| # taz.de -- Möglicher Merkel-Nachfolger Spahn: Gekonnter Arschbomber | |
| > Im Rennen um den CDU-Parteivorsitz scheint Jens Spahn abgeschlagen. Doch | |
| > den Gesundheitsminister darf man nicht unterschätzen. | |
| Bild: Huhu, hier spielt die Musik! | |
| Berlin/Halle taz | Im offiziellen Regelwerk für Arschbomben-Wettbewerbe, | |
| das gibt es wirklich, reicht die Punkteskala von 0 bis 10. In die Wertung | |
| fließen mit ein: Absprung, Ausführung und vor allem Landung. Wie laut | |
| knallt’s? Wie viel Wasser verdrängt der Körper? Wie hoch spritzt es? Unterm | |
| Strich also: Wie viele Badegäste schauen hin, wie viel Aufmerksamkeit | |
| bekommt der Springer? | |
| Am Donnerstagabend vergangener Woche verdient sich Jens Spahn in Halle an | |
| der Saale eine 8,5, vielleicht ist es sogar eine 9. Der CDU-Politiker ist | |
| ein erfahrener Springer. Er weiß, wann der beste Zeitpunkt für eine | |
| provokante Forderung ist, wie er sie formulieren und wo platzieren muss, | |
| damit es beim Aufprall kracht, damit die Tropfen über den Beckenrand | |
| prasseln – damit ihn mal wieder wirklich alle wahrnehmen und er sich doch | |
| nicht zu viele blaue Flecken holt. | |
| Sein neuester Sprung ist der mit dem [1][UN-Migrationspakt]. Vier Tage | |
| zuvor hat er ihn in der Bild-Zeitung zum ersten Mal ausprobiert. Jetzt, auf | |
| der vierten von zehn CDU-Regionalkonferenzen, auf denen sich die Bewerber | |
| um den Parteivorsitz der Basis präsentieren, führt er ihn erneut auf. | |
| „Der Migrationspakt beschäftigt viele“, sagt Spahn in der Messehalle am | |
| Stadtrand von Halle vor Hunderten Parteimitgliedern. „Allein der Eindruck, | |
| dass wir darüber nicht diskutieren wollen, ist fatal. Wir müssen auf dem | |
| Bundesparteitag eine Debatte darüber führen.“ | |
| Knallt sehr schön: Vor Spahn hatte nur die AfD den Migrationspakt infrage | |
| gestellt. Ob er selbst für oder gegen die Vereinbarung ist, lässt er zwar | |
| bis heute offen. So kann genau genommen keiner behaupten, der 38-Jährige | |
| drifte nach rechts ab. [2][Sollte der Parteitag im Dezember] gegen den Pakt | |
| stimmen, könnte ihn die Bundesregierung aber wenn überhaupt nur verspätet | |
| unterzeichnen – und das, nachdem das Kabinett ihn eigentlich schon | |
| abgenickt hatte. Spahn hat da ganz schön etwas ins Rollen gebracht. Unter | |
| normalen Umständen hätte er jetzt die komplette Aufmerksamkeit für sich. | |
| ## Auch Merz und Kramp-Karrenbauer können Arschbomben | |
| Sein Problem ist nur: Im Wahlkampf um den Parteivorsitz ist mit Friedrich | |
| Merz plötzlich einer aufgetaucht, bei dem das Wasser im Zweifel noch etwas | |
| höher spritzt (er will an den [3][Grundgesetzartikel zum Recht auf Asyl] | |
| ran). Und mit Annegret Kramp-Karrenbauer bombt auch noch eine mit, der man | |
| zuvor höchstens die Kerze zugetraut hatte (sie fordert neuerdings | |
| Abschiebung nach Syrien). Jens Spahn kann machen, was er will: Er springt | |
| jetzt nur noch neben den anderen mit. | |
| Das Rennen um den CDU-Vorsitz läuft für ihn auch sonst nicht optimal. In | |
| einer Umfrage unter Unionsanhängern nennen ihn nur sechs Prozent als | |
| Lieblingskandidaten, damit liegt er deutlich hinter Merz (29 Prozent) und | |
| Kramp-Karrenbauer (38 Prozent). Prominente CDU-Politiker halten sich mit | |
| Wahlempfehlungen für Spahn zurück. Die einflussreiche | |
| Mittelstandsvereinigung der Union, mit der Spahn eng verbunden ist, | |
| unterstützt inzwischen sogar offiziell den anderen Kandidaten: Friedrich | |
| Merz. | |
| Wer trotzdem noch daran glauben möchte, dass Jens Spahn auf dem Parteitag | |
| in Hamburg eine Chance hat, der sollte in seine Biografie schauen, die im | |
| September in den Buchhandel kam. Darin ist detailliert aufgelistet, wie oft | |
| Spahn in seiner Karriere Abstimmungserfolge erzielte, die ihm zuvor keiner | |
| zugetraut hatte. | |
| ## Mit 22 jüngster direkt gewählter Abgeordneter | |
| Das fängt schon an, als der Münsterländer vor der Bundestagswahl 2002 | |
| Direktkandidat in seinem Wahlkreis werden will. Du hast keine Chance, sagen | |
| ihm die Parteifreunde, jetzt sind erst mal andere dran, du hast doch noch | |
| ein paar Jahre Zeit. Was macht Spahn? Tritt trotzdem an, telefoniert | |
| CDU-Mitglieder ab, überzeugt auch noch seine Freunde vom Stammtisch „Hau | |
| wech“ zum Eintritt in den Ortsverband. Auf der Nominierungsveranstaltung | |
| hält er eine mitreißende Rede. Kurz darauf ist er mit 22 Jahren der bis | |
| dato jüngste direkt gewählte Abgeordnete überhaupt. | |
| So läuft es immer wieder: Mit 25 Jahren geht Spahn vermeintlich chancenlos | |
| in eine Kampfkandidatur um den CDU-Kreisvorsitz – und gewinnt. Später | |
| kandidiert er gegen den Willen der Parteispitze für das Bundespräsidium – | |
| und siegt in der Kampfabstimmung gegen den damaligen Gesundheitsminister | |
| Hermann Gröhe. Vor zwei Jahren wirbt er auf dem Parteitag für einen Antrag | |
| der Jungen Union, doppelte Staatsbürgerschaften seltener zu verleihen – und | |
| überzeugt die Delegierten wieder, sehr zum Unmut der Kanzlerin. | |
| Typisch Spahn: Er stellt sich nicht hinten an, wenn er etwas will, sondern | |
| greift einfach zu. Und wenn er dafür meutern muss, wenn es mal wieder | |
| knallt und spritzt? Kein Problem. Macht ihm wahrscheinlich sogar Spaß. | |
| Das heißt nicht, dass er nur die Arschbombe kann. Den sauberen Köpfer, | |
| elegant ausgeführt, ohne einen Spritzer, den hat er schon auch drauf. Zum | |
| Beispiel neun Stunden vor seinem Termin in Halle; am Donnerstagmorgen, als | |
| der Bundestag über den Haushalt des Gesundheitsministeriums diskutiert. | |
| Auftritt des Gesundheitsministers am Rednerpult. Jens Spahn attackiert | |
| zunächst die Abgeordnete der AfD, die vor ihm gesprochen hat – über die | |
| Behandlungskosten von Flüchtlingen und die HIV-Quote unter Asylsuchenden. | |
| Die AfD interessiere sich gar nicht fürs Gesundheitswesen, sagt der | |
| Minister jetzt, sondern rede immer „als Erstes nur über Flüchtlinge“. Das | |
| klingt zunächst lustig, weil Jens Spahn ja selbst sehr gerne über | |
| Flüchtlinge spricht. Aber tatsächlich gibt es bei ihm ja noch mehr als das. | |
| ## Als Fachpolitiker ist Spahn geschätzt | |
| In den nächsten Minuten zählt Spahn auf, was er in seiner kurzen Amtszeit | |
| als Gesundheitsminister schon alles angepackt hat: die Senkung der | |
| Kassenbeiträge für Arbeitnehmer, die neuen Stellen in der Pflege, die | |
| elektronische Patientenakte. Für manches lobt ihn inzwischen sogar die | |
| Opposition. Der Koalitionspartner ist erst recht zufrieden. | |
| Der SPD-Abgeordnete Karl Lauterbach arbeitet im Gesundheitsbereich seit 15 | |
| Jahren mit Spahn zusammen. Freunde sind die beiden wahrlich nicht, aber als | |
| sie in den Koalitionsgesprächen 2013 die Gesundheitspolitik verhandeln, | |
| läuft das so glatt, dass ihr Kapitel als erstes des ganzen | |
| Koalitionsvertrags fertig wird. Seit Spahn Minister ist, haben er und | |
| Lauterbach fast täglich miteinander zu tun. | |
| „Als Fachpolitiker ist er hoch-professionell, spezialisiert, immer gut | |
| vorbereitet“, sagt der Sozialdemokrat. Der Koalitionsvertrag trage im | |
| Gesundheitsbereich die Handschrift der SPD, trotzdem setze Spahn ihn „ohne | |
| Tricksereien und Blockaden um, so effizient wie kein anderer | |
| Unionsminister“. Auch das Ministeramt nutze Spahn zwar am liebsten zur | |
| Eigen-PR. Manchen Gesetzesentwurf schicke sein Haus zunächst an die Medien | |
| und erst dann an den Koalitionspartner. Aber solange das Ergebnis stimmt, | |
| ist es Lauterbach recht. | |
| Auch den Kontakt zu politischen Gegnern scheut Spahn nicht. Mit den Grünen | |
| verbindet ihn inhaltlich wenig, trotzdem will er den Kontakt | |
| aufrechterhalten, nachdem 2013 die schwarz-grünen Sondierungen scheitern. | |
| Er gründet einen Gesprächskreis: Alle drei Monate treffen sich fortan | |
| Abgeordnete beider Parteien im Restaurant Simon, einem Italiener in | |
| Berlin-Mitte. Bei Pasta diskutieren sie über wechselnde Themen von | |
| Migration bis Landwirtschaft. | |
| ## Meister der Provokation ist er auch | |
| Harmonisch laufen die Gespräche aber selten ab. Der Kreis soll keine | |
| Kuschelgruppe sein, in der sich liberale CDUler und grüne Realos die Treue | |
| schwören. Ganz bewusst sind Teilnehmer aus allen Parteiflügeln eingeladen, | |
| auch Linksgrüne und Hardliner aus der CSU. Bei vielen Themen liegen sie | |
| quer zueinander, manchmal schreien sie sich regelrecht an. Falls doch mal | |
| ein Konsens droht, meldet sich Spahn selbst zu Wort und wirft eine steile | |
| These in den Raum. | |
| „Man hatte immer das Gefühl, dass es ihm dabei weniger um die Sache geht | |
| als um die Lust an der Provokation“, sagt jemand, der regelmäßig dabei war. | |
| Irgendwann reicht es den ersten Grünen. Sie sagen: Solange der Spahn kommt, | |
| gehe ich da nicht mehr hin. | |
| Was soll’s. Um CDU-Chef zu werden, muss Spahn ja nicht bei den Grünen | |
| punkten, sondern bei den eigenen Leuten. Bei denen in Halle zum Beispiel. | |
| Was die Basis hier will und was nicht, wird während der | |
| Kandidatenvorstellung bei Butterbrezeln und Mineralwasser schnell klar. Ein | |
| Zuhörer will von den drei Bewerbern wissen, wie schnell sie die „nach | |
| links-grün driftende Politik einer Frau Merkel“ stoppen werden. Ein anderer | |
| Fragesteller stellt sich als Ulrich Sauer vor – „nicht verwandt und nicht | |
| verschwägert mit dem Ehemann der Kanzlerin“, darauf legt er Wert. Drei | |
| Stunden dauert die Veranstaltung. Mehr als zwei vergehen bis zur ersten | |
| Frage, die nichts mit Migranten zu tun hat. | |
| Liefe alles wie geplant, wäre das für Spahn ein Heimspiel. Geplant war, | |
| dass er irgendwann gegen Annegret Kramp-Karrenbauer um die Merkel-Nachfolge | |
| kandidiert. Sie wäre als Vertraute der Kanzlerin gekommen, er hätte als | |
| Hardliner punkten können. Die Sache mit dem Migrationspakt kommt in Halle | |
| gut an. | |
| Blöderweise kommt Friedrich Merz, mit dessen Kandidatur Spahn vorab nicht | |
| gerechnet hatte, noch besser an. Am Vorabend hat der 63-Jährige die Zukunft | |
| des Grundrechts auf Asyl „in dieser Form“ infrage gestellt. Dass er dafür | |
| in den Zeitungen verrissen wurde, weil seine Forderung in sich nicht | |
| schlüssig war, kommt ihm gerade recht, denn jetzt kann er nachlegen: Dem | |
| „ein oder anderen Journalisten“, den das Thema überfordere, könne er die | |
| Sache gerne „auch noch mal in Ruhe erklären“. Applaus in der Halle. Gegen | |
| Ausländer und gegen die Presse – da ist Merz eine glatte 10 gelungen. | |
| „Ich finde es befreiend, wie wir die Themen wieder breiter diskutieren“, | |
| kann Spahn da nur noch sagen. Er wird bald wieder springen, keine Frage. | |
| Fürs Erste ist er in seiner Königsdisziplin aber geschlagen. | |
| 28 Nov 2018 | |
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| Tobias Schulze | |
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