# taz.de -- Ökonomin über Meinungsmanipulation: „Die Techniken sind atember… | |
> Silja Graupe hat mitgewirkt an der Neuausgabe von Walter Lippmans „Die | |
> öffentliche Meinung“. Warum ist der noch so brisant? | |
Bild: Das Ereignis kennen die allermeisten Menschen nur medial vermittelt: Zeit… | |
taz: Frau Graupe, wer war Walter Lipmann – und warum lohnt es sich, sein | |
[1][beinahe 100 Jahre altes Buch „Die öffentliche Meinung“] zu lesen? | |
Silja Graupe: Walter Ötsch, mein Kollege und Mitherausgeber, und ich sehen | |
Walter Lippmann als einen der ersten Autoren, der die Frage der unbewussten | |
Beeinflussung durch Bilder und ihre Bedeutung für Politik und Wirtschaft | |
deutlich gemacht hat. Er selbst war Praktiker, nämlich Journalist und | |
politischer Berater, und hat bedeutende politische Entscheidungen im | |
Amerika des frühen 20. Jahrhunderts mitgestaltet – gerade auch mittels der | |
Kraft von Bildern. | |
Sie verorten ihn am Anfang einer bis heute relevanten Idee: Statt an der | |
Wirklichkeit arbeiten sich die Menschen an Bildern davon ab; er schreibt | |
von „Fiktionen“, deren Zustandekommen sie nicht selbst kontrollieren. | |
Genau. Ich würde in noch mit Edward Bernays in Beziehung setzen … | |
… Neffe Sigmund Freuds und Urenkel des Hamburger Rabbiners Isaak Bernays, | |
aber vor allem: Pionier der Anwendung von Erkenntnissen aus Psychologie und | |
Sozialwissenschaften für PR-Zwecke. | |
[2][Bernays entwickelte ein neues Verständnis von „Demokratie“:] Die Masse | |
der Menschen sei schlicht überfordert sich durch Überlegungen ein | |
reflektiertes Bild von politischen Entscheidungen zu machen. Deswegen solle | |
man sie zwar nicht vom Wählen abhalten. Eliten aber sollten ihnen | |
(Schein-)Bilder von der Realität vermitteln, so dass Menschen sich | |
vermeintlich frei in ihren Entscheidungen fühlten, unbewusst aber gar nicht | |
anders könnten, als das zu tun, was diese Eliten als richtig erachten. | |
Bernays sprach von einer „unsichtbaren Regierung“. Diese wirkt gleichsam | |
durch die Köpfe der Menschen hindurch. Lippmann hielt für diese Form der | |
Regierung den Journalismus besonders wichtig. | |
Inwiefern? | |
Die Frage der Beeinflussung der Bilder ist nicht verständlich ohne die | |
Frage der Zunahme moderner Kommunikationsmittel; damals vor allem Zeitung, | |
aber zunehmend auch Ton und Film. | |
Wie, genau, fasst Lippmann diese Fragen? | |
Er geht davon aus, dass unsere Entscheidungen auf „Pseudo-Umwelten“ | |
basieren, im Original „pseudo environments“: Diese treten zwischen uns | |
Menschen und die reale Welt der Erfahrungen. Wir blicken etwa in die | |
Zeitung und regen uns auf über Ereignisse, die wir niemals miterlebt haben. | |
Wir kennen nur das, was uns Journalisten davon vermitteln. Gleichwohl aber | |
treffen wir Entscheidungen auf der Grundlage dieser Informationen; in | |
unserer modernen Welt müssen wir dies tun. Und diese Entscheidungen | |
zeitigen dann reale Effekte. Sie wirken auf die Welt, in der wir | |
tatsächlich leben. Das war auch früher schon so, ist aber durch die Medien | |
– und zumal die „sozialen“ Medien – extrem verstärkt worden. | |
Ist diese Verstärkung nur quantitativ, indem uns Medien also mehr | |
potentiell Erregung bewirkende Themen nahe bringen? | |
Medien- und auch Werbungseinflüsse haben sich natürlich schon zahlenmäßig | |
extrem vergrößert, ebenso die gesellschaftliche Aufgeregtheit anhand von | |
medialen Ereignissen. Bereits Lippmann spricht davon, dass durch | |
Beeinflussungstechniken ein „Gefühlshaushalt“ angesprochen werden kann, | |
also der Mensch in seinen basalen Instinkten berührt wird – ohne dass er | |
das merkt. Und in dieser Hinsicht sind heute ja die Techniken | |
atemberaubend: einerseits aus wirtschaftlichen Gründen – man denke an die | |
Werbung –, aber auch aus politischen Gründen. Und wie da gearbeitet wird, | |
[3][die Möglichkeiten], wie Textoberflächen und mediale Welten gestaltet | |
werden, um bestimmte Effekte zu erzielen, und das unterhalb der Schwelle | |
des Bewusstseins der Nutzerinnen und Nutzer: Das hat sich seit Lippmann | |
nicht nur zahlenmäßig vervielfacht. Das Wissen um mögliche Mittel und | |
Formen der unbewussten Beeinflussung hat sich auch qualitativ vertieft. Was | |
aber nicht zugenommen hat, ist die Bildung über diese Zusammenhänge, also | |
in Schule, Universität und öffentlicher Debatte. | |
Der Untertitel von „Die öffentlicher Meinung“ lautet: „Wie sie entsteht … | |
manipuliert wird“. Und hinten auf Ihrer neuen Ausgabe ist, in | |
Aufkleber-Optik, zu finden: „Der Klassiker zur Meinungs-Manipulation!“ Das | |
lässt sich als Diagnose lesen, als Klage – oder aber als Anleitung für | |
Manipulierende. | |
Er ist merkwürdig in der Mitte: Der Text hat keinen manipulativen Gehalt, | |
anders etwa Werke von [4][Milton Friedman] oder [5][Friedrich Hayek] … | |
… den Säulenheiligen des [6][(Neo-)Liberalismus] also … | |
… dazu hat Lippmann viel zu unsortiert geschrieben; dazu präsentiert und | |
reflektiert er viel zu viele unterschiedliche Meinungen und Perspektiven. | |
Aber er ist fasziniert von den Möglichkeiten, die er beschreibt. Es ist | |
eine Analyse, aber an vielen Stellen keine Kritik. Er beschreibt es schon | |
so, dass sich daraus auch lernen lässt – auch im Sinne eines Missbrauchs. | |
Als wir mit der neuen Herausgabe anfingen, kannten wir Lippmans Werk auch | |
eher nur in Auszügen, und sahen ihn eher auf der Seite der | |
Meinungsmanipulierer. Aber der Fall ist nicht so eindeutig wie etwa bei | |
Bernays. Bei Lippmann gibt es dafür zu viele kritische Anteile: Er sagt | |
etwa, dass die Bildung über Manipulation aufklären müsse. Er spricht sich | |
auch aus für eine Verstaatlichung von Informationsdiensten, die die | |
Produktion der neuen Bilder zum Wohle aller lenken sollten. Aber er bleibt | |
dennoch einer der Großen, die auch manipuliert haben. Mit einem | |
Unterschied: Er reflektiert kritisch, was er tut, auch moralisch. Und genau | |
dies fehlt in der heutige PR zu oft, meine ich. | |
Wer die erwähnten„Fiktionen“ beeinflusst, der kontrolliert für Lippmann | |
„Die öffentliche Meinung“. Woraus er aber nicht schließt, dass es den | |
Menschen zu befreien gilt. | |
Stereotype, Fiktionen, „pseudo environments“, Framing: Das alles ist alles | |
nicht synonym, aber für den Moment würde ich es auch nicht allzu strikt | |
unterscheiden wollen. Lippmann spricht von einer Dreiecksbeziehung: Unsere | |
Wahrnehmung ist auf diese Fiktionen gerichtet, es entstehen daraus aber | |
Handlungen, die sich in der realen Welt äußern. Als Beispiel nennt er eine | |
Werbung für eine karitative Einrichtung: Sie zeigt ein verhungerndes Kind | |
und spricht damit direkt das teifsitzende Gefühl von Mitleid in einem | |
Menschen ein. Dieser weiß nicht, warum das Kind hungert, was genau dessen | |
Lebenslage ist. Auch über die Art, wie und ob ihm tatsächlich geholfen | |
wird, weiß er nichts. Real ist nur sein Gefühl. Und sein Wunsch, dieses | |
loszuwerden, führt zu einer Spende, von der er auch nicht weiß, was sie | |
wirklich bewirkt. | |
Und in der Politik? | |
Wenn sich Stereotype verfestigen, wie es [7][heute bei besonders gut bei | |
den Rechten zu beobachten] ist, dann schlägt kann keine Handlungsrealität | |
nmehr die Wahrnehmung relativeren. Wenn jemand etwa in ausländerfeindlichen | |
Stereotypen gefangen ist, dann sitzt die Angst so tief, dass sie alle | |
wirkliche Begegnung verhindert, und die Stereotype können durch mediale | |
Bilder immer weiter verfestigt werden. Alternative Wahrnehmungen dringen | |
nicht mehr durch. Natürlich ist richtig, dass wir nicht bei jeder Begegnung | |
komplett auf vorgefertigte Wahrnehmungsbilder verzichten könnten. Schon | |
Lippmann meinte, dass unsere Umwelt zu komplex sei, um immer alles zu | |
durchdenken. Doch bei Manipulation geht es nicht um Bilder, die aus der | |
Erfahrung des Einzelnen oder einer ganzen Gesellschaft stammen. Es sind | |
Bilder, die andere Menschen bewusst und gezielt anfertigen, um ihre | |
Interessen durchzusetzen. | |
Wie kommen die zustande? | |
Kommen wir auf das Beispiel des verhungernden Kindes zurück. Das Ziel steht | |
hier vorab fest: Es soll der Spendenfluss gesteigert werden. Dann gibt man | |
keine Informationen etwa über den Zustand in einem Krisengebiet, sondern | |
man appelliert direkt eben an das basale Gefühl von Mitleid und nutzt so | |
den eher unbewussten Fürsorgeinstinkt bewusst für die eigenen Zwecke aus. | |
In der Politik schürt man für die eigenen Zwecke beispielweise Gefühle von | |
Angst und Unsicherheit, die bekanntermaßen das reflektierte Denken eher | |
aussetzen lassen. | |
Lippmann formuliert, als Gegenmittel geradezu, die Idee einer „gelenkten | |
Demokratie“. | |
Es ist sicher nicht unser Verständnis von Demokratie, sondern eines im | |
Sinne, wie ich es bei Bernays geschildert habe. Die wahren Herrscher sollen | |
unsichtbare Eliten sein – mit der Folge, dass auch die bekannten Politiker | |
zu den Manipulierten gehören sollen. Lippmann hoffte zumindest an einigen | |
Stellen, dass diese unsichtbare Elite aus selbstlos Handelnden bestehen | |
könnten. Um es mal ganz ehrlich zu sagen: Viel Hoffnung bestand bereits zu | |
seiner Zeit diesbezüglich nicht. Und heute wird es kaum besser sein. | |
6 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Alexander Diehl | |
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