# taz.de -- Buch „Die öffentliche Meinung“: Demokratie echt schwer möglich | |
> Walter Lippmanns „Public Opinion“ wird nach 100 Jahren ins Deutsche | |
> übersetzt. Seine Gedanken zu Medien und Demokratie gelten noch immer. | |
Bild: Ist diese Zeitung von Interessen gesteuert? | |
Es ist unbegreiflich, dass Walter Lippmanns 1922 publiziertes Buch „Public | |
Opinion“ erst jetzt auf Deutsch zugänglich wird. Anzuzeigen ist ein Werk, | |
das zwar vor bald einhundert Jahren erschienen ist, aber in der Zeit von | |
„Fake News“ und der eigentümlich verzerrten Öffentlichkeit in sozialen | |
Medien aktueller nicht sein könnte. | |
Ist das, was unter „Demokratie“ in einem unverkürzten Sinn verstanden | |
werden könnte, unter den [1][Umständen einer von Interessen gesteuerten | |
Massenkommunikation] überhaupt noch möglich?, fragte Lippmann. Diese Frage | |
bewegte im Zeitalter aufkommender Massenmedien und allgegenwärtiger | |
Radiokommunikation die USA schon in den 1920er Jahren. Damals wurde | |
gefragt, ob die Ideale der „Town-Hall-Demokratie“ in eine arbeitsteilig | |
entfremdete Massengesellschaft überführt werden können. | |
In Deutschland wurden derlei Fragen erstmals 1961 durch Jürgen Habermas’ | |
„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ gestellt. Indes: weder in der ersten | |
Auflage von 1961 noch in der zweiten Auflage von 1990 des „Strukturwandels“ | |
findet sich ein Verweis auf Lippmanns bahnbrechendes Buch. | |
Lippmann war fest davon überzeugt, [2][dass öffentliche Meinung vor allem | |
immer veröffentlichte Meinung] ist, geprägt durch Vorurteile und | |
Stereotype. Er meinte zudem, dass die einzelnen Bürger*innen nicht einmal | |
bei guter Bildung in der Lage seien, sich ein wirklich adäquates Bild von | |
jener Lage zu machen, zu der sie Entscheidungen zu treffen hatten. | |
## Platons Lichtbringer als Expertengremien | |
Daher diagnostizierte Lippmann das notwendige Versagen aller Formen | |
radikaler Demokratie, die ja unterstellen muss, dass alle | |
entscheidungsberechtigten Bürger*innen über zureichendes Wissen verfügen. | |
Denn: „Wir werden behaupten“, so Lippmann, „dass alles, was der Mensch tu… | |
nicht auf unmittelbarem und sicherem Wissen beruht, sondern auf Bildern, | |
die er sich selbst geschaffen oder die man ihm gegeben hat.“ Lippmann hat | |
seinem Buch ein längeres Zitat aus Platons „Staat“ vorangestellt – das | |
Höhlengleichnis, wonach die in Dunkelheit Gefangenen eines Lichtbringers | |
bedürfen, der sie am Ende aus der Höhle des Nichtwissens herausführt. | |
Bei Lippmann sind diese Lichtbringer Expertengremien. Könne doch eine | |
repräsentative Demokratie nicht funktionieren, „wenn es nicht eine | |
unabhängige, sachkundige Organisation gibt, welche die ungesehenen | |
Tatsachen für diejenigen verständlich macht, die die Entscheidung zu | |
treffen haben“. | |
Lippmann selbst zog aus alledem die Konsequenz, für eine realistische | |
Theorie der Demokratie zu optieren, die die Herrschaft von Eliten und | |
Expert*innen akzeptiert. Sei doch dem demokratischen Dilemma nicht einmal | |
durch bessere und breitere Bildung zu entgehen: Könne doch das | |
Bildungssystem auch nichts anderes vermitteln als wiederum | |
vorurteilsbehaftete Annahmen über die Welt. | |
## Die Lösung: ein Wissensministerium | |
Komme es aber bei öffentlicher Meinungsbildung nicht auf Kenntnis | |
vermeintlicher Fakten, sondern auf Charakterbildung an, so gelte | |
gleichwohl, dass in einer falsch verstandenen Welt auch die menschlichen | |
Charaktere falsch und unpassend seien. | |
Als Lösung stellte er sich daher ein Wissensministerium vor, eine | |
Nationaluniversität, deren Wissen und Kompetenz in nachgeordnete politische | |
Gremien ausstrahlen sollen. Bei alledem ging Lippmann nicht so weit, diesen | |
Expertengremien legislative oder gar exekutive Macht zuzuschreiben; als | |
Anhänger von Darwins Evolutionstheorie war er davon überzeugt, dass solche | |
Gremien Lernprozesse in Gang setzen, um „die zentrale Schwierigkeit der | |
Selbstregierung, die Schwierigkeit mit einer nichtbeobachteten Wirklichkeit | |
zu überwinden“. | |
Gleichwohl muss unverständlich bleiben, woher Lippmanns Vertrauen in die | |
Unfehlbarkeit der Experten kommt; ebenso ungeklärt bleibt das Problem, dass | |
unterschiedliche Menschen die Ergebnisse von Experten wiederum aus der | |
Perspektive der eigenen Vorurteilshaftigkeit zur Kenntnis nehmen – wie sich | |
derzeit an der Debatte um die Ursachen des Klimawandels zeigt. | |
Denn: Zu Experten gibt es jederzeit Gegenexperten, darüber hinaus gehört | |
es zum Wesen der Demokratie, dass auch ihre Folgen und ihre Bedeutsamkeit | |
unterschiedlich bewertet werden. Nichts anderes ist das Wesen | |
demokratischer Öffentlichkeit. | |
8 Aug 2018 | |
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## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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