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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Nationalisten? Verfassungspatrioten!
> Sind Militärrabiner in der Bundeswehr ein Rückschritt? Nein, was der
> Zentralrat der Juden in Deutschland fordert, ist im Sinne des
> Grundgesetzes.
Bild: Überlebende des früheren KZ Auschwitz-Birkenau am 74. Jahrestag der Bef…
Manche mögen es befremdlich finden, dass ausgerechnet der Zentralrat der
Juden in Deutschland derzeit vehement fordert, in der Bundeswehr mit ihren
gerade einmal dreihundert jüdischen Soldaten Militärrabbiner einzustellen.
Also auch hier neuer Nationalismus? Im Gegenteil! Geht es doch gerade
darum, Verfassungspatriotismus zu fördern.
Wie heißt es doch im ersten Artikel des Grundgesetzes: „Die Würde des
Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung
aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu
unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Hier ist von der Würde des Menschen, und das heißt aller Menschen, die Rede
– und eben nicht: der Würde des Deutschen.
Tatsächlich ist es nicht zuletzt eine jüdische Erfahrung, die sich darin
niederschlägt. So wird in des italienisch-jüdischen Chemikers Primo Levi
kristallklarem Bericht über seine Lagerhaft in Auschwitz den Erfahrungen
absoluter Entwürdigung Rechnung getragen: „Mensch ist“, so notiert Levi f�…
den 26. Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers „wer tötet, wer
Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung
verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf
gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein
Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild
des denkenden Menschen weiter entfernt als … der grausamste Sadist.“
## Natürliche Neigung zur Nächstenliebe schwindet
Unter diesen Bedingungen schwindet sogar die natürliche Neigung zur
Nächstenliebe. Levi fährt fort: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen
der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches,
der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding
gewesen ist.“
Es waren jüdische Remigranten, die die Bundesrepublik und ihren Geist mit
gegründet haben: So Theodor W. Adorno, der den Zielen einer Erziehung und
Bildung im Hinblick auf den Nationalsozialismus bis heute ihre bisher
unübertroffene Artikulation gegeben hat. Ziel aller Pädagogik, so Adorno,
müsse es sein, dass Auschwitz sich nicht wiederhole und: Schon allein die
Forderung nach einer Begründung dieses Postulats prolongiere das Unheil,
dem es zu entgegnen gelte.
Der auch aus dem Schock über Auschwitz formulierte erste Artikel des
Grundgesetzes hat bedeutende historische Wurzeln. War es doch die
kosmopolitische Philosophie der deutschen Aufklärung, die die nach dem
Nationalsozialismus geschaffene deutsche Verfassung wesentlich geprägt hat:
Forderte doch schon Immanuel Kant, dass der Mensch dem Menschen jederzeit
auch Zweck sein müsse und niemals nur Mittel.
## Menschenfeindliche Traditionen deutscher Kultur
Indes war es neben Adorno ein anderer deutscher Jude, der hessische
Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der den von ihm initiierten Frankfurter
Auschwitz-Prozess unter die Devise „Gerichtstag halten über uns selbst“
stellte und mit ihm die freiheits- und menschenfeindlichen Traditionen
deutscher Kultur überwinden wollte. Dabei war es keineswegs
selbstverständlich, dass sich ein erst im KZ inhaftierter, dann in die
Emigration vertriebener deutscher Jude knapp zwanzig Jahre nach dem Ende
des Mordens zum politischen Kollektiv der Deutschen – eben zu „uns“ –
bekannte.
Doch war er nicht der einzige jüdische Verfassungspatriot. Patriotisch
handelten in diesem Sinne auch die Dichterin Hilde Domin und der
Theatermann Fritz Kortner sowie die Politiker Herbert Weichmann, Jeannette
Wolff und Josef Neuberger; Jüdinnen und Juden allesamt, die sich nicht von
Hitler vorschreiben lassen wollten, ob sie Deutsche sind oder nicht. Sie
alle haben, mehr oder minder ausdrücklich, für den Aufbau einer
demokratischen Kultur und Gesellschaft in Deutschland Unschätzbares
geleistet.
Ignatz Bubis aber, auch er ein deutscher Patriot, der seinen Patriotismus
verschämt hinter dem Bekenntnis zur Heimatstadt Frankfurt am Main
versteckte, wurde von dem schicksalsdumpfen Nationalisten Martin Walser
und dessen Claque derart gekränkt, dass er in Bitterkeit starb und sich im
Land Israel beerdigen ließ.
Bubis meinte bekanntlich, dass er als Jude des Holocaustdenkmals in Berlin
nicht bedürfe. Daran ist so viel richtig, dass Juden und ihre Nachkommen
zum Trauern um ihre Verwandten und Freunde auf dies Denkmal nicht
angewiesen sind. Als Bürger jenes Staates aber, dem es in seinem
Grundgesetz um die Würde des Menschen geht, können auch deutsche Juden
heute sagen: Das ist unser Mahnmal. Nicht anders als im Fall der dem
Grundgesetz unterstellten Bundeswehr. Daher gilt – ganz im Sinne von
Bertolt Brechts „Kinderhymne“ aus dem Jahr 1953 – auch für die Forderung
nach Militärrabbinern: „Und weil wir dies Land verbessern, / lieben und
beschirmen wir’s. / Und das liebste mag’s uns scheinen/ so wie andern
Völkern ihrs.“
5 Mar 2019
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Verfassungspatriotismus
Militär
Holocaust
Bundeswehr
Antisemitismus
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Grundgesetz
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Naher Osten
Holocaust
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