# taz.de -- Hate Speech der Masse: Kopf ab, Rübe runter | |
> Wie wird aus Wohlstandsbürgern ein Mob von Internet-Trollen? Der | |
> französische Soziologe Gustave Le Bon hat das schon vor 120 Jahren | |
> analysiert. | |
Bild: Das analoge Pendant zu Hate Speech im Internet | |
Nicht erst „seit Köln“ herrscht in den sozialen Medien in Deutschland ein | |
bedenklicher Ton. Bei Facebook oder Twitter, in den Kommentarspalten der | |
Websites von tagesschau.de bis Zeit Online ist es nichts Ungewöhnliches | |
mehr, dass Menschen, weil sie anderer Meinung sind, beleidigt, der Lüge | |
bezichtigt oder bedroht werden. Und je brausender der Furor, desto größer | |
die Schwierigkeiten mit der deutschen Rechtschreibung. | |
Lange habe ich mir deshalb den deutschen Internet-Troll so vorgestellt, wie | |
er einst in einer denkwürdigen Reportage der FAS dargestellt wurde: als | |
invaliden Frührentner, der in Jogging-Hosen in einer nikotingeschwängerten | |
Einzimmerwohnung auf der Schlafcouch am Laptop sitzt. Und sich die Zeit | |
damit vertreibt, im Internet über Lügenpresse, Gutmenschen und | |
Wirtschaftsflüchtlinge abzukotzen. Aber wenn man sich die Facebook-Profile | |
der übelsten Online-Motzer ansieht, stellt man mit Entsetzen fest: Die | |
meisten von ihnen scheinen stinknormale Leute zu sein, die neben einem im | |
Bus sitzen oder im Treppenhaus grüßend an einem vorbeigehen könnten. | |
Wenn sie sich online nicht gerade über „Sozialschmarotzer“, „Rapefugees�… | |
oder „Verschwulung“ ereifern, posten sie bei Facebook Bilder vom neuen | |
Rennrad oder vom Urlaub in Gran Canaria. Wie kann es sein, dass | |
BRD-Normalos sich im Internet zu einer Art Online-Lynchmob | |
zusammenschließen? Und hier ein unverschämtes Benehmen an den Tag legt, das | |
sich wohl keiner der Beteiligten alleine oder in der wirklichen Welt | |
erlauben würde? | |
Eine ähnliche Frage hat vor 120 Jahren der französische Soziologe Gustave | |
Le Bon in seinem Buch „Die Psychologie der Massen“ zu beantworten versucht: | |
Wie kommt es, dass Einzelne in der Masse plötzlich Dinge tun (Lynchen, | |
Plündern, „Kopf ab! Rübe runter“-Schreien), die ihnen allein nie in den | |
Sinn kämen? | |
## Die Masse als Mob | |
Die Masse war zu dieser Zeit ein neues soziales Phänomen, das untrennbar | |
mit der Moderne und der industriellen Revolution verknüpft war. Menschen, | |
die nach dem Ende des Feudalismus auf der Suche nach Fabrikarbeit ihre | |
dörfliche Heimat und damit auch deren verbindlichen Normen und Regeln | |
hinter sich gelassen hatten. In den sich entwickelnden Großstädten fanden | |
sie eine moralische Tabula rasa vor, in der es keine gewachsene | |
Gemeinschaft gab, die auf die Einhaltung von gesellschaftlichen Grundregeln | |
achtete. | |
Hier konnte sich eine neue Massenkultur entwickeln, die nicht nur Le Bon | |
zum Nachdenken brachte. Bücher wie „Der Aufstand der Massen“ (1929) von | |
José Ortega y Gasset und „Masse und Macht“ (1960) von Literaturpreisträger | |
Elias Canetti hielten die Massenpsychologie bis in die Nachkriegszeit in | |
der Diskussion und lieferten die Grundlage für eine fortgesetzte elitäre | |
Massenverachtung des Bürgertums auch in Deutschland. | |
Die Masse, die Le Bon entdeckt hatte, war im Grunde ein Mob, gesteuert vom | |
Unterbewussten, das vernünftiges Handel unmöglich machte, triebhaft, | |
leichtgläubig, grausam, ungeduldig. Wer Teil einer Masse wird, entwickelt | |
sich gleichsam eine Evolutionsstufe zurück. In der Masse gibt man seinen | |
gesunden Menschenverstand und die Fähigkeit zur Kritik auf, die | |
Persönlichkeit wird durch „Rückenmarkdenken“ ersetzt. | |
Die Masse, die Le Bon 1895 beschreibt und die ich „Masse 1.0“ nennen | |
möchte, hat bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit den Online-Krakelern der | |
Gegenwart: Die „Massen kennen weder Zweifel noch Ungewissheit und ergehen | |
sich stets in Übertreibungen. Ihre Gefühle sind stets überschwänglich“, | |
schreibt Le Bon. Auch die Internet-Wutbürger sind schnell und ohne lästiges | |
Nachdenken davon zu überzeugen, dass „südländisch aussehende“ Täter sic… | |
der 13-jährigen Lisa aus Marzahn vergangen haben. Davon, dass die | |
Vergewaltiger aus Gründen der Political Correctness von der Polizei gedeckt | |
werden. Oder dass Angela Merkel persönlich die politische Linie der | |
deutschen „Systemmedien“ von der „Tagesschau“ bis zur Bild vorgibt. | |
## Die Stänkerindustrie | |
Der Facebook-Algorithmus, der darauf programmiert ist, Vertreter solcher | |
Ansichten in einer wohligen „Filterblase“ mit Gleichgesinnten | |
einzuschließen, erweckt bald den Eindruck, dass die ganze Welt so denkt. | |
Und schnell werden derartige Einsichten im Online-Rudel in | |
rotzunverschämtem Ton herausposaunt. | |
Eine Stänkerindustrie aus Pegida, AfD, Compact etc. dient dabei als | |
Stichwortgeber für eine überschaubare Zahl von Phrasen („Gutmensch“, | |
„Lügenpresse“ etc). Deren unermüdliche Wiederholung ist die Basis des | |
Weltbilds der Internet-Schreihälse. Jede Behauptung, schreibt schon Le Bon, | |
„hat nur dann wirklichen Einfluss, wenn sie ständig wiederholt wird, und | |
zwar möglichst mit denselben Ausdrücken“. | |
Le Bon war kein Demokrat. Seine Abneigung gegen die Massen speiste sich aus | |
seiner Wahrnehmung der Februarrevolution 1848 und der Pariser Kommune, | |
historische Ereignisse, die man durchaus als fortschrittlich hätte | |
interpretieren können. Doch Le Bon war ein Bildungsbürger, der auf das neu | |
entstandene Proletariat – letztlich nur ein anderes Wort für Masse – | |
verächtlich herabblickte. | |
Trotzdem kann man seinen Einfluss nicht überschätzen: Seine | |
Massenpsychologie beeinflusste Sigmund Freud und Max Weber. Die Nazis | |
studierten seine Vorschläge zur Massenmanipulation gewissenhaft, ebenso | |
Edward Bernays, der in den USA als Erfinder der Public Relations bekannt | |
wurde und von dem mehrere Generationen von Werbern, Propagandisten und Spin | |
Doctors ihr Handwerk lernten. | |
## Das Scheitern der „Schwarmintelligenz“ | |
Erst in der jüngeren Vergangenheit hat der Begriff der Masse seine negative | |
Konnotation für viele Intellektuelle verloren. Nicht nur hatten die | |
Loveparades oder die „Reclaim the Streets“-Demos der 1990er Jahre bewiesen, | |
dass unorganisierte Massenveranstaltungen keineswegs automatisch in einem | |
kollektiven Blutrausch enden müssen. Doch vor allem das Internet trug dazu | |
bei, dass eine gesichts- und führerlose Masse plötzlich geradezu als eine | |
soziopolitische Ressource erscheinen konnte, die dank ihrer „kollektiven | |
Intelligenz“ (Pierre Levy) unaufgefordert und selbst gelenkt Betriebssystem | |
programmierte und Online-Lexika vollschrieb. | |
Diese Masse 2.0 war ein „Smart Mob“ (Howard Rheingold), der von | |
„Schwarmintelligenz“ statt von einem dunklen Unterbewusstsein gelenkt wurde | |
und schuf statt zerstörte. Autoren wie Eric S. Raymond, James Surowiecki, | |
Yochai Benkler oder Clay Shirky waren die Propheten eines neuen, | |
kooperativen Zeitalters, in dem selbst organisierte Onlinemassen sozialen | |
und politischen Fortschritt hervorbringen konnten. Als Beweis dienten | |
nichthierarchische, dezentral mithilfe des Internets organisierte „Crowds“ | |
wie Attac, Occupy, die Piratenparteien oder der Arabische Frühling. | |
Inzwischen sind diese „Crowds“ an genau diesen losen Organisationsformen | |
gescheitert. In den sozialen Medien, die noch vor ein paar Jahren als | |
technische Vollendung von Habermas’ „bürgerlicher Öffentlichkeit“ | |
erschienen, hat die „Masse 1.0“ mit den von Le Bon beschriebenen | |
Eigenschaften Einzug gehalten. Und beweist dort täglich, dass man nicht | |
physisch am selben Ort sein muss, um kollektiv zu verrohen. | |
Die BRD-Wohlstandsbürger, die in den sozialen Medien zu verbalen | |
Amokläufern werden, machen letztlich auch den Blütenträumen vom Netz als | |
Debattenfreiraum und Medium der Kooperation ein Ende. In seinen frühen | |
Tagen mag das Internet als Medium einer akademischen Elite ein Ort des | |
Diskurses gewesen sein. Doch die Pöbelherrschaft, die online inzwischen | |
herrscht, vergiftet die Diskussionsatmosphäre und lässt selbst | |
Internet-Versteher wie Sascha Lobo verzweifeln. | |
## Rückzug der Intelligenzija | |
In einer Kolumne für Spiegel-Online schreibt er kürzlich flehentlich: | |
„Diskutiert mit, redet mit, zeigt euch! Lasst uns nicht allein mit den | |
stumpfen Horden.“ In eine ähnliche Richtung gehen auch die Facebook-Pläne, | |
ihre Kunden zum „Counter Speech“ gegen Online-Meckerer zu erziehen. | |
Doch warum sollten sich vernünftige Menschen in eine fruchtlose | |
Auseinandersetzung mit halbgebildeten Verschwörungstheoretikern | |
hineinziehen lassen? Einfacher wäre der Rückzug der Intelligenzija in ihre | |
historisch bewährten Reviere: redaktionell gestaltete Zeitungen und | |
Zeitschriften, Seminarräume, Hinterzimmer, private Salons, geschlossene | |
Gesellschaft. | |
Und das Internet als Ort des Austauschs? Für das könnte gelten, was Gustav | |
Le Bon 1885 über die Entwicklung jedes Gemeinwesens geschrieben hat: „Aus | |
der Barbarei von einem Wunschtraum zur Kultur geführt, dann, sobald dieser | |
Traum seine Kraft eingebüßt hat, Niedergang und Tod.“ | |
16 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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