die bisherigen Versuche von Kommunen, einen kostenlosen Nahverkehr | |
einzuführen, haben gezeigt, dass dieser kaum zu finanzieren ist. Teilweise | |
lag das ausgerechnet an zu hohen Unterhaltungskosten durch die starke | |
Nutzung der Busse. Unterm Strich schafft der Vorschlag mehr Probleme als er | |
löst. | |
18 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Leonie Theiding | |
Edgar Langwald | |
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