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# taz.de -- Debatte Staatsintervention: Kurz vor dem Umdenken
> Ende der 70er wurden drei Ideologien dominant: Neoliberalismus,
> Antikommunismus und der politische Islam. Die ersten beiden zeigen sich
> nun deutlich angeschlagen.
Bild: Das Ereignis kennen die allermeisten Menschen nur medial vermittelt: Zeit…
Wer die Gegenwart verstehen möchte, der sollte sich auf die ideologischen
Entwicklungen konzentrieren, die ihren Anfang Ende der 70er-Jahre nahmen.
Genau wie 1968-69 ließe sich auch von 1978-79 als einer Zeitenwende reden,
und zwar in dreifacher Hinsicht: die Durchsetzung des Monetarismus und
einer neuen ökonomischen Deregulierungsstrategie noch vor Reagan und
Thatcher; das Scheitern des Eurokommunismus und der Triumph des
antitotalitären Denkens, vorangetrieben von den "Neuen Philosophen" wie
André Glucksmann und Bernard-Henri Lévy, die eine vor allem moralische
Beurteilung von Politik forderten. Und schließlich die unerwartete
islamistische Revolution im Iran. Zwei dieser epochalen Trends - verkürzt
gesagt: Monetarismus und Moralismus - kommen dieser Tage wohl an ihr Ende.
Der dritte, die vor einigen Jahren bereits für gescheitert erklärte
islamistische Revolution, scheint hingegen neue ideologische Schubkraft zu
gewinnen.
Man hat im Zusammenhang mit 1968 von einer "Fundamentalliberalisierung" der
bundesrepublikanischen politischen Kultur gesprochen. Entsprechend ist man
versucht, 1978 als eine "Fundamentalneoliberalisierung" des ökonomischen
Denkens im Westen zu bezeichnen. Die geistigen Ursprünge des
Neoliberalismus reichen bekanntlich sehr viel weiter zurück als die späten
Siebzigerjahre. Bereits 1938 hatten sich europäische und amerikanische
Denker auf dem berühmten "Colloque Walter Lippmann" in Paris entschlossen,
eine neue Form von Liberalismus gegen die Totalitarismen des zwanzigsten
Jahrhunderts zu formulieren und sich gleichzeitig vom alten "Laissez-Faire"
abzugrenzen. Nicht jeder, der an diesem Treffen teilnahm, war jedoch ein
Verfechter von Deregulierung. Der Soziologe Raymond Aron beispielsweise war
viel eher Sozialdemokrat und die deutschen Ordoliberalen forderten Markt
innerhalb eines starken staatlichen Rahmens. Später verwahrten sie sich
dagegen, in einem Atemzug mit "Paläoliberalen" wie Friedrich von Hayek
genannt zu werden. Hayek war es jedoch, der mit seiner 1947 gegründeten
Mont-Pèlerin-Gesellschaft systematisch Werbung für die Tugenden des freien
Marktes betrieb. 1974 erhielt der Mann, der im Zeitalter des Keynesianismus
und des steten Ausbaus des Sozialstaats noch als unbelehrbarer Außenseiter
galt, bereits den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Den allerdings
musste er sich der ideologischen Balance halber mit dem schwedischen
Sozialdemokraten Gunnar Myrdal teilen.
Hayek gewann immer mehr Anhänger unter den britischen Konservativen,
während sein Kollege Milton Friedman in den USA reihenweise Republikaner
von seinen Ideen überzeugen konnte. Was allerdings im Rückblick gern
übersehen wird: Es waren nicht Thatcher oder Reagan, die den Keynesianismus
verabschiedeten, sondern nominell linke Politiker: Unter massivem Druck des
IWF leitete der Labour-Premier James Callaghan in Großbritannien eine
Politik der austerity ein; in den USA ernannte Jimmy Carter den Ökonomen
Paul Volcker zum Chef der Federal Reserve; dieser schwenkte sofort auf eine
restriktive Geldpolitik um. Reagan und Thatcher setzten diese Politik sehr
verschärft fort, sie erfanden sie nicht.
Eine Partei, die erstaunlicherweise ebenfalls austerità unterstützte, waren
die italienischen Kommunisten. In den Siebzigerjahren hatten sie sich
deutlich von Moskau distanziert und einen "Historischen Kompromiss" mit den
allzeit regierenden Christdemokraten beschlossen. Diese Maßnahme wurde mit
einer historischen Ausnahmesituation gerechtfertigt: die Misere des
italienischen Staates, vor allem aber die sich rapide verschlechternde
wirtschaftliche Lage. Die Kommunisten trugen die restriktive
Wirtschaftspolitik der "DC" mit. Ihnen stand nicht zuletzt das tragische
Ende Salvador Allendes vor Augen, folglich wollten sie Verantwortung nur im
Einklang mit konservativeren Kräften übernehmen. Dafür zahlten sie einen
hohen Preis: Der Eurokommunismus, der in Italien, Frankreich und Spanien
Hoffnung auf eine wirklich sozialistische Alternative zu Keynesianismus und
Neoliberalismus geweckt hatte, scheiterte schließlich in ganz Westeuropa.
Intellektuell-moralischem Flakfeuer hatten die Eurokommunisten sich vor
allem seitens der französischen "Neuen Philosophen" ausgesetzt gesehen. Die
gängige große geistesgeschichtliche Erzählung über den "Schock
Solschenizyn" in Frankreich übersieht, dass die Enthüllungen über den Gulag
nichts völlig Neues waren. Neu war hingegen die Möglichkeit, dass bei den
Wahlen 1978 eine sozialistisch-kommunistische Regierung an die Macht
gelangen konnte. Die Linke verlor die Wahlen 78. Was blieb, war ein
antitotalitäres Denken, das sich als individualistisch und moralistisch
verstand: Der ehemalige Maoist Glucksmann verwarf alles, was in irgendeiner
Weise mit Hegel und vermeintlichem Kollektivismus zu tun hatte; sein
Kollege Lévy bekräftigte den Verdacht, jeder Versuch von Gesellschaften,
sich als ganze selbst zu verändern, müsse mit Konzentrationslagern enden.
Doch auch noch eine andere Entwicklung nahm 1978-79 ihren Ausgang. Und sie
scheint noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Damals unterzog sich der
Westen nicht nur der Schocktherapie der Ökonomen. Ein Schock ganz anderer
Art kam von außen, als der Iran eine islamistische Revolution erlebte, die
allen Modernisierungs- und Säkularisierungstheorien Hohn sprach. Einen
marxistisch inspirierten Umsturz - das kannte man. Aber eine Art
Theokratie? Und eine erfolgreiche kollektive Selbsttransformation einer
Gesellschaft im Namen von Religion? Kurz darauf marschierten die Sowjets in
Afghanistan ein; fast zehn Jahre später mussten sie vor den Mudschaheddin
kapitulieren. Viele westliche Beobachter hatten ein baldiges
Zusammenbrechen des iranischen Mullah-Regimes oder zumindest seine
Liberalisierung vorausgesagt, doch nichts dergleichen passierte. Dann
diagnostizierte man das Scheitern des "politischen Islam", der nach dem
Iran offenbar keine weiteren Staaten erobern konnte.
Heute scheint auch diese Diagnose verfrüht. 2001 hätte sich niemand träumen
lassen, dass die Taliban sieben Jahre später wieder einen Kampf um die
Herrschaft in Afghanistan führen und die Nato spürbar unter Druck setzen
würden. Pakistan bleibt instabil und könnte Schauplatz einer islamistischen
Revolution werden. Präsident Ahmadinedschad hält antisemitische Reden vor
den Vereinten Nationen, und viele Delegierte applaudieren. Somit
relativiert sich auch die Zäsur von 1989.
Nun kommt diese Epoche offenbar an ihr Ende. Der Ökonom Paul Volcker ist
inzwischen Berater von Barack Obama; Mitte September hat er sich in einem
viel beachteten Meinungsbeitrag im Wall Street Journal für eine neue
staatliche Behörde zur Lösung der Finanzkrise ausgesprochen. Mehr Staat im
Innern - dies passiert dieser Tage auf höchst improvisierte Weise. Doch
lange kann es nicht dauern, bis der neue Interventionismus wieder Gedanken
weckt, Gesellschaften als ganze ließen sich eben doch kollektiv
transformieren. Die meisten Bürger haben längst die Gründe vergessen, warum
sie den einst so erfolgreichen Wohlfahrtsstaat für immer vergessen sollten.
Aber mehr Staat könnte auch nach außen gefordert werden - in einer sich
immer weiter verschärfenden Auseinandersetzung mit dem Islamismus, ob unter
Obama oder McCain.
31 Oct 2008
## AUTOREN
Jan-Werner Müller
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