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# taz.de -- Frauenrechte in Italien: Schenkt dem Vaterland ein Kind
> Nicht nur im Haushaltsstreit sollte die EU skeptisch auf Italien schauen.
> Europaweit mühsam errungene Zivil- und Frauenrechte werden zurückgedreht.
Bild: Italienische Feministinnen protestieren verkleidet im Stil der Serie „T…
Ein Gespenst geht um in Europa und erschreckt Märkte und Regierungen: der
Italexit. Noch wissen wir nicht, wie das Tauziehen um das Haushaltsgesetz
und die Machtprobe zwischen der italienischen Regierung und Europa ausgehen
wird. Was aber bereits jetzt passiert, unbemerkt von Europa, ist ein
klammheimlicher EU-Ausstieg Italiens im Bereich der Zivilrechte. Die
gegenwärtige populistische Regierung setzt ganz Italien in eine
Zeitmaschine, die uns weit zurückzuwerfen droht, besonders [1][was die
Frauenrechte angeht]. Ein Rechtsruck nach polnischem Vorbild, der unter
aller Augen stattfindet und mindestens so sehr alarmieren sollte wie die
Haushaltsfrage.
Denn auch in Italien hebt die fundamentalistische Rechte des Katholizismus
ihr Haupt, und sie verfügt über beste Verbindungen in die Regierung. Den
ersten Vorgeschmack gab schon die [2][Zusammensetzung der
Regierungsmannschaft]: Weg mit dem Ministerium für Chancengleichheit, es
gibt nun ein Ministerium für Familie und Menschen mit Behinderung.
Schon die Namensänderung bezeichnet einen präzisen kulturellen und
politischen Horizont: Am Herzen liegt dieser Regierung nicht
Chancengleichheit – insbesondere von Männern und Frauen –, sondern die
Unterstützung des sogenannten traditionellen Familienmodells, das Frauen
möglichst an den heimischen Herd zurückschickt (wo sie sich vermutlich auch
um Menschen mit Behinderung kümmern sollen).
Dieser kulturelle Ansatz schlägt sich auch [3][im vieldiskutierten
Haushaltsgesetz] nieder; anstelle einer seriösen Politik zur Förderung
weiblicher Erwerbstätigkeit und der Sozialsysteme sieht es unter anderem
vor, dass Familien, die in den drei Jahren von 2019 bis 2021 ein drittes
Kind bekommen, sich um ein öffentliches oder brachliegendes Grundstück
bewerben können, mit Förderkredit für den Kauf einer nahegelegenen
Immobilie. Schenkt dem Vaterland ein Kind, das Vaterland wird euch mit Land
bezahlen!
An die Spitze des Familienministeriums wurde Lorenzo Fontana berufen. Der
Mann ist davon überzeugt, dass eine fabulöse „Gendertheorie“ existiert, d…
für die Auflösung der traditionellen Familie verantwortlich sei. Er ist ein
Gegner der Lebenspartnerschaft. Er [4][steht der extremen Rechten] von
Verona nahe. Und er ist vor allem ein erbitterter Gegner des weiblichen
Rechts auf Schwangerschaftsabbruch. Als solcher ist er Mitglied des
ComitatoNo194 (das auch von der faschistischen Forza Nuova unterstützt
wird). Es fordert nicht nur die Abschaffung des Gesetzes 194/1978 – das in
Italien den Schwangerschaftsabbruch regelt –, sondern sogar
Gefängnisstrafen (zwischen acht und zwölf Jahren) für abtreibende Frauen
und Ärzte, die Abbrüche durchführen.
In diesem angeheizten Klima verwundert es nicht, dass in einigen
italienischen Städten Anträge gestellt – und in einigen Fällen auch
genehmigt – wurden, Organisationen von Abtreibungsgegnern zu unterstützen.
An die Spitze setzte sich Verona, nicht zufällig Fontanas Heimatstadt, wo
sich der Gemeinderat im Oktober mit 21 Jastimmen und 6 Gegenstimmen dazu
verpflichtete, ultrakatholische sogenannte Prolife-Organisationen zu
finanzieren, und Verona überdies zur „Stadt des Lebens“ erklärte.
Bereits heute kann das Gesetz 194 nur unzureichend umgesetzt werden. Denn
die sogenannte Verweigerung aus Gewissensgründen ist weit verbreitet – und
vielfach vorgeschoben: Durchschnittlich 70 Prozent der italienischen
Gynäkologen weigern sich, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, mit
Spitzen von 98 Prozent in Teilen des Landes. Erst kürzlich wurde ein
Krankenhausarzt fristlos entlassen, weil er sich geweigert hatte, eine Frau
zu behandeln, die in der 18. Woche eine Fehlgeburt erlitten hatte und
dringender Hilfe bedurfte. Die Frau wäre wahrscheinlich gestorben, wenn
nicht ein Kollege eingesprungen wäre, der gar nicht im Dienst war.
Das Gesetz 194 sieht zwar die Verweigerung aus Gewissensgründen vor, jedoch
ausschließlich für Eingriffe, die zu einem Schwangerschaftsabbruch führen,
doch es entbindet das ärztliche Personal selbstverständlich keineswegs von
seiner Behandlungspflicht im Notfall. Aber wenn selbst der Papst sich
erlaubt, Abtreibung mit der „Inanspruchnahme eines Auftragsmörders, um ein
Problem zu lösen“ zu vergleichen, wird die Berufung auf Gewissensgründe
wohl zunehmen: Wer will sich schon als Auftragsmörder fühlen?
## Kein Schutz der Kinder vor häuslicher Gewalt
Während die Italienerinnen die wiederkehrenden Attacken auf das Gesetz 194
bereits gewohnt sind, kommt der jüngste Angriff auf das Scheidungsgesetz
aus heiterem Himmel. Ein Gesetzentwurf zum gemeinsamen Sorgerecht des
Senators Simone Pillon von der Lega diente dabei als Trojanisches Pferd.
Der Entwurf will das aktuelle Scheidungsrecht ändern und soll dabei
offensichtlich der Abschreckung vor Scheidungen mit Kindern dienen.
Zu den umstrittensten Vorschlägen zählen die Verpflichtung zur Mediation
(kostenpflichtig, zu Lasten der Ehepartner) und die zwischen den Eltern
gleichmäßig aufzuteilenden Kinderbetreuungszeiten. Damit wirft der
Gesetzentwurf das Grundprinzip um, auf dem das aktuelle italienische
Familienrecht beruht, nämlich das übergeordnete Kindeswohl. Mit diesem
Prinzip im Hinterkopf versuchen die Richter heute die Situation der
einzelnen Familie einzuschätzen und zu entscheiden, wo der
„Lebensmittelpunkt“ liegt, der die Stabilität und Ausgeglichenheit des
Kindes zu garantieren vermag. Heute sind es also die Eltern, die sich den
Bedürfnissen ihrer Kinder unterzuordnen haben – wenn Pillons Entwurf Gesetz
wird, könnten diese wie Pakete zwischen den Eltern verschoben und
verhandelt werden.
Zudem garantiert Pillons Entwurf keinen Schutz der Kinder vor häuslicher
Gewalt. Er möchte nämlich das Argument der sogenannten
Eltern-Kind-Entfremdung (PAS – Parental Alienation Syndrome) einführen, ein
„Syndrom“, das alle psychiatrischen Vereinigungen der Welt als inexistent
ablehnen und das, kurzgefasst, die Aussagen eines Kindes, das ein
Elternteil des Missbrauchs bezichtigt, als unzuverlässig einstuft, da sie
fast immer auf Gehirnwäsche durch den anderen Elternteil zurückzuführen
seien. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass missbrauchte Kinder
gezwungen sind, weiterhin mit dem missbrauchenden Elternteil Umgang zu
haben (oder gar mit ihm zusammenzuleben).
Doch wer ist Simone Pillon? Ein glühender Katholik aus Brescia und
Mitorganisator einiger „Family Days“. Auch er ist überzeugt von der
Existenz eines Komplotts der „Gendertheorie“, das die traditionelle Familie
zersetze, und vor allem ist er als Anwalt spezialisiert auf jene Mediation,
die sein Gesetzentwurf verpflichtend einführen will: ein mächtiger
Interessenkonflikt.
Gegen Pillons Gesetzentwurf regt sich breiter Protest, organisiert von
feministischen Vereinigungen. Am 10. November demonstrierten auf 50
italienischen Plätzen Zehntausende von Frauen. Der Protest stand auch im
Zentrum der großen nationalen Demonstration, die am 24. November in Rom
anlässlich des Internationalen Tages gegen Gewalt gegen Frauen stattfand.
Doch ob er Erfolg hat, ist fraglich.
Die Anzeichen für eine Wiederkehr der religiösen Rechten, die die
Zivilrechte und besonders die Frauenrechte einschränken will, sind
jedenfalls besorgniserregend, sie sollten Europa mindestens so sehr in
Aufruhr versetzen wie die Erhöhung des Haushaltsdefizits und des Spread.
Zur Diskussion gestellt (und an ihrem Ausbau gehindert) werden diese mühsam
errungenen Rechte von einem dichten Netz ultrareligiöser, rechter
Organisationen, die in vielen Ländern verbreitet und miteinander eng
verflochten sind, von Ungarn bis Spanien, von Polen bis in die USA.
Finanziert werden sie zum Teil mit beträchtlichen Geldflüssen aus Russland
und Aserbaidschan, wie kürzlich eine Recherche des Wochenmagazins
L’Espresso ergab.
Viele dieser Organisationen werden sich im kommenden März beim „World
Congress of Families“ in Verona treffen. Ein Termin, den auch all jene im
Auge behalten sollten, die verhindern wollen, dass Italien um sechzig Jahre
zurückgeworfen wird.
Aus dem Italienischen von Michaela Heissenberger
12 Dec 2018
## LINKS
[1] /Europaweite-taz-Recherche/!5554584
[2] /Debatte-Politische-Situation-in-Italien/!5517242
[3] /Interview-zum-Streit-Italien/EU/!5549740
[4] /Italiens-neue-Regierung/!5507685
## AUTOREN
Cinzia Sciuto
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