Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Konzert der Snapped Ankles in Berlin: Mein Freund, der Baum
> Die unwiderstehliche Tribalkrautpostpunkraveband Snapped Ankles aus
> London gab ihr deutsches Konzertdebüt.
Bild: Famos bemoost: die Snapped Ankles in der Berghain-Kantine
„Bailando con dedicación“, sagt die Spanierin. Der Engländer sagt
„dedicated dancing“, der Bayer „passt scho“. Das Konzert hat noch gar n…
begonnen, aber die Leute tanzen bereits zu „Testone“, der
Bleephouse-Blaupause des Sheffielder Duos Sweet Exorcist von 1990. Eine
junge Frau am DJ-Pult heizt das Konzert mit geschmackvoll ausgewähltem
Dancefloor an. Wie früher bei einem Rave in freier Natur gerät man
automatisch in das wogende bunte Völkchen, sobald man die Berliner
Berghain-Kantine am Freitagabend betritt, wo der Deckenputz in großen
Placken abblättert und die Uhr über dem Tresen beharrlich fünf vor zwölf
zeigt.
Hinter der Bühne ist eine Leinwand in Schwarz getaucht. Darauf in
schlichter weißer Schrift: Snapped Ankles. Gegen 21 Uhr betreten die vier
britischen MusikerInnen ohne Aufhebens zum ersten Mal eine deutsche Bühne.
Alle sind uniform in Arbeitsoveralls gekleidet, ihre Gesichter bleiben
verdeckt von bemoosten und verfilzten Dreads, an denen auch ein Joseph
Beuys seine Freude gehabt hätte.
Mikrofonständer gibt es keine, stattdessen sind dicke, wie Wünschelruten
aussehende Äste mit Kontaktmikrofonen versehen, die zwei der vier
Klabauterfrauen und -Männer im Takt als Percussioninstrumente beklopfen.
Auf der Leinwand ist nun ein Film zu sehen, in dem ein Wald durchquert
wird. Immer tiefer geht es ins Unterholz, aber die mutmaßliche Drummerin
und der baumlange Bassist halten das fiepende und feedbackende Herumgeirre
ihrer Nebenleute an Keyboard, Effektpad, Sampler und Gitarre mit Verve auf
Kurs.
Der Sound von Snapped Ankles ist ein Mischwald aus Krautrock, hypernervösem
Postpunk und tribalistischem Dancefloor, wobei die Summe der Einzelteile
etwas Neues ergibt. Es geht nicht um Hooklines, sondern um das Gleiten
durch Sounds, nur der furztrockene Groove sagt jeweils, wo’s langgeht. Auf
ihrem vor wenigen Tagen veröffentlichten zweiten Album „Stunning Luxury“
wird diese Mission in dem Track „Dial the Rings on a Tree“ evident: Raus
aus dem Song, rein in die freie Landschaft von Feedback, Effekten und Echo.
## Sexuell zu Bäumen hingezogen
Live franst das öfter mal aus, was der Bestimmtheit von Snapped Ankles
überhaupt keinen Abbruch tut. Auch nicht beim Hit des Albums „Drink and
Glide“, der ein bisschen an die geschmeidigen, ganz frühen Roxy Music
erinnert, unwiderstehlich im Drive, aber ohne allzu aufdringlichen
Popismus. Der Sänger-Waldschrat von Snapped Ankles steigt immer wieder von
der Bühne und pflanzt sich mit seinem Mikrofonast in den Zuschauerraum.
„Bless the sound / Put more concrete in the ground“, singt er dazu.
In einem Interview hat ein Sprecher der Band erklärt, durch künstliche
Intelligenz werde das Gesicht in Zukunft ein immer lukrativerer
Konsumgegenstand, deshalb verbergen Snapped Ankles ihr Äußeres. Auf der
Bandcampseite geht die Verschleierung von Snapped Ankles sogar noch weiter:
„AGGROcultural PUNKTRONICA from AnalOGe Dendrophilia Mediators Est8Agents
Forest Rd“. Landwirtschaftlich organisierte Analog-Punk-Elektronik von sich
zu Bäumen sexuell hingezogen fühlenden Immobilienmaklern aus der Forest
Road? Ganz genau! „Recharchgeable“ heißt ein Song von Snapped Ankles,
dessen Idee auf eine Partyreihe der Band zurückgeht. In einem besetzten
Warehouse in Ostlondon veranstalten sie illegale „Stromausfall“-Parties,
bei denen die Gäste den Strom durch Strampeln auf Fahrrädern erzeugen.
Am Freitag behauptet einer der Waldschrate, wir befänden uns gerade in
einem Workshop, bei dem es ums „metaphorische Gehölz“ gehe. Anders als
Häuser und Gegenden lassen sich Bäume nun mal nicht aufwerten. Am Berghain
gefalle Snapped Ankles, so bekundet ein anderer Waldschrat am Freitagabend,
dass der Raum einfach bleibt, einen alten Baum könne man auch nicht
verpflanzen. Dann covern sie „Tailpipe“ von Can und verziehen sich unter
dem Jubel der ZuschauerInnen wieder ins Unterholz.
25 Mar 2019
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
Rave
Berghain
Waldsterben
Postpunk
Konzert
Bäume
Krautrock
Schwerpunkt Utopie nach Corona
House
Kelsey Lu
Jayda G
Berlin-Kreuzberg
Musik
Grime
Künstlerin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Schweizer Künstlerin Franziska Lantz: Schönheit im Hässlichen
Die in London lebende Künstlerin Franziska Lantz macht Kunst und
elektronische Musik, die den Klimawandel mitdenkt – und brachial klingt.
Britische Pophoffnung Georgia: Klang der Familie
Um Georgia Barnes ist in Großbritannien ein Hype entstanden. Auf ihrem
Album „Seeking Thrills“ versucht die 27-jährige, dem Druck zu begegnen.
Neues Album von Kelsey Lu: Ruderschnecke im Ozean
Wie ein ätherisch-barockes Klanggemälde: Das Album „Blood“ der US-Musiker…
Kelsey Lu sticht aus der Masse aktueller Veröffentlichungen hervor.
Debütalbum von Jayda G: Killerwal auf dem Dancefloor
Jayda G hat zwei Standbeine: Meeresbiologie und elektronische Tanzmusik.
Ihr upliftendes Debütalbum „Significant Changes“ vereint beides.
Ein Pionier in der kurdischen Musik: Einmal ins Universum schreien
Kurdische Musik, volkstümliche Erinnerung, queere Texte: Dem Berliner
Musiker Adir Jan ist die Liebe ein Anliegen. Er legt seine erste Platte
vor.
Neues Album von Cherry Glazerr: Vielleicht eine neue Punkikone
Clementine Creevy ist anders als andere Frontfrauen. Ihr Feminismus ist
gemacht für Instagram – jung, hübsch und marktkonform.
Spiritueller Jazz aus Großbritannien: Mysteriöse Kometenmelodien
Das britische Trio The Comet Is Coming feiert den Kollektivgeist des Jazz.
Es dockt mit seinem Sound an die Londoner Dancefloor-Szene an.
Londoner Rapperin Little Simz: Der Bruder sitzt im Knast
„Grey Area“ heißt das neue Album der Rapperin Little Simz. Ihr Stil
changiert zwischen aggressiver Schnelligkeit und entspanntem Storytelling.
Laurie Anderson in der Elbphilharmonie: Heitere Avantgardistin
US-Künstlerin Laurie Anderson bespielt für einige Tage die Hamburger
Elbphilharmonie. Zum Auftakt gab es tibetische Lieder – ohne viel Exotik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.