# taz.de -- Linksextremer Gefährder: Wie gefährlich ist Christian S.? | |
> Christian S. ist einer von zwei linksextremen Gefährdern in Deutschland. | |
> Seit er das weiß, versteht er, warum ihm viele seltsame Dinge passieren. | |
Bild: Der Gefährder: wie ein Mensch in einer Schablone | |
Ein Mann, braungebrannt, groß und sportlich, sitzt am Tisch und rührt in | |
seinem Milchkaffee. Es ist ein strahlend schöner Spätsommertag, ein | |
Biergarten in Berlin-Kreuzberg, Kies knirscht unter den Füßen. „Wenn hier | |
jetzt in zwei Stunden ein Mensch erstochen wird“, sagt er und deutet auf | |
die Baumgruppe ein paar Meter weiter weg, „und die Polizei findet diese | |
Kaffeetasse hier mit meiner DNA, dann werden die alles versuchen, um mir | |
das anzuhängen.“ | |
Seinen vollen Namen will der Mann nicht preisgeben. Christian S., das muss | |
reichen. Die Geschichte, die sein Leben bestimmt, soll erzählt werden. Aber | |
er möchte nicht, dass jeder seinen Namen kennt. S. muss davon ausgehen, | |
dass die Polizei ihn für jemanden hält, der Straftaten in erheblichem | |
Ausmaß begehen wird. Er gilt als Gefährder, genauer: als linker Gefährder, | |
einer von nur zweien in Deutschland. S. ist überzeugt davon, dass die | |
Polizei Unrecht hat. Aber er kann nichts dagegen tun. | |
Vielleicht, denkt Christian S., gälte er nicht mehr als Gefährder, wenn er | |
sein Leben radikal änderte: weit wegziehen, den Kontakt zu seinen Freunden | |
abbrechen, seine Überzeugungen aufgeben. Nur, was wäre dann noch von ihm | |
übrig? | |
Das erste Mal, dass Christian S. denkt, dass etwas komisch läuft, ist fast | |
13 Jahre her. Damals steht er vor Gericht, weil er bei Protesten gegen | |
einen Neonaziaufmarsch in Dresden eine Flasche auf einen Polizisten | |
geworfen haben soll. | |
Es ist nicht das erste Mal, dass Christian S. auf der Anklagebank sitzt. | |
Doch dieser Prozess ist anders: Die Zivilpolizisten, die gegen S. aussagen | |
sollen, tragen einen falschen Schnauzbart und eine Langhaarperücke. Ihre | |
Verkleidung wirkt absurd, genau wie ihr Verhalten. Sie weigern sich, im | |
Gerichtssaal in Berlin-Tiergarten ihren Namen zu nennen. Stattdessen | |
stellen sie sich mit einem Zahlencode vor: 56765 der eine, 56766 der | |
andere, 33018 der dritte. Auf Fragen der Richterin antworten sie immer | |
wieder mit dem gleichen Satz: „Ich bin nicht befugt, dazu eine Aussage zu | |
machen.“ | |
Manchmal wird aufgelacht im Zuschauerraum, weil sich die Polizisten so | |
seltsam verhalten. Christian S. lacht nicht. Er fragt sich: Warum diese | |
Maskerade? Und vor allem: Was hat es mit ihm zu tun, wenn die Polizei | |
glaubt, ihre Beamten verkleiden zu müssen, bevor sie gegen ihn aussagen? | |
Das Versteckspiel der Polizisten ist auch aus Sicht der Richterin | |
ungewöhnlich. Sie wendet sich gleich am ersten Prozesstag an die Berliner | |
Innenverwaltung, bittet um Auskunft über die Identität der Polizeizeugen. | |
Eine Woche später wird ihr Gesuch abgelehnt: „Dem Verlangen auf Bekanntgabe | |
der Identität kann im vorliegenden Fall nicht entsprochen werden, weil ihre | |
Bekanntgabe dem Wohl des Landes Berlin Nachteile bereiten würde“, heißt es | |
in dem Schreiben. Christian S. habe „eine gewichtige Symbolfunktion in dem | |
einschlägigen Milieu mit linksextremistischem Hintergrund“. Gäben die | |
Polizisten vor Gericht ihre Identität preis, führe dies zu einer | |
„unmittelbaren und ernsthaften Gefährdung der Beamten und ihrer | |
Angehörigen“. | |
Christian S., der über seine Anwältin von dieser Begründung erfährt, hat | |
nun eine Antwort auf die Fragen, die er sich im Gerichtssaal stellte. | |
Beruhigend ist sie nicht. S. war schon klar, dass er keiner ist, den die | |
Polizei gut leiden kann. Aber dass das Leben von Polizisten und ihren | |
Familien seinetwegen gefährdet sei, hört er zum ersten Mal. | |
S. wird schließlich verurteilt, legt Berufung ein, hat Erfolg: Das Urteil | |
wird gekippt. Doch erledigt ist die Sache damit nicht. Er will wissen, was | |
in diesem Prozess los war. | |
„Ich fand das völlig absurd, dass behauptet wurde, wer in einem Prozess | |
gegen mich seinen Namen sagt, müsste um sein Leben fürchten“, sagt S. an | |
diesem Tag im Spätsommer, 13 Jahre später. Seine grauen Haare trägt er kurz | |
geschoren, Arme und Hals sind mit Tätowierungen bedeckt. Er spricht ruhig | |
und bedacht. Er sehe älter aus, als er ist, hieß es in einem Artikel über | |
S., der vor mehr als zwölf Jahren in einer Berliner Zeitung erschien. Heute | |
ist es umgekehrt: Dass S. nächstes Jahr 50 wird, sieht man ihm nicht an. | |
Es ist ein langer und zäher Kampf, den S. damals nach der | |
Gerichtsverhandlung beginnt und bis heute führt. Er will wissen, welche | |
Informationen die Sicherheitsbehörden über ihn gespeichert haben. Er stellt | |
ein Auskunftsersuchen an Verfassungsschutz und Polizei. Es wird abgelehnt. | |
2006 reicht seine Anwältin die erste Klage auf Herausgabe der Daten beim | |
Berliner Verwaltungsgericht ein. | |
## Es gibt kein Gesetz, das die Einstufung regelt | |
Mehrere Jahre muss S. mit der Ungewissheit leben, dass die Polizei ihn | |
besonders behandelt, er aber nicht weiß, warum. Erst vor anderthalb Jahren | |
bekommt er Klarheit. Über ein Leck in den Behörden ist S. an eine Akte | |
gelangt, die auch die taz einsehen konnte. Aus dieser geht hervor, dass das | |
Berliner Landeskriminalamt ihn als linksextremen Gefährder eingestuft hat. | |
Insgesamt werden in Deutschland knapp 800 Personen als Gefährder geführt. | |
Gut 760 davon in der Kategorie „religiöse Ideologie“, gut 30 in der | |
Kategorie „politisch motivierte Kriminalität rechts“. Unter „politisch | |
motivierte Kriminalität links“ nur zwei Personen – Christian S. und noch | |
ein anderer Mann. | |
Diese Zahlen nannte das Bundeskriminalamt der taz auf eine Anfrage im | |
November. Als die Linksfraktion im Bundestag 2017 die Anzahl abgefragt | |
hatte, waren es noch vier linksextreme Gefährder. Christian S. und seine | |
Anwältin gehen davon aus, dass S. nach wie vor dazugezählt wird, doch | |
sicher wissen können sie es nicht. Wer als Gefährder eingestuft wird, | |
bekommt keinen Brief der Polizei, in dem das drinsteht. Und ebensowenig | |
erfährt man, wenn diese Einstufung nicht mehr gilt. | |
Seit Christian S. die Information besitzt, die er eigentlich gar nicht | |
besitzen dürfte, hat er eine Erklärung dafür, warum in seinem Leben immer | |
wieder seltsame Dinge passieren. | |
S. gehört zum Umfeld der Rigaer94, eines Hausprojekts in | |
Berlin-Friedrichshain, das in den Berliner Verfassungsschutzberichten seit | |
Jahren als eine Art bundesweite Kommandozentrale des Linksextremismus | |
dargestellt wird. Im Gebiet rund um die Rigaer Straße darf die Polizei | |
anlasslos Passanten kontrollieren. S. sagt, es sei mehrfach passiert, dass | |
Polizeibeamte während einer solchen Personenkontrolle, in die er geraten | |
sei, in Panik geraten seien: „Wenn die meine Daten eingeben und die | |
Einträge dazu aufrufen, ist plötzlich richtig was los.“ Die Beamten hätten | |
ihre Waffen auf ihn gerichtet, Verstärkung sei herbeigeeilt. S. schildert | |
auch das ganz ruhig. Es wirkt nicht so, als berühre es ihn emotional, als | |
mache es ihm gar Angst. Es wirkt, als habe er sich damit abgefunden. Aber | |
richtig findet er es auch nicht. | |
Über die Einstufung als Gefährder bestimmt kein Richter, sondern die | |
Polizei. Bei ihr gilt eine Person als Gefährder, wenn „bestimmte Tatsachen | |
die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von | |
besonderer Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der StPO | |
begehen wird“. Also jene Straftaten, die so schwer sind, dass sie die | |
Überwachung der Telekommunikation rechtfertigen. | |
Aber was genau sind diese „bestimmten Tatsachen“? Es gibt kein Gesetz, das | |
die Einstufung als Gefährder regelt, die Polizei muss ihre Entscheidung | |
niemandem gegenüber rechtfertigen. Man kann auch sagen: Gefährder sind | |
Menschen, gegen die die Polizei vorgehen will, bei denen es aber nicht | |
einmal für eine Anklage genügend gerichtsfeste Beweise gibt, geschweige | |
denn für eine Verurteilung. | |
Für diejenigen, die als Gefährder eingestuft werden, hat das erhebliche | |
Konsequenzen. Gefährdern kann der Pass entzogen werden, elektronische | |
Fußfesseln sind seit einer Gesetzesnovelle im Frühjahr 2017 bundesweit | |
möglich. In Bayern können Gefährder theoretisch unbegrenzt in Präventivhaft | |
genommen werden – ohne dass ihnen auch nur die Vorbereitung einer Straftat | |
nachgewiesen werden muss. Die Innenpolitiker von CDU und CSU haben sich | |
dafür ausgesprochen, diese Regelung auch bundesweit einzuführen. Wer als | |
Gefährder eingestuft ist, muss damit rechnen, dass in seinem Fall ständig | |
polizeirechtliche Maßnahmen geprüft und angewandt werden. | |
Passentzug und Fußfessel betreffen vor allem islamistische Gefährder, bei | |
denen die Polizei fürchtet, dass sie sich ins Ausland absetzen könnten. | |
Christian S. kann Deutschland verlassen. An Flughäfen, sagt er, komme es | |
jedoch bei jeder Reise zu Verzögerungen. Mal sei angeblich sein Gepäck | |
verschwunden, mal werde er stundenlang verhört. S. glaubt, dass die | |
Behörden in dieser Zeit prüfen, ob sie ihn ausreisen lassen können. | |
Oft wird kritisiert, die Einstufung von Menschen als Gefährder sei mit dem | |
Rechtsstaat nicht vereinbar. Doch die Kritiker haben es schwer, ihr Gegner | |
ist die Angst. Das Versprechen, das in dem Begriff Gefährder liegt, lautet: | |
Wir ziehen die bösen Jungs – und die wenigen Frauen – aus dem Verkehr, noch | |
bevor sie die schlimmen Dinge auch nur planen können. Ein Versprechen | |
größtmöglicher Sicherheit. | |
Nur, wieviel Angst müsste es einem eigentlich machen, dass die Polizei in | |
Deutschland Dinge tut, die von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty | |
International als „massive Eingriffe ins Grundrecht“ kritisiert werden? | |
Und: Für wen ist Christian S. eine Bedrohung? | |
## Er prügelt sich mit der „Borussenfront“ | |
Christian S., gebürtiger Aachener, wächst in Dortmund auf. Schon als Kind | |
geht er regelmäßig zu Fußballspielen der Borussia. 1982, da ist er 13, | |
macht er zum ersten Mal Bekanntschaft mit Rechtsextremen. Damals tauchen im | |
Westfalenstadion Fans auf, die sich als Borussenfront bezeichnen und Jagd | |
machen auf alle, die nicht ihren Vorstellungen entsprechen. Eine Freundin | |
von ihm sei damals niedergestochen worden, sagt Christian S. | |
In Dortmund landet er später auf der Straße, sitzt immer wieder wegen | |
kleinerer Delikte im Knast. Er prügelt sich mit Anhängern der | |
Borussenfront, wirklich politisch aktiv ist er damals noch nicht. 1994 muss | |
er wegen mehrerer Diebstähle für drei Jahre ins Gefängnis. „Danach habe ich | |
entschieden: Ich will weg von der Straße und weg aus Dortmund“, sagt S. | |
Nach seiner Entlassung 1997 kommt er nach Berlin. Die Freie Hilfe, eine | |
Organisation zur Unterstützung straffällig gewordener Menschen, vermittelt | |
ihm eine Wohnung in Berlin-Marzahn, am östlichen Rand der Stadt, doch die | |
Sozialarbeiter, erzählt er, warnen ihn: Dort wohnten viele Neonazis, nachts | |
solle er öffentliche Verkehrsmittel lieber meiden. | |
Zu dieser Zeit wird der Kampf gegen Neonazis das neue Lebensthema von | |
Christian S. Er verbringt mehr Zeit auf Demonstrationen, Plena und in | |
linken Kneipen als zu Hause. Die linke Szene wird für S. zu einer Art | |
Ersatzfamilie, und das ist bis heute so. | |
## Dann wirft er Steine | |
Zu dieser Zeit ändert sich auch der Charakter seiner Einträge in den | |
Polizeiregistern. Statt um Diebstähle und Prügeleien geht es nun um | |
politische Delikte. Zweimal wird er erwischt, als er Wahlplakate | |
rechtsextremer Parteien abreißt. Im Jahr 2000 wird er zu zehn Monaten Haft | |
auf Bewährung verurteilt, weil er Steine auf eine NPD-Demo geworfen haben | |
soll. | |
Am 1. Mai 2004 marschieren mehrere tausend Neonazis im Ostberliner | |
Stadtteil Lichtenberg auf, wo damals ein ganzer Kiez in der Hand von | |
Rechtsextremen ist, es ist die Anfangszeit der sogenannten Autonomen | |
Nationalisten. Aus der Menge heraus werden Polizisten angegriffen, die | |
Stimmung ist aggressiv. | |
Die Neonazis wollen ins benachbarte Friedrichshain, Stadtteil der Punks und | |
Ostberliner Hausbesetzer. Christian S. gehört zu denen, die das verhindern | |
wollen. Auf der Frankfurter Allee, die beide Viertel verbindet, zünden | |
Aktivisten Mülltonnen an und schieben sie auf die Straße. Christian S. | |
macht mit. Dann zerren sie einen an der Seite parkenden Mercedes auf die | |
Fahrbahn und kippen ihn um. Christian S. nimmt ein Feuerzeug, langt durch | |
die zerstörte Heckscheibe des Autos und zündet die Papiere an, die dort im | |
Kofferraum liegen. Ein Wasserwerfer – die Polizei hat zuvor mit einem | |
Großaufgebot Sitzblockaden von der Straße entfernt – löscht das Feuer | |
wenige Minuten später. | |
Das alles gesteht Christian S. detailliert, als er ein halbes Jahr später | |
im Amtsgericht Berlin auf der Anklagebank sitzt. In einer fast zehnseitigen | |
Prozesserklärung beschreibt er, warum er sich zu dieser Tat entschlossen | |
habe, erklärt seine Politisierung anhand biografischer Ereignisse, gibt | |
eine kenntnisreiche Einschätzung der damaligen Berliner Neonaziszene ab. | |
Sein Geständnis nützt ihm wenig, im Dezember 2004 wird er zu drei Jahren | |
Haft verurteilt. Zusätzlich wird für die zehn Monate aus der letzten | |
Verurteilung die Bewährung widerrufen, auch diese Strafe muss er nun | |
absitzen. | |
In der linken Szene ist die Empörung groß. Schon der Prozess hat Aufsehen | |
erregt, Christian S. ist jetzt eine bekannte Figur. Am Abend der | |
Urteilsverkündung gibt es eine Spontandemonstration in Kreuzberg, es werden | |
Solidaritätserklärungen veröffentlicht und Aufrufe, für Christian S. zu | |
spenden. | |
## Der Verfassungsschutz muss einen Informanten gehabt haben | |
Der Berliner Verfassungsschutz hat bereits am 10. Mai 2004 ein Personagramm | |
zu Christian S. angelegt. Im Auge hat er ihn offenbar schon länger. Die | |
Vermerke, wann er wo an welcher Demonstration teilgenommen hat, reichen bis | |
ins Jahr 2001 zurück. Nun, nach der Verurteilung für die Tat mit dem | |
brennenden Mercedes am 1. Mai 2004, legt der Verfassungsschutz erst richtig | |
los: Solidaritätserklärungen und Spendenaufrufe, Artikel in der | |
Szenezeitschrift Interim, in Kneipen ausgehängte | |
Veranstaltungsankündigungen, jeder noch so unwichtig erscheinende Kommentar | |
zu Christian S., der auf der linken Internetplattform Indymedia | |
veröffentlicht wurde, findet sich in der Akte, die der Verfassungsschutz zu | |
S. führt. | |
Darunter sind auch Dokumente, die nicht öffentlich zugänglich sind: von | |
Mitarbeitern der Behörde erstellte Berichte von politischen | |
Veranstaltungen, die S. besucht habe, und Mitschriften von einem Treffen | |
der Antifaschistischen Linken Berlin, auf dem über „Kreuzberg-Christian“ | |
und seine bevorstehende Haftstrafe gesprochen worden sei. Der | |
Verfassungsschutz muss zu diesem Zeitpunkt einen Informanten in der Gruppe | |
gehabt haben. | |
Vermutlich nicht nur dort. Doch der Satz zu „Kreuzberg-Christian“ ist eine | |
der wenigen Stellen der dicken Akte zu S., die der Verfassungsschutz nicht | |
geschwärzt hat, bevor er sie an das Berliner Verwaltungsgericht und damit | |
an S.’ Anwältin übergab. Auf vielen Seiten wurde der Stift so großzügig | |
angesetzt, dass das Ergebnis an ein modernes Kunstwerk erinnert. | |
Die Sperrerklärung, in der die Behörde begründet, warum sie welche Stellen | |
geschwärzt hat, umfasst 33 Seiten. Sie endet mit der Feststellung, dass | |
„der Schutz der künftigen Aufgabenerfüllung der Berliner | |
Verfassungsschutzbehörde die gegenläufigen gerichtlichen und klägerseitigen | |
Offenbarungsinteressen“ überwiege. Das heißt: Damit der Verfassungsschutz | |
seine Arbeit machen kann, darf S. nicht erfahren, was dort über ihn | |
gespeichert ist. | |
Dass S. überhaupt diese Akte in Händen halten kann, hat er seinem langen | |
Atem zu verdanken. Die Herausgabe ist das Ergebnis der Datenklage, die er | |
und seine damalige Anwältin 2006 begannen; damals, als sie wissen wollten, | |
warum die Polizisten einen falschen Bart trugen. Die Klage zieht sich über | |
Jahre, der Briefwechsel mit dem Verfassungsschutz läuft mehr als | |
schleppend. Erst 2017 gibt es einen Durchbruch. Da rückt die Behörde auf | |
Geheiß des Verwaltungsgerichts schließlich die Akte heraus. | |
## S. benutzt kein Telefon | |
Seit er weiß, welchen Status er hat, ist S., der so abgebrüht wirkt, noch | |
vorsichtiger geworden als ohnehin schon. S. benutzt kein Telefon, weil er | |
befürchtet, dass er abgehört wird. Er geht nur noch selten auf | |
Demonstrationen, und wenn er es tut, verzichtet er darauf, dort Bekannte zu | |
grüßen, auch wenn die sich wundern, warum er so tut, als sähe er sie nicht. | |
„Ich weiß, dass alle Menschen, mit denen ich Kontakt habe, ebenfalls in den | |
Fokus der Polizei rücken“, sagt er. | |
Wenn jemand als Gefährder eingestuft wird, hat das auch für sein Umfeld | |
Konsequenzen. Wer Kontakt zu einem Gefährder pflegt, kann von der Polizei | |
als „relevante Person“ eingestuft werden, sozusagen als Vorstufe zum | |
Gefährder. 758 solcher Personen gibt es laut einer im März veröffentlichten | |
Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. 104 | |
davon im Bereich „politisch motivierte Kriminalität links“. Der taz liegt | |
ein Schreiben des Berliner LKAs vor, aus dem hervorgeht, dass eine Person | |
aus dem Umfeld von Christian S. seit April 2014 als „relevante Person – | |
Kontaktperson zu einem Gefährder“ mit dem Zusatz „potenzielle Gefährder | |
links“ erfasst ist. | |
Wenn Christian S. mit Freunden in der Kneipe sitzt, achtet er darauf, wer | |
an den anderen Tischen sitzt. „Wir versuchen dann, bestimmte Themen zu | |
meiden, zum Beispiel nicht darüber zu reden, welche Demonstrationen am | |
Wochenende anstehen, obwohl das ja eigentlich nicht verboten ist“, sagt er. | |
Er hat das Gefühl, immer unter Verdacht zu stehen, egal was er tut: „Wenn | |
wir bestimmte Themen meiden, steht hinterher in der Akte, wir würden uns | |
konspirativ verhalten“, sagt er. „Wenn ich mich normal anziehe, wird extra | |
festgehalten, es sei bemerkenswert, wie unauffällig ich auftrete.“ | |
Die mögliche Überwachung beschäftigt S. ständig. Wenn er über die Straße | |
geht, mustert er die Kennzeichen vorbeifahrender Autos. Zwei eng | |
beschriebene DIN-A4-Seiten hat er immer dabei: eine in Berliner | |
Autonomenkreisen gepflegte Liste von Autokennzeichen, die zu | |
Zivilfahrzeugen der Polizei gehören sollen. | |
„Natürlich frage ich mich, ob ich paranoid werde“, sagt er. „Aber wie so… | |
ich denn noch zwischen berechtigter Sorge und Paranoia unterscheiden?“ | |
Christian S. verbringt viel Zeit damit, sich über den aktuellen Stand | |
polizeilicher Überwachungsmethoden zu informieren. | |
Mehrere Versuche, die Rigaer94 zu räumen, sind gescheitert, der politische | |
Druck, gegen das Hausprojekt vorzugehen, ist offenbar hoch: Im Juni wurde | |
bekannt, dass zwei Jahre zuvor Observierungsteams der Berliner Polizei, die | |
eigentlich auf islamistische Terrorverdächtige angesetzt waren, für | |
Einsätze an der Rigaer Straße abgezogen wurden. Zu den Islamisten, die | |
anschließend nicht mehr beobachtet wurden, soll auch Anis Amri gehört | |
haben, der ein halbes Jahr später am Berliner Breitscheidplatz mit einem | |
Attentat zwölf Menschen tötete. | |
## Eine linksextreme Kommandozentrale? | |
Man könnte dazu eine Theorie entwickeln: Die Berliner Polizei verwendet | |
seit mehreren Jahren einen Gutteil ihrer Ressourcen darauf, zum Komplex | |
Rigaer94 zu ermitteln. Und dennoch ist es ihr bisher offenbar nicht | |
gelungen, den dazugehörigen Menschen Straftaten größeren Ausmaßes | |
nachzuweisen. Anklagen, die die Behauptung untermauerten, bei der Rigaer94 | |
handele es sich um eine linksextreme Kommandozentrale, gibt es bislang | |
nicht. | |
Man könnte daraus folgern, dass der Druck auf die Polizei, solche | |
Straftaten nachzuweisen, steigt. Dass sie deswegen so viel wie möglich | |
überwachen will, was sich rund um die Rigaer94 abspielt. Und dass es dafür | |
sehr praktisch ist, wenn einer der Menschen, die dort ein und aus gehen, | |
als Gefährder eingestuft ist – mit allen Konsequenzen, die das für dessen | |
Überwachung und die seines Umfelds mit sich bringt. | |
„Eine Einstufung als Gefährder bietet unter Umständen mehr Möglichkeiten | |
zur Überwachung als ein Strukturermittlungsverfahren nach § 129 StGB“, sagt | |
Peer Stolle, Vorsitzender des Republikanischen Anwältinnen- und | |
Anwältevereins (RAV), eines bundesweiten Zusammenschlusses von | |
Rechtsanwälten, der sich für Bürger– und Menschenrechte einsetzt. | |
Ein solches Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Bildung einer | |
kriminellen oder terroristischen Organisation wäre viel aufwendiger, bei | |
der Einstufung einer Person als Gefährder, sagt Stolle, „gibt es weniger | |
richterliche Kontrolle, eine Staatsanwaltschaft ist nicht involviert, und | |
die Ermittlungsbehörden müssen sich nicht irgendwann entscheiden, ob die | |
gesammelten Erkenntnisse für eine Anklageerhebung ausreichen“. Und die | |
Polizei habe „vielfältige Möglichkeiten, die betroffenen Personen und ihr | |
Umfeld zu überwachen und auszuforschen“. | |
## Die Polizei äußert sich nicht | |
Dass die Polizei die Gefährder-Konstruktion einsetzt, um mehr über | |
Strukturen wie die Rigaer Straße zu erfahren, ist nur eine Theorie. | |
Vielleicht gibt es auch ganz andere Gründe, aus denen heraus Christian S. | |
so eingestuft wurde. Nur, die Polizei nennt sie nicht. Nicht gegenüber | |
Christian S. und seiner Anwältin und nicht gegenüber der taz: Ob es in | |
Berlin einen linksextremen Gefährder gebe, könne er nicht sagen, und wenn | |
es so wäre, würde er sich dazu nicht äußern, sagt der Berliner | |
Polizeisprecher Thomas Neuendorf. | |
Was bleibt, sind die Informationen, die Christian S. und seine Anwältin in | |
ihrem langen Kampf von den Behörden erhalten haben. So weiß S., dass sich | |
in den polizeilichen Datenbanken Einträge zu ihm finden, die fehlerhaft | |
sind: Ein angeblicher Aliasname ist dort gespeichert, von dem er angibt, | |
ihn noch nie gehört zu haben; es wird ihm die Beteiligung an einer | |
Demonstration in Frankfurt nachgesagt, die zu einem Zeitpunkt stattfand, zu | |
dem er sich nachweislich im Ausland befand. | |
Es gibt noch schwerwiegendere Ungereimtheiten: Am 6. Juni 2013 werden | |
Polizeibeamte am Kottbusser Tor in Berlin von einer vermummten Gruppe | |
angegriffen. Weil dabei eine mit Brandbeschleuniger gefüllte Flasche nur | |
knapp eine Beamtin verfehlt haben soll, wird anschließend ein | |
Ermittlungsverfahren wegen versuchten Mordes eingeleitet. Auch S. gerät | |
dabei ins Visier der Ermittler, die bei ihm eine zwangsweise angeordnete | |
DNA-Entnahme veranlassen. Der DNA-Abgleich mit Spuren vom Tatort ist | |
negativ, das Verfahren gegen S. wird eingestellt. Doch laut Auskunft des | |
Bundeskriminalamts findet sich im polizeilichen Informationssystem Inpol | |
zu S. nach wie vor ein Eintrag zu dem Delikt Mord, Tatzeit 6. Juni 2013, | |
Tatort Berlin. | |
S. hat sich wegen dieser Einträge an die Bundesbeauftragte für Datenschutz | |
Andrea Voßhoff gewandt. In der Antwort bezieht diese sich auf eine Aussage | |
des Bundeskriminalamts: Die Datei, in der die Daten zu S. gespeichert | |
seien, sei nur für autorisierte Mitarbeiter des Polizeilichen | |
Staatsschutzes einsehbar, bei Ausweiskontrollen hätten die Beamten darauf | |
keinen Zugriff. Weitere Auskunft zu diesem Punkt könne nicht erteilt | |
werden: „Das Geheimhaltungsinteresse des BKA überwiegt Ihr | |
Auskunftsinteresse“, heißt es in dem Schreiben aus Voßhoffs Büro. | |
Spätsommer 2018, zurück im Kreuzberger Biergarten, wo für S. selbst eine | |
Tasse Kaffee nicht nur einfach ein Getränk ist. Die Haftstrafe nach der | |
Verurteilung wegen des in Brand gesteckten Mercedes am 1. Mai 2004 hat er | |
verbüßt, im August 2009 wurde S. nach gut zwei Jahren aus dem Gefängnis | |
entlassen. Seitdem gibt es keine größeren Delikte mehr in seinem | |
Vorstrafenregister. Geldstrafen wegen Schwarzfahrens und wegen des | |
Verklebens von impressumfreien Plakaten, Kleinigkeiten, die auch schon | |
Jahre zurückliegen. | |
Und doch hat Christian S. immer wieder Angst, dass er für Straftaten | |
belangt werden könnte, die er gar nicht begangen hat. Nachts meidet er den | |
öffentlichen Nahverkehr wie damals, als er nach Berlin gezogen ist, nur aus | |
anderen Gründen: „Wenn da an einem Bahnhof einer abgestochen wird, und | |
hinterher bin ich auf den Überwachungsbildern vom Bahnsteig zu sehen, dann | |
stehen die doch direkt bei mir vor der Tür.“ | |
Er könnte Berlin verlassen, sich aus der Szene komplett zurückziehen, ein | |
klares Signal an die Polizei aussenden, dass von ihm wirklich keine Gefahr | |
ausgeht. Aber das ist für ihn keine Option. Hier sind seine Freunde, sie | |
sind eine Art Ersatzfamilie geworden. Klein beigeben fände er auch aus | |
einem anderen Grund falsch: „Die sollen nicht denken, dass ich aufgebe.“ | |
Es solle nicht der Eindruck entstehen, er würde sich von irgendetwas, das | |
er getan hat, distanzieren. Er erwarte auch nicht, dass die Behörden ihn | |
mit Samthandschuhen anfassen müssten, sagt er. „Für mich ist der Staat ein | |
Feind, den es zu bekämpfen gilt, natürlich erwarte ich nicht, dass der mich | |
dafür in Ruhe lässt.“ | |
Ein Staatsfeind ist S. in dieser Hinsicht schon, ein verurteilter | |
Straftäter ohnehin. Nur, was rechtfertigt immer noch die Einordnung als | |
Gefährder bei einem, dessen letzte Verurteilung nun 14 Jahre zurückliegt? | |
Gilt bei ihm quasi „lebenslänglich“ ohne Anklage? | |
Christian S. wird im nächsten Jahr 50. Er sagt, er wolle ein Leben führen, | |
in dem er nicht ständig davon ausgehen müsse, dass er und seine Freunde | |
überwacht werden. Ob es jemals dazu kommen wird, weiß er nicht. | |
2 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Malene Gürgen | |
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