| # taz.de -- Netflix-Film „Roma“ von Alfonso Cuarón: Verdammtes Hausmädche… | |
| > In der Netflix-Produktion „Roma“ reflektiert der Regisseur seine Kindheit | |
| > in Mexiko-Stadt. Der Venedig-Gewinner kommt jetzt in die Kinos. | |
| Bild: Träumt unter der trocknenden Wäsche: Yalitza Aparicio (links) als Cleo … | |
| Zu Beginn der 1970er Jahre lebt Cleo im Haus der Arztfamilie Antonio in | |
| Roma, einem Mittelschichtsviertel in Mexiko-Stadt. Ohne viele Worte kümmert | |
| sich das Dienstmädchen zuverlässig um den Haushalt, die vier Kinder und den | |
| Hund der Familie. Ihre Freundin Adela, die Köchin bei den Antonios, nennt | |
| Cleo liebevoll „Manita“, das Händchen. Im Anbau des Hauses teilen sich die | |
| jungen Frauen ein Zimmer. Untereinander sprechen sie Mixtekisch, ihre | |
| Muttersprache. | |
| In „Roma“, dem jüngsten Spielfilm von Alfonso Cuarón, fängt die Kamera d… | |
| turbulente Familienleben und die gleichmütig verrichteten Tätigkeiten der | |
| Angestellten in beobachtenden Schwarz-Weiß-Bildern ein. Doch während | |
| draußen auf den Straßen die Studenten für eine gerechtere Gesellschaft | |
| demonstrieren, verändern einschneidende Ereignisse bald auch das | |
| Miteinander der Bewohner des Hauses. | |
| Für diese Netflix-Produktion, die zunächst im Kino gezeigt wird und später | |
| beim US-amerikanischen Streaming-Anbieter zu sehen sein wird, erhielt der | |
| mexikanische Regisseur und Drehbuchautor bei den diesjährigen | |
| Filmfestspielen in Venedig den Goldenen Löwen. | |
| Cuarón, der für sein US-amerikanisches Science-Fiction-Drama „Gravity“ 20… | |
| mit zwei Oscars ausgezeichnet worden war, kehrte für „Roma“ in seine | |
| Geburtsstadt zurück. Dort fanden die Dreharbeiten mit sorgfältig | |
| recherchierter historischer Ausstattung und an Originalschauplätzen statt. | |
| Dabei zeichnete Cuarón nicht nur für Drehbuch und Regie verantwortlich, | |
| sondern er übernahm auch die Kamera. | |
| ## Intime Momente und eine Gesellschaft im Umbruch | |
| Unterstützt von einer mexikanischen Crew, konnte der 1961 geborene | |
| Filmemacher eine sehr persönliche Filmerzählung realisieren, die auf | |
| Erinnerungen an sein damaliges Kindermädchen „Libo“ Rodriguez beruht. Ihr | |
| hat er den Film gewidmet. Überzeugend gelingt es Cuarón, die intimen | |
| Momente seiner Kindheit [1][mit historischen Ereignissen jener Jahre] | |
| zusammenzubringen und in „Roma“ das differenzierte Bild einer Gesellschaft | |
| im Umbruch zu skizzieren. | |
| Im Zentrum des Films steht der Alltag von Cleo Gutiérrez, die von der | |
| 24-jährigen Laienschauspielerin Yalitza Aparicio aus Oaxaca dargestellt | |
| wird. Täglich schrubbt sie die Hofeinfahrt und entfernt immer wieder von | |
| Neuem im Patio die Haufen von Borras, dem Hund. Das Scheuern der | |
| Steinfliesen, die Geräusche der Straße oder die Musik aus dem Kofferradio – | |
| jede Szene wirkt dank der von Cuarón verwendeten dreidimensionalen | |
| Soundtechnik unmittelbar und klanglich definiert. | |
| Mit großer Selbstverständlichkeit nehmen auch die Kinder wie ihre Eltern | |
| die Dienste der Hausangestellten jederzeit in Anspruch, teilen aber | |
| zugleich eine zärtliche Vertrautheit und Nähe mit ihr. In einer | |
| eindrücklichen Szene folgt der jüngste Sohn Cleo tobend aufs Flachdach des | |
| Wohnhauses, wo sie Kleiderberge der Familie mit der Hand wäscht, während | |
| auf den Dächern der Nachbarhäuser andere junge indigene Frauen die gleiche | |
| Arbeit verrichten. | |
| An einem freien Sonntag lernt Cleo mit Adela und ihrem Freund Ramón dessen | |
| Cousin Fermín kennen. Der junge Mann mit den schwarzen, kurz geschorenen | |
| Haaren begeistert sich für die asiatische Kampfkunst. Als ihm Cleo Fermín | |
| einige Wochen später im Kino eröffnet, dass sie ein Kind von ihm erwartet, | |
| macht er sich noch während der Vorstellung aus dem Staub. | |
| ## Ungerechtigkeit nicht gleich Unmenschlichkeit | |
| Auch das Leben von Cleos Hausherrin Sofía droht aus den Fugen zu geraten, | |
| als sie erfährt, dass ihr Ehemann, Señor Antonio, nicht auf einem | |
| Ärztekongress in Quebec weilt, sondern die Familie längst wegen einer | |
| anderen Frau verlassen hat. Doch Sofía setzt Cleo nicht vor die Tür, | |
| sondern bietet ihr Hilfe an und vertraut in dieser Situation mehr denn je | |
| auf die Unterstützung der nun schwangeren Angestellten. | |
| Deutlich bildet „Roma“ in dem widersprüchlichen Arbeitsverhältnis die | |
| gravierende Ungleichheit der sozialen Klassen in Lateinamerika ab und macht | |
| trotzdem deutlich, dass diese gelebte Ungerechtigkeit nicht zwangsläufig | |
| auch von Unmenschlichkeit gekennzeichnet sein muss. | |
| Nur mit Unterstützung des langhaarigen und in Schlaghosen gekleideten Ramón | |
| macht Cleo schließlich Fermín in Netzahualcóyotl, einem am Stadtrand | |
| entstehenden Slum, ausfindig. Sie entdeckt ihn beim Stockkampftraining | |
| inmitten einer militärisch aufgereihten Hundertschaft junger Männer. Voll | |
| Verachtung jagt er sie davon: „Wenn ich dich und das Kind nicht verprügeln | |
| soll, dann komm nie wieder hierher. Verdammtes Hausmädchen!“ | |
| In Mexiko hatten 1968, zehn Tage vor der Eröffnung der Olympischen Spiele, | |
| bei dem Massaker von Tlatelolco Scharfschützen das Feuer auf friedlich | |
| demonstrierende Studenten eröffnet. Außerhalb des Landes blieben die bis | |
| heute nicht aufgeklärten Gewalttaten vom 10. Juni 1971, dem sogenannten | |
| Halconazo, weniger bekannt. Damals gingen paramilitärische Gruppierungen | |
| bewaffnet auf einen Demonstrationszug von Studenten los und verfolgten die | |
| Flüchtenden. | |
| ## Ein gesellschaftlicher Wendepunkt | |
| Cuarón verknüpft in seinem Spielfilm dieses blutige Ereignis mit Cleos | |
| Geschichte. Während die junge Frau hochschwanger in einem Möbelgeschäft | |
| eine Wiege aussuchen soll, eskaliert draußen auf der Straße die Situation. | |
| Als Vermummte plötzlich in den Laden stürmen, um einen fliehenden Mann | |
| niederzuschießen, entdeckt Cleo den Kindesvater zwischen den Tätern. | |
| Ähnlich [2][wie der mexikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Guillermo | |
| Arriaga], der in seinem kürzlich erschienenen Roman „Der Wilde“ aus der | |
| Perspektive eines Heranwachsenden den Beginn paramilitärischer | |
| Organisierung in Mexiko in den frühen 1970ern beschreibt, blickt auch | |
| Alfonso Cuarón in „Roma“ auf diesen historischen Moment zurück, der einen | |
| gesellschaftlichen Wendepunkt markiert. | |
| Nach der Erschießung im Möbelgeschäft kommt Cleos Tochter unter | |
| dramatischen Umständen in einem öffentlichen Krankenhaus tot zur Welt. | |
| Unter traurigen Vorzeichen begibt sich Cleo mit Sofía und den vier Kindern | |
| an die stürmisch verhangene Küste von Veracruz. Dort stürzt sich das immer | |
| noch traumatisierte Dienstmädchen, obwohl es nicht schwimmen kann, in die | |
| tosenden Wellen und rettet die Kinder vor dem Ertrinken. Wieder am Strand, | |
| brechen ihre Gefühle endlich aus ihr heraus: „Ich wollte nicht, dass sie | |
| geboren wird.“ | |
| Zurück in Mexiko-Stadt, trägt nun jeder seinen eigenen Koffer ins Haus. | |
| Eine Jugendgruppe marschiert im Gleichschritt die Straße entlang. | |
| 6 Dec 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /68er-Proteste-in-Mexiko/!5494418 | |
| [2] /Roman-Der-Wilde-von-Guillermo-Arriaga/!5552008 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva-Christina Meier | |
| ## TAGS | |
| Netflix | |
| Mexiko | |
| Film | |
| Thriller | |
| Kolumne Latin Affairs | |
| Schwerpunkt Berlinale | |
| Oscars | |
| Kino Lateinamerika | |
| Kino | |
| Buch | |
| Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig | |
| Drogenkartell | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Serie „Disclaimer“ mit Cate Blanchett: Heiße Affäre, ungeklärte Fragen | |
| Hinter dem Glamour einer erfolgreichen TV-Journalistin stehen unangenehme | |
| Wahrheiten. Aber welche genau? Und für wen? Das ist auch eine Klassenfrage. | |
| Indigene Frauen im Kultur-Business: Mit der Mode sichtbar werden | |
| Yalitza Aparacio im Film, Karen Espinosa Vega auf dem neuen Titel der | |
| „Vogue“. Die öffentliche Präsenz von indigenen Frauen in Mexiko steigt. | |
| Berlinale-Regisseur Samuel Kishi Leopo: „Nicht alles ist Dunkelheit“ | |
| Der mexikanische Filmemacher über sein Migrationsdrama „Los Lobos“, | |
| postmoderne Boleros, fantasievolle Kinder und alleinerziehende Mütter. | |
| Oscar-Verleihung in Los Angeles: Alle zufrieden – fast alle | |
| Der Netflix-Film „Roma“ holt drei Trophäen. Bester Film wird aber das | |
| Rassismus-Drama „Green Book“. Das gefällt vor allem einem anderen | |
| Preisträger nicht. | |
| Berlinale-Film „Lemebel“: Splitternackt durch die Stadt | |
| Eine Heroe des Widerstands und der Subkultur: Joanna Reposi Garibaldis Film | |
| über den chilenischen Künstler und Schriftsteller Pedro Lemebel. | |
| Verleihung der Golden Globes 2019: Preis für „Bohemian Rhapsody“ | |
| Eigentlich war „A Star is Born“ Favorit. Aber „Bohemian Rhapsody“ gewin… | |
| den Preis als bestes Filmdrama. Glenn Close setzt sich als Schauspielerin | |
| durch. | |
| Roman „Der Wilde“ von Guillermo Arriaga: Auf den Dächern der Moderne | |
| Das Epos „Der Wilde“ ist packend erzählt. Es verknüpft die schmerzhaften | |
| Erlebnisse eines Jugendlichen in Mexiko mit einem Wolf in Kanada. | |
| Lidokino 11: Der Abschluss: Die Größe kleiner Geschichten | |
| Der Goldene Löwe geht in Venedig an den Film „Roma“ des Mexikaners Alfonso | |
| Cuarón. Und damit erstmals an eine Netflix-Produktion. | |
| Fortsetzung des Actionfilms „Sicario“: Was bleibt, ist Gewalt | |
| Schmutzige CIA-Strategien im Kampf gegen mexikanische Drogenkartelle. Das | |
| Beste an Stefano Sollimas „Sicario 2“ ist die Filmmusik. |